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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

ferner Reserveoffiziere mit sonstiger dunkler Vergangenheit, endlich völlig feld¬
dienstunfähige, kränkliche Leute und Alkoholiker. Ausgezeichnet bewährten sich
die zu Offizieren und Vizefeldwebelu der Reserve für Auszeichnung vor dem
Feinde beförderten Mannschaften, wogegen die Reserveoffiziere und sonstigen
Vizefeldwcbel der Reserve nur Mäßiges leisteten. "Im ganzen läßt sich sagen,
daß es in allen Dienstgraden an Leuten mit starkem, soldatischen! Charakter
gebrach, an Männern mit eisernen, allen Lagen gewachsenen Nerven, fähig,
ohne Erschlaffung einen tagelang währenden Kampf durchzuhalten. Offenbar
hat weder die Schule noch das Leben in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren
dazu beigetragen, starke, selbständige Charaktere heranzubilden. Sie hätten sonst
in weit größerer Zahl in der Armee vertreten sein müssen."

Nach solchen Urteilen des Oberkommandierenden wird man es nicht als
Übertreibung bezeichnen können, wenn ein deutscher Beobachter des Rückzuges
von Mulden schreibt: "Offiziere unterzogen unter dem Einflüsse des Alkohols
die ostasiatische Politik Rußlands der schmähendsten Kritik so laut, daß es alle
Leute hören konnten. Ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich den größten
Teil der Schuld an der völligen Auflösung der Armee der unter aller Würde
schlechten Haltung der Mehrzahl der Offiziere zuschreibe." Auf diese Haltung
wirft es ferner ein eigentümliches Licht, wenn derselbe-Verfasser an anderer
Stelle sagt: "Ich habe gesehen, wie das unaufhaltsame Vordringen japanischer
Schützenlinien einen so überwältigenden Eindruck auf das in seinem Gefechts¬
werte schon stark erschütterte europäische Schützenkorps machte, daß ich von
Offizieren und Mannschaften hörte: ,Die Japaner kommen heran wie eine
Wolke, dagegen ist einfach nichts zu machen/" Auch dieser Gewährsmann
verzeichnet indessen nicht nur trübe Eindrücke. Er schreibt über den 10. März 1905:
"Ich habe gerade an diesem schicksalsschweren Tage Offiziere gesehen, die mit Ein¬
setzung ihres Lebens ihre Autorität aufrechtzuerhalten versuchten, und ich habe
auch gesehen, wie leicht der russische Soldat sich einer energisch auftretenden
Person unterordnet."

Nicht nur die Offiziere niederer Grade, sondern auch Stabsoffiziere und
Generale haben häufig versagt. Schon am 16. Mai 1904 berichtet der Führer
der Ostabteilung, Generalleutnant Graf Keller, an das Oberkommando: "Ich
kann nicht verhehlen, daß Fülle von Nervosität in bezug auf Meldungen über
den Feind unter den Führern sehr häufig zutage treten. Außerdem sind viele
von ihnen vom Geiste der Kritik und des Tadels gegen die Anordnungen der
höheren Führer sowie von Pessimismus befallen. Das alles macht die Führung
der Ostabteilung äußerst schwierig und nötigt mich, persönlich überall zu sein,
um Energie und Vertrauen zum Erfolg einzuflößen. Indessen hat das Übel
so tief Wurzel gefaßt, daß ich ohne schroffe Maßnahmen nicht auszukommen
vermag."

Kuropatkin klagt darüber, daß die im Frieden aufgestellten Qualifikations¬
berichte sich vor dem Feinde oft als nicht zutreffend erwiesen hätten. "Manche


Die russische Armee als Gegner

ferner Reserveoffiziere mit sonstiger dunkler Vergangenheit, endlich völlig feld¬
dienstunfähige, kränkliche Leute und Alkoholiker. Ausgezeichnet bewährten sich
die zu Offizieren und Vizefeldwebelu der Reserve für Auszeichnung vor dem
Feinde beförderten Mannschaften, wogegen die Reserveoffiziere und sonstigen
Vizefeldwcbel der Reserve nur Mäßiges leisteten. „Im ganzen läßt sich sagen,
daß es in allen Dienstgraden an Leuten mit starkem, soldatischen! Charakter
gebrach, an Männern mit eisernen, allen Lagen gewachsenen Nerven, fähig,
ohne Erschlaffung einen tagelang währenden Kampf durchzuhalten. Offenbar
hat weder die Schule noch das Leben in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren
dazu beigetragen, starke, selbständige Charaktere heranzubilden. Sie hätten sonst
in weit größerer Zahl in der Armee vertreten sein müssen."

Nach solchen Urteilen des Oberkommandierenden wird man es nicht als
Übertreibung bezeichnen können, wenn ein deutscher Beobachter des Rückzuges
von Mulden schreibt: „Offiziere unterzogen unter dem Einflüsse des Alkohols
die ostasiatische Politik Rußlands der schmähendsten Kritik so laut, daß es alle
Leute hören konnten. Ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich den größten
Teil der Schuld an der völligen Auflösung der Armee der unter aller Würde
schlechten Haltung der Mehrzahl der Offiziere zuschreibe." Auf diese Haltung
wirft es ferner ein eigentümliches Licht, wenn derselbe-Verfasser an anderer
Stelle sagt: „Ich habe gesehen, wie das unaufhaltsame Vordringen japanischer
Schützenlinien einen so überwältigenden Eindruck auf das in seinem Gefechts¬
werte schon stark erschütterte europäische Schützenkorps machte, daß ich von
Offizieren und Mannschaften hörte: ,Die Japaner kommen heran wie eine
Wolke, dagegen ist einfach nichts zu machen/" Auch dieser Gewährsmann
verzeichnet indessen nicht nur trübe Eindrücke. Er schreibt über den 10. März 1905:
„Ich habe gerade an diesem schicksalsschweren Tage Offiziere gesehen, die mit Ein¬
setzung ihres Lebens ihre Autorität aufrechtzuerhalten versuchten, und ich habe
auch gesehen, wie leicht der russische Soldat sich einer energisch auftretenden
Person unterordnet."

Nicht nur die Offiziere niederer Grade, sondern auch Stabsoffiziere und
Generale haben häufig versagt. Schon am 16. Mai 1904 berichtet der Führer
der Ostabteilung, Generalleutnant Graf Keller, an das Oberkommando: „Ich
kann nicht verhehlen, daß Fülle von Nervosität in bezug auf Meldungen über
den Feind unter den Führern sehr häufig zutage treten. Außerdem sind viele
von ihnen vom Geiste der Kritik und des Tadels gegen die Anordnungen der
höheren Führer sowie von Pessimismus befallen. Das alles macht die Führung
der Ostabteilung äußerst schwierig und nötigt mich, persönlich überall zu sein,
um Energie und Vertrauen zum Erfolg einzuflößen. Indessen hat das Übel
so tief Wurzel gefaßt, daß ich ohne schroffe Maßnahmen nicht auszukommen
vermag."

Kuropatkin klagt darüber, daß die im Frieden aufgestellten Qualifikations¬
berichte sich vor dem Feinde oft als nicht zutreffend erwiesen hätten. „Manche


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[0315] Die russische Armee als Gegner ferner Reserveoffiziere mit sonstiger dunkler Vergangenheit, endlich völlig feld¬ dienstunfähige, kränkliche Leute und Alkoholiker. Ausgezeichnet bewährten sich die zu Offizieren und Vizefeldwebelu der Reserve für Auszeichnung vor dem Feinde beförderten Mannschaften, wogegen die Reserveoffiziere und sonstigen Vizefeldwcbel der Reserve nur Mäßiges leisteten. „Im ganzen läßt sich sagen, daß es in allen Dienstgraden an Leuten mit starkem, soldatischen! Charakter gebrach, an Männern mit eisernen, allen Lagen gewachsenen Nerven, fähig, ohne Erschlaffung einen tagelang währenden Kampf durchzuhalten. Offenbar hat weder die Schule noch das Leben in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren dazu beigetragen, starke, selbständige Charaktere heranzubilden. Sie hätten sonst in weit größerer Zahl in der Armee vertreten sein müssen." Nach solchen Urteilen des Oberkommandierenden wird man es nicht als Übertreibung bezeichnen können, wenn ein deutscher Beobachter des Rückzuges von Mulden schreibt: „Offiziere unterzogen unter dem Einflüsse des Alkohols die ostasiatische Politik Rußlands der schmähendsten Kritik so laut, daß es alle Leute hören konnten. Ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich den größten Teil der Schuld an der völligen Auflösung der Armee der unter aller Würde schlechten Haltung der Mehrzahl der Offiziere zuschreibe." Auf diese Haltung wirft es ferner ein eigentümliches Licht, wenn derselbe-Verfasser an anderer Stelle sagt: „Ich habe gesehen, wie das unaufhaltsame Vordringen japanischer Schützenlinien einen so überwältigenden Eindruck auf das in seinem Gefechts¬ werte schon stark erschütterte europäische Schützenkorps machte, daß ich von Offizieren und Mannschaften hörte: ,Die Japaner kommen heran wie eine Wolke, dagegen ist einfach nichts zu machen/" Auch dieser Gewährsmann verzeichnet indessen nicht nur trübe Eindrücke. Er schreibt über den 10. März 1905: „Ich habe gerade an diesem schicksalsschweren Tage Offiziere gesehen, die mit Ein¬ setzung ihres Lebens ihre Autorität aufrechtzuerhalten versuchten, und ich habe auch gesehen, wie leicht der russische Soldat sich einer energisch auftretenden Person unterordnet." Nicht nur die Offiziere niederer Grade, sondern auch Stabsoffiziere und Generale haben häufig versagt. Schon am 16. Mai 1904 berichtet der Führer der Ostabteilung, Generalleutnant Graf Keller, an das Oberkommando: „Ich kann nicht verhehlen, daß Fülle von Nervosität in bezug auf Meldungen über den Feind unter den Führern sehr häufig zutage treten. Außerdem sind viele von ihnen vom Geiste der Kritik und des Tadels gegen die Anordnungen der höheren Führer sowie von Pessimismus befallen. Das alles macht die Führung der Ostabteilung äußerst schwierig und nötigt mich, persönlich überall zu sein, um Energie und Vertrauen zum Erfolg einzuflößen. Indessen hat das Übel so tief Wurzel gefaßt, daß ich ohne schroffe Maßnahmen nicht auszukommen vermag." Kuropatkin klagt darüber, daß die im Frieden aufgestellten Qualifikations¬ berichte sich vor dem Feinde oft als nicht zutreffend erwiesen hätten. „Manche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/315>, abgerufen am 28.07.2024.