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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Phänomen tvcdekind

Verfügung. Er muß imstande sein, jede einzelne Gestalt so sprechen zu lassen,
daß aus dem, was sie sagt, und aus der Art, wie sie es sagt, ihre seelische
Struktur unzweifelhaft hervorgeht; so deutlich, daß auch ihr Äußeres vorstellbar
wird und etwa der Schauspieler imstande ist, die richtige Maske zu wählen.
Diese Fähigkeit, Menschen durch das, was sie sagen, und nur dadurch zu
charakterisieren, die z. B. bei Hauptmann so frappiert, bildet zwar nicht die
einzige, aber eine ganz unerläßliche Begabung des echten Dramatikers. Es ist
der eigentliche Prüfstein eines Dramas, ob aus dem Dialog sich Menschen von
Fleisch und Blut entwickeln.

So verhält es sich mit dem Drama, als Dichtung. Mit dem Theaterstück,
insofern es aufgeführt wird, ist aber gerade das Umgekehrte der Fall: Durch
den Schauspieler, der als wirklicher Mensch hinter die Rolle tritt, kann der
Schein von Menschengestaltung erweckt werden, wo keine Spur davon vorhanden
ist. Man denke sich einen beliebigen Zeitungsartikel nach den Absäßen von
drei Menschen gesprochen, man denke sich für diese Menschen in Regiebemerkungen
vorgeschrieben, der eine sei dick und phlegmatisch, der andere dürr und beweglich,
der dritte untersetzt und energisch: so wird von der Bühne her der Eindruck
dreier verschiedener Charaktere Zustandekommen, obgleich in dem, was sie sagen,
auch nicht die Andeutung eines Charakters steckt. Der Schauspieler, der selbst
notwendig ein irgendwie individueller Mensch ist, kommt dem Autor zu Hilfe
und ersetzt mit seiner Körperlichkeit, mit Stimme und Gesten, was der andere
durch die bloßen Mittel der Sprache hätte leisten sollen. Auf dieser Täuschung
beruht die Bühnenmöglichkeil der Operetten, Schwänke und der leichten Bühnen¬
ware aller Art; es wäre unmöglich, dergleichen zu lesen; die Rollen verlangen
den Sprecher und sind an sich nichts; während umgekehrt ein echtes Drama,
wenn man es vom Lesen her kennt, bei der Aufführung so leicht enttäuscht;
denn je individuellere Gestalten der Dichter geschaffen hat, desto schwerer wird
der Schauspieler sich ihnen anschmiegen.

Auf jener Täuschung beruht nun auch, um es ehrlich zusagen, die Bühneu-
möglichkeit Wedekindscher Stücke.

Wedekind hat nur einen einzigen Menschen geschaffen, das ist die Gestalt
der Lulu, die im "Erdgeist" und in der "Büchse der Pandora" auftritt und
unter mancherlei Namen in fast allen Stücken wiederkehrt. Das ist eine geniale
Konzeption, ganz aus Wedekindschem Geiste und Erlebnis geboren und darum
wie aus Fleisch und Blut in der Unschuld ihrer Katzennatur, und um dieser
Schöpfung willen darf mau ihm den Namen eines Dichters nicht versagen.
Alle anderen Wedekindschen Personen dagegen, nur gering an Zahl, da sie
immer wiederkehren, sind Konstruktionen, papieren und puppenhaft, und nur lebens¬
fähig, solange der Schauspieler ihnen seinen eigenen Atem leiht. Noch am
meisten grenzt an wahrhafte Gestaltung jener skrupellose und unproblematische
Erfolgmensch, der einmal als Kammersänger, einmal als hochstapelnder
Marquis von Keith, einige Male als Manager und Impresario auftritt.


Das Phänomen tvcdekind

Verfügung. Er muß imstande sein, jede einzelne Gestalt so sprechen zu lassen,
daß aus dem, was sie sagt, und aus der Art, wie sie es sagt, ihre seelische
Struktur unzweifelhaft hervorgeht; so deutlich, daß auch ihr Äußeres vorstellbar
wird und etwa der Schauspieler imstande ist, die richtige Maske zu wählen.
Diese Fähigkeit, Menschen durch das, was sie sagen, und nur dadurch zu
charakterisieren, die z. B. bei Hauptmann so frappiert, bildet zwar nicht die
einzige, aber eine ganz unerläßliche Begabung des echten Dramatikers. Es ist
der eigentliche Prüfstein eines Dramas, ob aus dem Dialog sich Menschen von
Fleisch und Blut entwickeln.

So verhält es sich mit dem Drama, als Dichtung. Mit dem Theaterstück,
insofern es aufgeführt wird, ist aber gerade das Umgekehrte der Fall: Durch
den Schauspieler, der als wirklicher Mensch hinter die Rolle tritt, kann der
Schein von Menschengestaltung erweckt werden, wo keine Spur davon vorhanden
ist. Man denke sich einen beliebigen Zeitungsartikel nach den Absäßen von
drei Menschen gesprochen, man denke sich für diese Menschen in Regiebemerkungen
vorgeschrieben, der eine sei dick und phlegmatisch, der andere dürr und beweglich,
der dritte untersetzt und energisch: so wird von der Bühne her der Eindruck
dreier verschiedener Charaktere Zustandekommen, obgleich in dem, was sie sagen,
auch nicht die Andeutung eines Charakters steckt. Der Schauspieler, der selbst
notwendig ein irgendwie individueller Mensch ist, kommt dem Autor zu Hilfe
und ersetzt mit seiner Körperlichkeit, mit Stimme und Gesten, was der andere
durch die bloßen Mittel der Sprache hätte leisten sollen. Auf dieser Täuschung
beruht die Bühnenmöglichkeil der Operetten, Schwänke und der leichten Bühnen¬
ware aller Art; es wäre unmöglich, dergleichen zu lesen; die Rollen verlangen
den Sprecher und sind an sich nichts; während umgekehrt ein echtes Drama,
wenn man es vom Lesen her kennt, bei der Aufführung so leicht enttäuscht;
denn je individuellere Gestalten der Dichter geschaffen hat, desto schwerer wird
der Schauspieler sich ihnen anschmiegen.

Auf jener Täuschung beruht nun auch, um es ehrlich zusagen, die Bühneu-
möglichkeit Wedekindscher Stücke.

Wedekind hat nur einen einzigen Menschen geschaffen, das ist die Gestalt
der Lulu, die im „Erdgeist" und in der „Büchse der Pandora" auftritt und
unter mancherlei Namen in fast allen Stücken wiederkehrt. Das ist eine geniale
Konzeption, ganz aus Wedekindschem Geiste und Erlebnis geboren und darum
wie aus Fleisch und Blut in der Unschuld ihrer Katzennatur, und um dieser
Schöpfung willen darf mau ihm den Namen eines Dichters nicht versagen.
Alle anderen Wedekindschen Personen dagegen, nur gering an Zahl, da sie
immer wiederkehren, sind Konstruktionen, papieren und puppenhaft, und nur lebens¬
fähig, solange der Schauspieler ihnen seinen eigenen Atem leiht. Noch am
meisten grenzt an wahrhafte Gestaltung jener skrupellose und unproblematische
Erfolgmensch, der einmal als Kammersänger, einmal als hochstapelnder
Marquis von Keith, einige Male als Manager und Impresario auftritt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/244>, abgerufen am 28.07.2024.