Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.von der künstlerischen Aufgabe in der Wissenschaft gesucht werden kann. Die Wissenschaft soll nicht toter Reichtum in der Truhe Man könnte sich denken, daß alle aufgehäufte Wissenschaft verschwände, Wohl bei den wenigsten Menschen gelangt diese Selbstgestaltung zu einem Oft wird hierbei das Vorbild solcher Menschen, die der abgeklärten Ge¬ von der künstlerischen Aufgabe in der Wissenschaft gesucht werden kann. Die Wissenschaft soll nicht toter Reichtum in der Truhe Man könnte sich denken, daß alle aufgehäufte Wissenschaft verschwände, Wohl bei den wenigsten Menschen gelangt diese Selbstgestaltung zu einem Oft wird hierbei das Vorbild solcher Menschen, die der abgeklärten Ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328916"/> <fw type="header" place="top"> von der künstlerischen Aufgabe in der Wissenschaft</fw><lb/> <p xml:id="ID_569" prev="#ID_568"> gesucht werden kann. Die Wissenschaft soll nicht toter Reichtum in der Truhe<lb/> sein, nicht nutzlos wie eine verschlossene Bibliothek, sondern sie ist dazu bestimmt,<lb/> in den Seelen der Menschen das bauen zu helfen, wonach menschliche Geistes¬<lb/> arbeit immer strebt, eine geschlossene Gesamtanschauung vom Sein, verkörpert<lb/> im Innern des Subjekts, das sich hierdurch zum Kunstwerk gestaltet.</p><lb/> <p xml:id="ID_570"> Man könnte sich denken, daß alle aufgehäufte Wissenschaft verschwände,<lb/> daß mit unserem Zivilisationskreis auch unsere Kulwrerrungensch after dahin-<lb/> sänken — dennoch hätte die Wissenschaft ihren Zweck erfüllt, indem sie mitgewirkt<lb/> hätte, die höchste Blüte geistig-seelischen Lebens im Menschen auf den verschiedenen<lb/> Stufen seines Werdens immer wieder zu ermöglichen. Für den Anhänger des<lb/> Gedankens vom additiven Fortschritt der Wissenschaft wäre aber mit dem<lb/> Eintritt jener Katastrophe alle bereits geleistete wissenschaftliche Arbeit umsonst<lb/> gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_571"> Wohl bei den wenigsten Menschen gelangt diese Selbstgestaltung zu einem<lb/> Abschluß, der in unverrückbaren Kreis Stellung nimmt zu allem Sein und<lb/> Geschehen; ein solcher Abschluß kann zu einer Verknöcherung führen, zu einem<lb/> „ich verstehe die Welt nicht mehr" gegenüber den neu andrängenden Erscheinungen.<lb/> Zunächst aber bleibt diese Arbeit im Flusse, und die Erlebnisse innerer und<lb/> äußerer Art helfen noch täglich daran gestalten, nur daß die Grundlinien fest¬<lb/> liegen; wichtig ist, daß die Aufnahmefähigkeit, die Inbrunst des Suchens nicht<lb/> erlischt. Hier haben wir auch ein Ziel der Erziehung; sie soll hinführen zu<lb/> dem Wissen, daß diese innere Vollendung Lebensaufgabe des geistigen Menschen<lb/> ist; sie soll Wahrheitssucher bilden, d. h. Sucher der für das Individuum be¬<lb/> stimmenden Harmonie. Dies ist Persönlichkeitserziehung, denn diese Aufgabe<lb/> ist auch eine sittliche. Sie umfaßt Streben nach Geistesbildung und sittliches<lb/> Streben, beides nicht von außen hervorgebracht, sondern innerlich erwachsen.</p><lb/> <p xml:id="ID_572" next="#ID_573"> Oft wird hierbei das Vorbild solcher Menschen, die der abgeklärten Ge¬<lb/> staltung näher gekommen sind, maßgebend für andere, noch unfertige. Jeder<lb/> in sich geschlossene, harmonische Mensch kann und soll für andere ein Führer<lb/> sein, eine Schule bilden. Ob aber die Suchenden in einer Weltanschauung, in<lb/> einem philosophischen System, in einem vollendeten Menschen das Kunstwerk<lb/> erkennen, das hängt von tiefsten Anlagen ihrer eigenen Individualität ab.<lb/> Man könnte wohl von einer angeborenen oder innerlich erwachsenen Affinität,<lb/> einer Wahlverwandtschaft reden. Auf solchen unsichtbaren Beziehungen<lb/> beruhen die engsten Zusammenschlüsse, hier liegen die wahrhaft organischen,<lb/> weil vom Leben geschaffenen und Leben zeugenden Verbindungen; hier<lb/> könnte die natürliche Gliederung der Nation um ihre natürlichen<lb/> Führer im Geiste entstehen, wenn sie nicht fortwährend durch äußerliche<lb/> Rücksichten und vorgefundene Konventionen gehemmt würde. Das öffentliche<lb/> Leben, das in kleinlichen Parteienzank und Parteienschacher zu versinken droht,<lb/> wieder auf die Höhe eines Kampfes der Weltanschauungen zu heben, wird<lb/> diese Selbstgestaltung der zu Führern berufenen Persönlichkeiten erst ermöglichen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0182]
von der künstlerischen Aufgabe in der Wissenschaft
gesucht werden kann. Die Wissenschaft soll nicht toter Reichtum in der Truhe
sein, nicht nutzlos wie eine verschlossene Bibliothek, sondern sie ist dazu bestimmt,
in den Seelen der Menschen das bauen zu helfen, wonach menschliche Geistes¬
arbeit immer strebt, eine geschlossene Gesamtanschauung vom Sein, verkörpert
im Innern des Subjekts, das sich hierdurch zum Kunstwerk gestaltet.
Man könnte sich denken, daß alle aufgehäufte Wissenschaft verschwände,
daß mit unserem Zivilisationskreis auch unsere Kulwrerrungensch after dahin-
sänken — dennoch hätte die Wissenschaft ihren Zweck erfüllt, indem sie mitgewirkt
hätte, die höchste Blüte geistig-seelischen Lebens im Menschen auf den verschiedenen
Stufen seines Werdens immer wieder zu ermöglichen. Für den Anhänger des
Gedankens vom additiven Fortschritt der Wissenschaft wäre aber mit dem
Eintritt jener Katastrophe alle bereits geleistete wissenschaftliche Arbeit umsonst
gewesen.
Wohl bei den wenigsten Menschen gelangt diese Selbstgestaltung zu einem
Abschluß, der in unverrückbaren Kreis Stellung nimmt zu allem Sein und
Geschehen; ein solcher Abschluß kann zu einer Verknöcherung führen, zu einem
„ich verstehe die Welt nicht mehr" gegenüber den neu andrängenden Erscheinungen.
Zunächst aber bleibt diese Arbeit im Flusse, und die Erlebnisse innerer und
äußerer Art helfen noch täglich daran gestalten, nur daß die Grundlinien fest¬
liegen; wichtig ist, daß die Aufnahmefähigkeit, die Inbrunst des Suchens nicht
erlischt. Hier haben wir auch ein Ziel der Erziehung; sie soll hinführen zu
dem Wissen, daß diese innere Vollendung Lebensaufgabe des geistigen Menschen
ist; sie soll Wahrheitssucher bilden, d. h. Sucher der für das Individuum be¬
stimmenden Harmonie. Dies ist Persönlichkeitserziehung, denn diese Aufgabe
ist auch eine sittliche. Sie umfaßt Streben nach Geistesbildung und sittliches
Streben, beides nicht von außen hervorgebracht, sondern innerlich erwachsen.
Oft wird hierbei das Vorbild solcher Menschen, die der abgeklärten Ge¬
staltung näher gekommen sind, maßgebend für andere, noch unfertige. Jeder
in sich geschlossene, harmonische Mensch kann und soll für andere ein Führer
sein, eine Schule bilden. Ob aber die Suchenden in einer Weltanschauung, in
einem philosophischen System, in einem vollendeten Menschen das Kunstwerk
erkennen, das hängt von tiefsten Anlagen ihrer eigenen Individualität ab.
Man könnte wohl von einer angeborenen oder innerlich erwachsenen Affinität,
einer Wahlverwandtschaft reden. Auf solchen unsichtbaren Beziehungen
beruhen die engsten Zusammenschlüsse, hier liegen die wahrhaft organischen,
weil vom Leben geschaffenen und Leben zeugenden Verbindungen; hier
könnte die natürliche Gliederung der Nation um ihre natürlichen
Führer im Geiste entstehen, wenn sie nicht fortwährend durch äußerliche
Rücksichten und vorgefundene Konventionen gehemmt würde. Das öffentliche
Leben, das in kleinlichen Parteienzank und Parteienschacher zu versinken droht,
wieder auf die Höhe eines Kampfes der Weltanschauungen zu heben, wird
diese Selbstgestaltung der zu Führern berufenen Persönlichkeiten erst ermöglichen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |