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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Phänomen ZVodckind

der einen Seite wird er verfolgt und von der anderen zum Himmel gehoben,
und der Kampf um ihn tobt mit einer Heftigkeit und persönlichen Erbitterung
wie sonst nur etwa um Heine. Schlägt man Literatur über ihn nach, so
findet man hier: "Niemand vermag ein Werk Wedekinds zu nennen, das mehr
wäre als ein kunstloses Gemengsel aus einigen mehr närrischen als wahrhaft
komischen Einfällen, sehr viel Plattheit, fast noch mehr Langweile, nur einem
geringen Ansatz zur Charakterzeichnung und sehr vielen Erinnerungen an
Strindberg" (Eduard Engel, Geschichte der deutschen Literatur); an einem
anderen Ort hingegen: "Einer der eigenartigsten und stärksten Satiriker unserer
Zeit, hinter dessen bald geistreichen Witzeleien, bald grotesken Humor, scheinbar
burlesken Einfällen oder exzentrischen Karikaturen die ironisch - zynische Welt¬
erfassung und trotzige Weltverachtung eines souveränen, auch über traditionelle
Kunstformen erhabenen Künstlers steht . . ." (H. A. Krüger, Deutsches Literatur-
Lexikon). Und blickt man sich im'Leben um, so wird man durch immer
wiederholte Zensurverbote seiner Stücke an ihn erinnert, durch einen Kampf der
Staatsbehörden, wie er mit dieser Konsequenz gegen einen Schriftsteller seit
den Tagen des Jungen Deutschland wohl nicht mehr geführt worden ist;
während gleichzeitig eine jüngste Jugend in ihm ihren Propheten erblickt, ihm
Bücher und Zeitschriften widmet und ihn in lärmendem Schwarm lobpreisend
umgibt. Der Fremde, der die deutsche Literatur der Gegenwart betrachtet,
muß den Eindruck gewinnen: der führende Geist ist Frank Wedekind.

Vor solchen Zeichen der Zeit ist die erste Pflicht des ruhigen Betrachters,
die Erscheinung selbst einmal ernst zu nehmen und das Wollen und Können
dieses seltsamen Mannes mit bereitwilliger Aufmerksamkeit zu prüfen.

Er macht dem Untersuchenden die Diagnose nicht leicht. Denn es ist
Wedekinds Art zu reizen, in guten, wie in bösem Sinne. Er widerstrebt,
menschlich und künstlerisch, jedem Versuch einer Rubrizierung und Schema¬
tisierung und ist nicht zu fassen. Er erregt den Zorn des ruhigen Bürgers
und die Neugier des abenteuerlustigen Zeitgenossen. Er hat viele Gesichter
und keine Physiognomie, und er gleicht darin, und nicht nur darin, Heinrich
Heine.

Was zunächst die Alten und die Korrekten ärgert, die Jungen und die
Wagemutigen aber anzieht, das ist seine Unbesorgtheit im persönlichen Gehaben.
Heute freilich tritt er bereits einher im würdigen Gewände einer sechsbändigen
Sammelausgabe, erschienen bei Georg Müller in München, mit der Miene
eines, der in der offiziellen Literatur mitredet. Aber ehedem war er auf dem
Brettl für Geld zu sehen und trug seine Lieder, nach selbsterfundenen Weisen,
zur Laute vor, als einer der ersten, der dieses romantische Instrument neuerdings
wieder handhabte. Er scheut sich nicht, Zyklen seiner Dramen als Unternehmer
auf die Bühne zu bringen, und es macht ihm Freude, von seiner Frau Tilly
unterstützt, sich selbst zu spielen, unbekümmert darum, daß er ein mittelmäßiger
Schauspieler ist, unbekümmert auch darum, vielmehr angespornt durch den Um-


Das Phänomen ZVodckind

der einen Seite wird er verfolgt und von der anderen zum Himmel gehoben,
und der Kampf um ihn tobt mit einer Heftigkeit und persönlichen Erbitterung
wie sonst nur etwa um Heine. Schlägt man Literatur über ihn nach, so
findet man hier: „Niemand vermag ein Werk Wedekinds zu nennen, das mehr
wäre als ein kunstloses Gemengsel aus einigen mehr närrischen als wahrhaft
komischen Einfällen, sehr viel Plattheit, fast noch mehr Langweile, nur einem
geringen Ansatz zur Charakterzeichnung und sehr vielen Erinnerungen an
Strindberg" (Eduard Engel, Geschichte der deutschen Literatur); an einem
anderen Ort hingegen: „Einer der eigenartigsten und stärksten Satiriker unserer
Zeit, hinter dessen bald geistreichen Witzeleien, bald grotesken Humor, scheinbar
burlesken Einfällen oder exzentrischen Karikaturen die ironisch - zynische Welt¬
erfassung und trotzige Weltverachtung eines souveränen, auch über traditionelle
Kunstformen erhabenen Künstlers steht . . ." (H. A. Krüger, Deutsches Literatur-
Lexikon). Und blickt man sich im'Leben um, so wird man durch immer
wiederholte Zensurverbote seiner Stücke an ihn erinnert, durch einen Kampf der
Staatsbehörden, wie er mit dieser Konsequenz gegen einen Schriftsteller seit
den Tagen des Jungen Deutschland wohl nicht mehr geführt worden ist;
während gleichzeitig eine jüngste Jugend in ihm ihren Propheten erblickt, ihm
Bücher und Zeitschriften widmet und ihn in lärmendem Schwarm lobpreisend
umgibt. Der Fremde, der die deutsche Literatur der Gegenwart betrachtet,
muß den Eindruck gewinnen: der führende Geist ist Frank Wedekind.

Vor solchen Zeichen der Zeit ist die erste Pflicht des ruhigen Betrachters,
die Erscheinung selbst einmal ernst zu nehmen und das Wollen und Können
dieses seltsamen Mannes mit bereitwilliger Aufmerksamkeit zu prüfen.

Er macht dem Untersuchenden die Diagnose nicht leicht. Denn es ist
Wedekinds Art zu reizen, in guten, wie in bösem Sinne. Er widerstrebt,
menschlich und künstlerisch, jedem Versuch einer Rubrizierung und Schema¬
tisierung und ist nicht zu fassen. Er erregt den Zorn des ruhigen Bürgers
und die Neugier des abenteuerlustigen Zeitgenossen. Er hat viele Gesichter
und keine Physiognomie, und er gleicht darin, und nicht nur darin, Heinrich
Heine.

Was zunächst die Alten und die Korrekten ärgert, die Jungen und die
Wagemutigen aber anzieht, das ist seine Unbesorgtheit im persönlichen Gehaben.
Heute freilich tritt er bereits einher im würdigen Gewände einer sechsbändigen
Sammelausgabe, erschienen bei Georg Müller in München, mit der Miene
eines, der in der offiziellen Literatur mitredet. Aber ehedem war er auf dem
Brettl für Geld zu sehen und trug seine Lieder, nach selbsterfundenen Weisen,
zur Laute vor, als einer der ersten, der dieses romantische Instrument neuerdings
wieder handhabte. Er scheut sich nicht, Zyklen seiner Dramen als Unternehmer
auf die Bühne zu bringen, und es macht ihm Freude, von seiner Frau Tilly
unterstützt, sich selbst zu spielen, unbekümmert darum, daß er ein mittelmäßiger
Schauspieler ist, unbekümmert auch darum, vielmehr angespornt durch den Um-


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[0240] Das Phänomen ZVodckind der einen Seite wird er verfolgt und von der anderen zum Himmel gehoben, und der Kampf um ihn tobt mit einer Heftigkeit und persönlichen Erbitterung wie sonst nur etwa um Heine. Schlägt man Literatur über ihn nach, so findet man hier: „Niemand vermag ein Werk Wedekinds zu nennen, das mehr wäre als ein kunstloses Gemengsel aus einigen mehr närrischen als wahrhaft komischen Einfällen, sehr viel Plattheit, fast noch mehr Langweile, nur einem geringen Ansatz zur Charakterzeichnung und sehr vielen Erinnerungen an Strindberg" (Eduard Engel, Geschichte der deutschen Literatur); an einem anderen Ort hingegen: „Einer der eigenartigsten und stärksten Satiriker unserer Zeit, hinter dessen bald geistreichen Witzeleien, bald grotesken Humor, scheinbar burlesken Einfällen oder exzentrischen Karikaturen die ironisch - zynische Welt¬ erfassung und trotzige Weltverachtung eines souveränen, auch über traditionelle Kunstformen erhabenen Künstlers steht . . ." (H. A. Krüger, Deutsches Literatur- Lexikon). Und blickt man sich im'Leben um, so wird man durch immer wiederholte Zensurverbote seiner Stücke an ihn erinnert, durch einen Kampf der Staatsbehörden, wie er mit dieser Konsequenz gegen einen Schriftsteller seit den Tagen des Jungen Deutschland wohl nicht mehr geführt worden ist; während gleichzeitig eine jüngste Jugend in ihm ihren Propheten erblickt, ihm Bücher und Zeitschriften widmet und ihn in lärmendem Schwarm lobpreisend umgibt. Der Fremde, der die deutsche Literatur der Gegenwart betrachtet, muß den Eindruck gewinnen: der führende Geist ist Frank Wedekind. Vor solchen Zeichen der Zeit ist die erste Pflicht des ruhigen Betrachters, die Erscheinung selbst einmal ernst zu nehmen und das Wollen und Können dieses seltsamen Mannes mit bereitwilliger Aufmerksamkeit zu prüfen. Er macht dem Untersuchenden die Diagnose nicht leicht. Denn es ist Wedekinds Art zu reizen, in guten, wie in bösem Sinne. Er widerstrebt, menschlich und künstlerisch, jedem Versuch einer Rubrizierung und Schema¬ tisierung und ist nicht zu fassen. Er erregt den Zorn des ruhigen Bürgers und die Neugier des abenteuerlustigen Zeitgenossen. Er hat viele Gesichter und keine Physiognomie, und er gleicht darin, und nicht nur darin, Heinrich Heine. Was zunächst die Alten und die Korrekten ärgert, die Jungen und die Wagemutigen aber anzieht, das ist seine Unbesorgtheit im persönlichen Gehaben. Heute freilich tritt er bereits einher im würdigen Gewände einer sechsbändigen Sammelausgabe, erschienen bei Georg Müller in München, mit der Miene eines, der in der offiziellen Literatur mitredet. Aber ehedem war er auf dem Brettl für Geld zu sehen und trug seine Lieder, nach selbsterfundenen Weisen, zur Laute vor, als einer der ersten, der dieses romantische Instrument neuerdings wieder handhabte. Er scheut sich nicht, Zyklen seiner Dramen als Unternehmer auf die Bühne zu bringen, und es macht ihm Freude, von seiner Frau Tilly unterstützt, sich selbst zu spielen, unbekümmert darum, daß er ein mittelmäßiger Schauspieler ist, unbekümmert auch darum, vielmehr angespornt durch den Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/240>, abgerufen am 28.07.2024.