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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Phänomen lvedokind

ihm zum Symbol von Welt und Leben in allen ihren Formen. Diese Eigenschaft
Wedekinds ist eine einfache Tatsache, die an sich keiner moralischen Beurteilung
unterliegt. Er selbst aber nimmt daraus Maßstäbe ethischer Wertung. Das
Entscheidende dabei ist, daß Wedekind nicht zwischen Genuß und Askese nazarenisch
hin- und hergerissen wird und Heines "Ich schmachte nach Bitternissen" nicht
kennt. Er besitzt das gute Gewissen seiner Triebe. Indessen ganz sicher läßt
sich dies nicht behaupten, und vielleicht greift man tiefer, wenn man seine
unermüdliche Darstellung jenes weiblichen Typus, dein er mit allen Sinnen
verfallen ist, deutet als einen immer wiederholten Protest gegen diesen Tyrannen,
als einen Versuch der Abwehr und Befreiung auf dem Wege künstlerischer Ge¬
staltung. Theoretisch jedenfalls bekennt er sich mutig zu seinem Dämon, und
eben hieraus schöpft er seine Sexualethik. Nach ihr ist es die Bestimmung des
Weibes zu reizen, und jemehr es diese Bestimmung erfüllt, desto vollkommener
ist es. Sonach verlangt er vom Weibe, sowohl körperlich wie seelisch-geistig,
alles was geeignet ist, die Begierde des Mannes zu entflammen, er verlangt
eine Erziehung der Mädchen in dieser Richtung und er denkt sich als Ergebnis
nicht ein lüsternes, äußerlich ehrbares und im Geheimen naschendes Weibchen,
sondern die souveräne Beherrscherin ihres in Formen und Bewegungen wohl
ausgebildeten und zu allen Künsten der Liebe geschmeidigen Körpers. Dies heißt
ganz einfach, daß das Weib seine Vollendung erreicht in der Dirne.

Über solche Lehren sich sittlich zu entrüsten, ist sehr billig, und wir wollen
es uns schenken. Dafür dürfen wir uns erlauben, die Theorie von der logischen
Seite her zu prüfen. Man sieht sofort, daß Wedekind nur eine Seite des
Weibes kennt; die andere, die sich in den Gestalten der Frau und der Mutter
verkörpert, das Läuternde, Beruhigende, Hinaufziehende, das was in Goethes
Iphigenie rührenden Ausdruck gefunden hat, übersieht er. Wedekinds Auf¬
fassung ist die auf das Weibliche angewandte Lehre Nietzsches vom Menschen
als Raubtier, als Bestie, die Stilisierung ins Gefährliche, strotzende, Amoralische.
Und er erweist sich in der Einseitigkeit und Konsequenz, mit der er, aller
Psychologie zum Trotz, aber völlig logisch, das Schamgefühl als unsittlich aus
seiner Welt schafft und die Schätzung der Jungfräulichkeit eine Überschätzung
nennt, als Pedanten und Doktrinär. Beides steckt wirklich und höchst ergötz¬
licherweise in diesem Draufgänger und Zyniker, und wenn man fragt, wie
denn ein Dichter Doktrinär sein könne, so führt man uns von selbst zur Frage
nach Wedekinds künstlerischen Qualitäten.

Die Werke lassen sich jetzt, wo sie gesammelt vorliegen, bequem über¬
blicken. Da finden wir zunächst, unter dem Titel "Die vier Jahreszeiten"
vereinigt, seine Gedichte, von welchen der schon zitierte Geist Eduard Engel
urteilt, sie enthielten "neben einigen netten Späßchen das platteste und poesie¬
loseste Zeug". Mir hingegen scheint, hier findet sich das künstlerisch Aus¬
gereifteste seines gesamten Schaffens -- so verschieden sind die Geschmäcker! --
und zwar deshalb, weil bei ihnen Wollen und Können einander decken. In


Das Phänomen lvedokind

ihm zum Symbol von Welt und Leben in allen ihren Formen. Diese Eigenschaft
Wedekinds ist eine einfache Tatsache, die an sich keiner moralischen Beurteilung
unterliegt. Er selbst aber nimmt daraus Maßstäbe ethischer Wertung. Das
Entscheidende dabei ist, daß Wedekind nicht zwischen Genuß und Askese nazarenisch
hin- und hergerissen wird und Heines „Ich schmachte nach Bitternissen" nicht
kennt. Er besitzt das gute Gewissen seiner Triebe. Indessen ganz sicher läßt
sich dies nicht behaupten, und vielleicht greift man tiefer, wenn man seine
unermüdliche Darstellung jenes weiblichen Typus, dein er mit allen Sinnen
verfallen ist, deutet als einen immer wiederholten Protest gegen diesen Tyrannen,
als einen Versuch der Abwehr und Befreiung auf dem Wege künstlerischer Ge¬
staltung. Theoretisch jedenfalls bekennt er sich mutig zu seinem Dämon, und
eben hieraus schöpft er seine Sexualethik. Nach ihr ist es die Bestimmung des
Weibes zu reizen, und jemehr es diese Bestimmung erfüllt, desto vollkommener
ist es. Sonach verlangt er vom Weibe, sowohl körperlich wie seelisch-geistig,
alles was geeignet ist, die Begierde des Mannes zu entflammen, er verlangt
eine Erziehung der Mädchen in dieser Richtung und er denkt sich als Ergebnis
nicht ein lüsternes, äußerlich ehrbares und im Geheimen naschendes Weibchen,
sondern die souveräne Beherrscherin ihres in Formen und Bewegungen wohl
ausgebildeten und zu allen Künsten der Liebe geschmeidigen Körpers. Dies heißt
ganz einfach, daß das Weib seine Vollendung erreicht in der Dirne.

Über solche Lehren sich sittlich zu entrüsten, ist sehr billig, und wir wollen
es uns schenken. Dafür dürfen wir uns erlauben, die Theorie von der logischen
Seite her zu prüfen. Man sieht sofort, daß Wedekind nur eine Seite des
Weibes kennt; die andere, die sich in den Gestalten der Frau und der Mutter
verkörpert, das Läuternde, Beruhigende, Hinaufziehende, das was in Goethes
Iphigenie rührenden Ausdruck gefunden hat, übersieht er. Wedekinds Auf¬
fassung ist die auf das Weibliche angewandte Lehre Nietzsches vom Menschen
als Raubtier, als Bestie, die Stilisierung ins Gefährliche, strotzende, Amoralische.
Und er erweist sich in der Einseitigkeit und Konsequenz, mit der er, aller
Psychologie zum Trotz, aber völlig logisch, das Schamgefühl als unsittlich aus
seiner Welt schafft und die Schätzung der Jungfräulichkeit eine Überschätzung
nennt, als Pedanten und Doktrinär. Beides steckt wirklich und höchst ergötz¬
licherweise in diesem Draufgänger und Zyniker, und wenn man fragt, wie
denn ein Dichter Doktrinär sein könne, so führt man uns von selbst zur Frage
nach Wedekinds künstlerischen Qualitäten.

Die Werke lassen sich jetzt, wo sie gesammelt vorliegen, bequem über¬
blicken. Da finden wir zunächst, unter dem Titel „Die vier Jahreszeiten"
vereinigt, seine Gedichte, von welchen der schon zitierte Geist Eduard Engel
urteilt, sie enthielten „neben einigen netten Späßchen das platteste und poesie¬
loseste Zeug". Mir hingegen scheint, hier findet sich das künstlerisch Aus¬
gereifteste seines gesamten Schaffens — so verschieden sind die Geschmäcker! —
und zwar deshalb, weil bei ihnen Wollen und Können einander decken. In


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/242>, abgerufen am 28.07.2024.