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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

sah Kaiser Alexander der Zweite die revolutionäre Strömung in seinem Reiche
mehr und mehr anwachsen. Diese Verhältnisse konnten nicht ohne tiefgehende
Wirkung auf die Armee bleiben. Die Aufhebung der Leibeigenschaft erfolgte
bei dem Kulturzustande der russischen Bauernschaft offenbar zu früh. Der Rekrut
blieb immer noch willig, aber die alte Unterordnung schwand doch nach und
nach, ohne daß sie durch geläutertes, bewußtes Pflichtgefühl, wie es nur in
einem alten Kulturvolke lebt, ersetzt werden konnte. Vollends mit der im Jahre
1874 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht gewann die Armee ein ganz anderes
Gepräge. An die Stelle der alten Soldaten mit langer Dienstzeit, deren Heimat
das Regiment gewesen war, traten jetzt Mannschaften mit zunächst sechsjähriger
Dienstzeit.

Die Wandlung von einem Heere von Berufssoldaten zu einem solchen, das
sich mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht ergänzt, hat sich naturgemäß erst
allmählich vollzogen, so daß, als der Türkenkrieg 1877/1378 ausbrach, die
allgemeine Wehrpflicht noch kaum wirksam geworden sein konnte. Die Armee
befand sich damals in jeder Hinsicht in einem Übergangsstadium. Das gilt
auch hinsichtlich ihrer Gefechtsschulung. Die Bataillonsmassen hatten bald nach
dem Krimkriege den Kompagniekolonnen Platz gemacht, und die Erfahrungen
des Deutsch-Französischen Krieges das Schützengefecht mehr hervortreten lassen.
Wenn daher auch die russischen Vorschriften den zeitgemäßen Forderungen im
allgemeinen Rechnung trugen, so war doch das Verständnis für die Bedingungen
des modernen Gefechts noch keineswegs Gemeingut der Armee geworden, als
diese aufs neue gegen den alten Feind ins Feld rückte. Ihre taktische Durch'
bildung ließ namentlich hinsichtlich des Zusammenwirkens der Infanterie und
Artillerie vieles zu wünschen übrig. Auch war die Masse der Infanterie mit
einem minderwertigen Gewehr, einem aptierten Vorderlader, bewaffnet. Von
entscheidender Bedeutung aber sind diese Dinge nicht gewesen.

Auch dieses Mal hat die russische Intendantur vollständig versagt. Wiederum
trat das mächtige Zarenreich mit unzureichenden Kräften in den Krieg ein.
Ende April waren auf dem europäischen und astatischen Kriegsschauplatz im
ganzen mobil gemacht: siebenundzwanzig Infanterie- und zehn Kavallerie¬
divisionen, während im Reiche immobil verblieben: einundzwanzig Jnfanterie-
und acht Kavalleriedivistonen. Die Operationsarmee an der Donau zählte Mitte
Juli nur 260000 Mann, wiewohl der russische Generalstab die in der euro¬
päischen Türkei verfügbaren feindlichen Kräfte annähernd richtig auf 280000
Mann veranschlagte, davon 190000 Mann unmittelbar gegen die russische
Feldarmee verfügbar. Die Folge war, daß nach vollzogenen Donauübergange,
als sich die Notwendigkeit ergab, nach drei Seiten Front zu machen, 10000
Mann als Avantgardenkorps in den Balkan vorgeschoben wurden, 75000 Mann
zur Deckung der linken, 35000 Mann der rechten Flanke als unentbehrlich
erachtet wurden, die sogenannte Hauptmacht aber zeitweilig nur aus einem
Armeekorps bestand, zu dessen Verstärkung vorläufig nur noch zwei weitere


Die russische Armee als Gegner

sah Kaiser Alexander der Zweite die revolutionäre Strömung in seinem Reiche
mehr und mehr anwachsen. Diese Verhältnisse konnten nicht ohne tiefgehende
Wirkung auf die Armee bleiben. Die Aufhebung der Leibeigenschaft erfolgte
bei dem Kulturzustande der russischen Bauernschaft offenbar zu früh. Der Rekrut
blieb immer noch willig, aber die alte Unterordnung schwand doch nach und
nach, ohne daß sie durch geläutertes, bewußtes Pflichtgefühl, wie es nur in
einem alten Kulturvolke lebt, ersetzt werden konnte. Vollends mit der im Jahre
1874 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht gewann die Armee ein ganz anderes
Gepräge. An die Stelle der alten Soldaten mit langer Dienstzeit, deren Heimat
das Regiment gewesen war, traten jetzt Mannschaften mit zunächst sechsjähriger
Dienstzeit.

Die Wandlung von einem Heere von Berufssoldaten zu einem solchen, das
sich mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht ergänzt, hat sich naturgemäß erst
allmählich vollzogen, so daß, als der Türkenkrieg 1877/1378 ausbrach, die
allgemeine Wehrpflicht noch kaum wirksam geworden sein konnte. Die Armee
befand sich damals in jeder Hinsicht in einem Übergangsstadium. Das gilt
auch hinsichtlich ihrer Gefechtsschulung. Die Bataillonsmassen hatten bald nach
dem Krimkriege den Kompagniekolonnen Platz gemacht, und die Erfahrungen
des Deutsch-Französischen Krieges das Schützengefecht mehr hervortreten lassen.
Wenn daher auch die russischen Vorschriften den zeitgemäßen Forderungen im
allgemeinen Rechnung trugen, so war doch das Verständnis für die Bedingungen
des modernen Gefechts noch keineswegs Gemeingut der Armee geworden, als
diese aufs neue gegen den alten Feind ins Feld rückte. Ihre taktische Durch'
bildung ließ namentlich hinsichtlich des Zusammenwirkens der Infanterie und
Artillerie vieles zu wünschen übrig. Auch war die Masse der Infanterie mit
einem minderwertigen Gewehr, einem aptierten Vorderlader, bewaffnet. Von
entscheidender Bedeutung aber sind diese Dinge nicht gewesen.

Auch dieses Mal hat die russische Intendantur vollständig versagt. Wiederum
trat das mächtige Zarenreich mit unzureichenden Kräften in den Krieg ein.
Ende April waren auf dem europäischen und astatischen Kriegsschauplatz im
ganzen mobil gemacht: siebenundzwanzig Infanterie- und zehn Kavallerie¬
divisionen, während im Reiche immobil verblieben: einundzwanzig Jnfanterie-
und acht Kavalleriedivistonen. Die Operationsarmee an der Donau zählte Mitte
Juli nur 260000 Mann, wiewohl der russische Generalstab die in der euro¬
päischen Türkei verfügbaren feindlichen Kräfte annähernd richtig auf 280000
Mann veranschlagte, davon 190000 Mann unmittelbar gegen die russische
Feldarmee verfügbar. Die Folge war, daß nach vollzogenen Donauübergange,
als sich die Notwendigkeit ergab, nach drei Seiten Front zu machen, 10000
Mann als Avantgardenkorps in den Balkan vorgeschoben wurden, 75000 Mann
zur Deckung der linken, 35000 Mann der rechten Flanke als unentbehrlich
erachtet wurden, die sogenannte Hauptmacht aber zeitweilig nur aus einem
Armeekorps bestand, zu dessen Verstärkung vorläufig nur noch zwei weitere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/286>, abgerufen am 01.09.2024.