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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

den Skandal vermeiden, ist von Einsichtsvollen oft ausgeführt worden. Nur
hat noch keiner ein Heilmittel dagegen gefunden, aus dem nicht die Rückkehr
in ein ethisches Chaos drohte. Und wenn Wells' Neuer Machiavell mit dem
Gedanken einer Umformung des Sittengesetzes auf der Grundlage des Matri¬
archats spielt, so dürfen wir den Dichter nicht völlig mit seinem Helden identi¬
fizieren, aus dem hier die Bitterkeit des Gescheiterem, auf der Höhe des Lebens
zur Untätigkeit Verurteilten redet. Jedenfalls bringt das jüngste Werk "l'us
pas8l0NÄte I^nenckg" bereits eine Weiterentwicklung des früheren Standpunktes.

Es ist ein wundervoll reiches und tiefes Buch, wie es nur ein Dichter
schreiben kann, der allen Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Lebens ins Auge
gesehen hat. Auch der alte Lehrsatz des Fanatikers, das "Alles oder Nichts",
das in Krisen der Leidenschaft wie in anderen ernsten Lebensfragen so oft
Selbsttäuschungen herbeiführt, wird hier unter die Lupe des Zweifels genommen.
Denn es geht eben selten oder nie um "alles oder nichts", sondern fast immer
um "das eine und das andere". Das wird kein Wahrheitsliebender bestreiten
können^, der die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Psyche im Auge behält.

"1"Ke ?Ä8sionatö I^nsnä8" ist ein hohes Lied der Leidenschaft; sein
Inhalt, die Behauptung der schicksalgewollten Bestimmung zweier Indivi¬
dualitäten für einander, die sich vereinigen müssen, auch wenn sie sich ander¬
weit verbunden haben. Es geschieht hier wie in "l'vno-LunM^"; nach jahre¬
langer Trennung begegnen sich die Jugendgespielen wieder, das Mädchen nun
die in der Gesellschaft gefeierte Gattin eines mächtigen Finanzmannes, und
beide fühlen sich sogleich von der alten Leidenschaft befangen. Aber hier schon
setzt mit feiner Kontrastwirkung die Parallele ein -- eine andere Glücks¬
möglichkeit taucht für Stratton, den Helden, auf in Gestalt einer noch uner-
schlossenen Mädchenknospe, die von ihm erst die Entfaltung zum vollen Menschentum
erwartet.

Und auch diese Liebe, die sich auf vollkommenem Vertrauen aufbaut und
den Reiz der Wesensgleichheit durch den des Gegensatzes ersetzt, gibt einen
reinen Zusammenklang. Das zeigt die Erfahrung, nachdem Stratton durch
das Dazwischentreten des Gatten jeuer von Anbeginn geliebten Lady Mary auf
Jahre aus England verbannt worden ist und bei der Heimkehr die in Treuen
wartende Ruth heiratet. Der Zufall führt die Liebenden von einst noch einmal
zusammen und nunmehr droht ein Skandal, da der Gatte Lady Marys nicht
glauben will, daß man ihn diesmal nicht betrogen habe. Die Dame aber, um
Strattons Laufbahn nicht zu gefährden, nimmt Gift. Und damit schließt ein
Erlebnis, das nach dem Willen der im Instinkt redenden Naturgewalt der
Inhalt eines Daseins sein sollte -- es schließt, vom Menschenwillen zur Episode
umgewandelt, denn Strattons Eheglück bleibt durch diese Katastrophe uner¬
schüttert.

Das Fazit liegt sehr nahe, wiewohl Wells es diesmal noch nicht gezogen
hat. Der zynische Satz Schopenhauers: "Jeder Mann liebt jede Frau, falls


Herbert George Wells

den Skandal vermeiden, ist von Einsichtsvollen oft ausgeführt worden. Nur
hat noch keiner ein Heilmittel dagegen gefunden, aus dem nicht die Rückkehr
in ein ethisches Chaos drohte. Und wenn Wells' Neuer Machiavell mit dem
Gedanken einer Umformung des Sittengesetzes auf der Grundlage des Matri¬
archats spielt, so dürfen wir den Dichter nicht völlig mit seinem Helden identi¬
fizieren, aus dem hier die Bitterkeit des Gescheiterem, auf der Höhe des Lebens
zur Untätigkeit Verurteilten redet. Jedenfalls bringt das jüngste Werk „l'us
pas8l0NÄte I^nenckg" bereits eine Weiterentwicklung des früheren Standpunktes.

Es ist ein wundervoll reiches und tiefes Buch, wie es nur ein Dichter
schreiben kann, der allen Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Lebens ins Auge
gesehen hat. Auch der alte Lehrsatz des Fanatikers, das „Alles oder Nichts",
das in Krisen der Leidenschaft wie in anderen ernsten Lebensfragen so oft
Selbsttäuschungen herbeiführt, wird hier unter die Lupe des Zweifels genommen.
Denn es geht eben selten oder nie um „alles oder nichts", sondern fast immer
um „das eine und das andere". Das wird kein Wahrheitsliebender bestreiten
können^, der die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Psyche im Auge behält.

„1"Ke ?Ä8sionatö I^nsnä8" ist ein hohes Lied der Leidenschaft; sein
Inhalt, die Behauptung der schicksalgewollten Bestimmung zweier Indivi¬
dualitäten für einander, die sich vereinigen müssen, auch wenn sie sich ander¬
weit verbunden haben. Es geschieht hier wie in „l'vno-LunM^"; nach jahre¬
langer Trennung begegnen sich die Jugendgespielen wieder, das Mädchen nun
die in der Gesellschaft gefeierte Gattin eines mächtigen Finanzmannes, und
beide fühlen sich sogleich von der alten Leidenschaft befangen. Aber hier schon
setzt mit feiner Kontrastwirkung die Parallele ein — eine andere Glücks¬
möglichkeit taucht für Stratton, den Helden, auf in Gestalt einer noch uner-
schlossenen Mädchenknospe, die von ihm erst die Entfaltung zum vollen Menschentum
erwartet.

Und auch diese Liebe, die sich auf vollkommenem Vertrauen aufbaut und
den Reiz der Wesensgleichheit durch den des Gegensatzes ersetzt, gibt einen
reinen Zusammenklang. Das zeigt die Erfahrung, nachdem Stratton durch
das Dazwischentreten des Gatten jeuer von Anbeginn geliebten Lady Mary auf
Jahre aus England verbannt worden ist und bei der Heimkehr die in Treuen
wartende Ruth heiratet. Der Zufall führt die Liebenden von einst noch einmal
zusammen und nunmehr droht ein Skandal, da der Gatte Lady Marys nicht
glauben will, daß man ihn diesmal nicht betrogen habe. Die Dame aber, um
Strattons Laufbahn nicht zu gefährden, nimmt Gift. Und damit schließt ein
Erlebnis, das nach dem Willen der im Instinkt redenden Naturgewalt der
Inhalt eines Daseins sein sollte — es schließt, vom Menschenwillen zur Episode
umgewandelt, denn Strattons Eheglück bleibt durch diese Katastrophe uner¬
schüttert.

Das Fazit liegt sehr nahe, wiewohl Wells es diesmal noch nicht gezogen
hat. Der zynische Satz Schopenhauers: „Jeder Mann liebt jede Frau, falls


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[0193] Herbert George Wells den Skandal vermeiden, ist von Einsichtsvollen oft ausgeführt worden. Nur hat noch keiner ein Heilmittel dagegen gefunden, aus dem nicht die Rückkehr in ein ethisches Chaos drohte. Und wenn Wells' Neuer Machiavell mit dem Gedanken einer Umformung des Sittengesetzes auf der Grundlage des Matri¬ archats spielt, so dürfen wir den Dichter nicht völlig mit seinem Helden identi¬ fizieren, aus dem hier die Bitterkeit des Gescheiterem, auf der Höhe des Lebens zur Untätigkeit Verurteilten redet. Jedenfalls bringt das jüngste Werk „l'us pas8l0NÄte I^nenckg" bereits eine Weiterentwicklung des früheren Standpunktes. Es ist ein wundervoll reiches und tiefes Buch, wie es nur ein Dichter schreiben kann, der allen Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Lebens ins Auge gesehen hat. Auch der alte Lehrsatz des Fanatikers, das „Alles oder Nichts", das in Krisen der Leidenschaft wie in anderen ernsten Lebensfragen so oft Selbsttäuschungen herbeiführt, wird hier unter die Lupe des Zweifels genommen. Denn es geht eben selten oder nie um „alles oder nichts", sondern fast immer um „das eine und das andere". Das wird kein Wahrheitsliebender bestreiten können^, der die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Psyche im Auge behält. „1"Ke ?Ä8sionatö I^nsnä8" ist ein hohes Lied der Leidenschaft; sein Inhalt, die Behauptung der schicksalgewollten Bestimmung zweier Indivi¬ dualitäten für einander, die sich vereinigen müssen, auch wenn sie sich ander¬ weit verbunden haben. Es geschieht hier wie in „l'vno-LunM^"; nach jahre¬ langer Trennung begegnen sich die Jugendgespielen wieder, das Mädchen nun die in der Gesellschaft gefeierte Gattin eines mächtigen Finanzmannes, und beide fühlen sich sogleich von der alten Leidenschaft befangen. Aber hier schon setzt mit feiner Kontrastwirkung die Parallele ein — eine andere Glücks¬ möglichkeit taucht für Stratton, den Helden, auf in Gestalt einer noch uner- schlossenen Mädchenknospe, die von ihm erst die Entfaltung zum vollen Menschentum erwartet. Und auch diese Liebe, die sich auf vollkommenem Vertrauen aufbaut und den Reiz der Wesensgleichheit durch den des Gegensatzes ersetzt, gibt einen reinen Zusammenklang. Das zeigt die Erfahrung, nachdem Stratton durch das Dazwischentreten des Gatten jeuer von Anbeginn geliebten Lady Mary auf Jahre aus England verbannt worden ist und bei der Heimkehr die in Treuen wartende Ruth heiratet. Der Zufall führt die Liebenden von einst noch einmal zusammen und nunmehr droht ein Skandal, da der Gatte Lady Marys nicht glauben will, daß man ihn diesmal nicht betrogen habe. Die Dame aber, um Strattons Laufbahn nicht zu gefährden, nimmt Gift. Und damit schließt ein Erlebnis, das nach dem Willen der im Instinkt redenden Naturgewalt der Inhalt eines Daseins sein sollte — es schließt, vom Menschenwillen zur Episode umgewandelt, denn Strattons Eheglück bleibt durch diese Katastrophe uner¬ schüttert. Das Fazit liegt sehr nahe, wiewohl Wells es diesmal noch nicht gezogen hat. Der zynische Satz Schopenhauers: „Jeder Mann liebt jede Frau, falls

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/193>, abgerufen am 06.10.2024.