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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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gestellt hatte, sondern vielmehr nach objektiv ° demokratischen Normen. Unser
Blick war nicht auf das Höchste, auf das Ideal gerichtet, sondern auf das
Nächste, auf die Wirklichkeit. Wir waren uns jederzeit bewußt, was für einen
Wert der Einzelmensch für seine nächste Umgebung, sagen wir zunächst, seine
Familie, tatsächlich bedeutete. Und jeder Gedanke, der sich mit der Vernichtung
menschlichen Daseins oder gar mit der Vernichtung unseres eigenen Daseins
beschäftigte, machte bei der Tatsache schaudernd halt, daß mit der Vernichtung
des menschlichen Lebens für einen mehr oder weniger großen Kreis und vor
allem für uns selbst unwiederbringliche Werte verloren gegangen seien.

Der individualistische Standpunkt aber, den wir gewohnheitsmäßig bei der
Bewertung des Lebens und aller seiner Erscheinungen einnahmen, war nicht
bloß ein materieller, sondern auch ein mehr oder weniger demokratischer.
Wir waren uns nicht nur unseres Wertes als Menschen wohl bewußt, sondern
auch unseres Rechtes als Menschen, und wir waren gewillt unser Recht, unser
persönliches Recht nach Kräften zu bewahren und zu üben. Wir waren jederzeit
bereit, für unsere Persönlichkeit und ihr Recht wahrend und schützend einzutreten,
ja darüber hinaus, unserer Persönlichkeit und ihren Interessen ein möglichst
weites Feld zur Betätigung, ein möglichst weitgehendes "Recht" zu verschaffen.

Dieser individualistische und zugleich materiell demokratische Zug unseres
Kulturlebens zeigte sich nirgends deutlicher als auf dem Gebiete des politischen
Lebens. Hier sind im Laufe der letzten Jahrzehnte immer deutlicher die
einzelnen wirtschaftlichen Klassen der Bevölkerung, die einzelnen Berufsstände
als die Einzelheiten innerhalb des Staatsganzen, als Individualitäten hervor¬
getreten, und das politische Leben wurde immer mehr vom berufs- und standes¬
individualistischen Gesichtspunkte durchdrungen und beherrscht. Immer schwerer
wurde es uns. innerhalb der immer stärker um sich greifenden Standespolitik
allgemeinpolitische Gesichtspunkte festzuhalten.

Das ist überhaupt die Kehrseite dieser individualistischen, auf das einzelne
eingestellten und das einzelne bewertenden Entwicklung, daß uns dabei das Gefühl
für das Große, für das Allgemeine verloren zu gehen drohte. Das Wort
"Staat" bezeichnete für uns die einzelnen Einrichtungen des Staates, die wir
benutzten, die einzelnen'Organe des Staates, mit denen wir in Berührung
kamen, oder die einzelnen Pflichten, die wir ihm schuldeten, die Rechte, die wir
in ihm in Anspruch nahmen und ausübten. Wir verbanden aber mit dem
Worte "Staat" wenig Gefühl mehr, der Begriff war für uns intellektualisiert.
Er wirkte auf unseren Verstand und hatte seine Wirkung auf unser Gefühls¬
leben fast eingebüßt. Der Ruf nach staatsbürgerlichen Unterricht für unsere
Jugend, nach staatsbürgerlicher Erziehung, ist daraus zu erklären, daß uns
dieser Zustand und die Gefahr, die in ihm lag, allmählich anfing, zu Be¬
wußtsein zu kommen.

Und war es mit dem Begriff "Volk", "Vaterland" anders? Waren
nicht auch sie in Gefahr, ihren Gefühlswert für uns zu verlieren, die wir ganz


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Der Urieg— Die Umwertung aller Werte

gestellt hatte, sondern vielmehr nach objektiv ° demokratischen Normen. Unser
Blick war nicht auf das Höchste, auf das Ideal gerichtet, sondern auf das
Nächste, auf die Wirklichkeit. Wir waren uns jederzeit bewußt, was für einen
Wert der Einzelmensch für seine nächste Umgebung, sagen wir zunächst, seine
Familie, tatsächlich bedeutete. Und jeder Gedanke, der sich mit der Vernichtung
menschlichen Daseins oder gar mit der Vernichtung unseres eigenen Daseins
beschäftigte, machte bei der Tatsache schaudernd halt, daß mit der Vernichtung
des menschlichen Lebens für einen mehr oder weniger großen Kreis und vor
allem für uns selbst unwiederbringliche Werte verloren gegangen seien.

Der individualistische Standpunkt aber, den wir gewohnheitsmäßig bei der
Bewertung des Lebens und aller seiner Erscheinungen einnahmen, war nicht
bloß ein materieller, sondern auch ein mehr oder weniger demokratischer.
Wir waren uns nicht nur unseres Wertes als Menschen wohl bewußt, sondern
auch unseres Rechtes als Menschen, und wir waren gewillt unser Recht, unser
persönliches Recht nach Kräften zu bewahren und zu üben. Wir waren jederzeit
bereit, für unsere Persönlichkeit und ihr Recht wahrend und schützend einzutreten,
ja darüber hinaus, unserer Persönlichkeit und ihren Interessen ein möglichst
weites Feld zur Betätigung, ein möglichst weitgehendes „Recht" zu verschaffen.

Dieser individualistische und zugleich materiell demokratische Zug unseres
Kulturlebens zeigte sich nirgends deutlicher als auf dem Gebiete des politischen
Lebens. Hier sind im Laufe der letzten Jahrzehnte immer deutlicher die
einzelnen wirtschaftlichen Klassen der Bevölkerung, die einzelnen Berufsstände
als die Einzelheiten innerhalb des Staatsganzen, als Individualitäten hervor¬
getreten, und das politische Leben wurde immer mehr vom berufs- und standes¬
individualistischen Gesichtspunkte durchdrungen und beherrscht. Immer schwerer
wurde es uns. innerhalb der immer stärker um sich greifenden Standespolitik
allgemeinpolitische Gesichtspunkte festzuhalten.

Das ist überhaupt die Kehrseite dieser individualistischen, auf das einzelne
eingestellten und das einzelne bewertenden Entwicklung, daß uns dabei das Gefühl
für das Große, für das Allgemeine verloren zu gehen drohte. Das Wort
„Staat" bezeichnete für uns die einzelnen Einrichtungen des Staates, die wir
benutzten, die einzelnen'Organe des Staates, mit denen wir in Berührung
kamen, oder die einzelnen Pflichten, die wir ihm schuldeten, die Rechte, die wir
in ihm in Anspruch nahmen und ausübten. Wir verbanden aber mit dem
Worte „Staat" wenig Gefühl mehr, der Begriff war für uns intellektualisiert.
Er wirkte auf unseren Verstand und hatte seine Wirkung auf unser Gefühls¬
leben fast eingebüßt. Der Ruf nach staatsbürgerlichen Unterricht für unsere
Jugend, nach staatsbürgerlicher Erziehung, ist daraus zu erklären, daß uns
dieser Zustand und die Gefahr, die in ihm lag, allmählich anfing, zu Be¬
wußtsein zu kommen.

Und war es mit dem Begriff „Volk", „Vaterland" anders? Waren
nicht auch sie in Gefahr, ihren Gefühlswert für uns zu verlieren, die wir ganz


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[0255] Der Urieg— Die Umwertung aller Werte gestellt hatte, sondern vielmehr nach objektiv ° demokratischen Normen. Unser Blick war nicht auf das Höchste, auf das Ideal gerichtet, sondern auf das Nächste, auf die Wirklichkeit. Wir waren uns jederzeit bewußt, was für einen Wert der Einzelmensch für seine nächste Umgebung, sagen wir zunächst, seine Familie, tatsächlich bedeutete. Und jeder Gedanke, der sich mit der Vernichtung menschlichen Daseins oder gar mit der Vernichtung unseres eigenen Daseins beschäftigte, machte bei der Tatsache schaudernd halt, daß mit der Vernichtung des menschlichen Lebens für einen mehr oder weniger großen Kreis und vor allem für uns selbst unwiederbringliche Werte verloren gegangen seien. Der individualistische Standpunkt aber, den wir gewohnheitsmäßig bei der Bewertung des Lebens und aller seiner Erscheinungen einnahmen, war nicht bloß ein materieller, sondern auch ein mehr oder weniger demokratischer. Wir waren uns nicht nur unseres Wertes als Menschen wohl bewußt, sondern auch unseres Rechtes als Menschen, und wir waren gewillt unser Recht, unser persönliches Recht nach Kräften zu bewahren und zu üben. Wir waren jederzeit bereit, für unsere Persönlichkeit und ihr Recht wahrend und schützend einzutreten, ja darüber hinaus, unserer Persönlichkeit und ihren Interessen ein möglichst weites Feld zur Betätigung, ein möglichst weitgehendes „Recht" zu verschaffen. Dieser individualistische und zugleich materiell demokratische Zug unseres Kulturlebens zeigte sich nirgends deutlicher als auf dem Gebiete des politischen Lebens. Hier sind im Laufe der letzten Jahrzehnte immer deutlicher die einzelnen wirtschaftlichen Klassen der Bevölkerung, die einzelnen Berufsstände als die Einzelheiten innerhalb des Staatsganzen, als Individualitäten hervor¬ getreten, und das politische Leben wurde immer mehr vom berufs- und standes¬ individualistischen Gesichtspunkte durchdrungen und beherrscht. Immer schwerer wurde es uns. innerhalb der immer stärker um sich greifenden Standespolitik allgemeinpolitische Gesichtspunkte festzuhalten. Das ist überhaupt die Kehrseite dieser individualistischen, auf das einzelne eingestellten und das einzelne bewertenden Entwicklung, daß uns dabei das Gefühl für das Große, für das Allgemeine verloren zu gehen drohte. Das Wort „Staat" bezeichnete für uns die einzelnen Einrichtungen des Staates, die wir benutzten, die einzelnen'Organe des Staates, mit denen wir in Berührung kamen, oder die einzelnen Pflichten, die wir ihm schuldeten, die Rechte, die wir in ihm in Anspruch nahmen und ausübten. Wir verbanden aber mit dem Worte „Staat" wenig Gefühl mehr, der Begriff war für uns intellektualisiert. Er wirkte auf unseren Verstand und hatte seine Wirkung auf unser Gefühls¬ leben fast eingebüßt. Der Ruf nach staatsbürgerlichen Unterricht für unsere Jugend, nach staatsbürgerlicher Erziehung, ist daraus zu erklären, daß uns dieser Zustand und die Gefahr, die in ihm lag, allmählich anfing, zu Be¬ wußtsein zu kommen. Und war es mit dem Begriff „Volk", „Vaterland" anders? Waren nicht auch sie in Gefahr, ihren Gefühlswert für uns zu verlieren, die wir ganz 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/255>, abgerufen am 22.12.2024.