Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo mäßigen Betrachtungen zu den Fragen der praktischen Politik zurück, so muß Der praktischen Staatskunst der europäischen Großmächte ist durch die Tat Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo mäßigen Betrachtungen zu den Fragen der praktischen Politik zurück, so muß Der praktischen Staatskunst der europäischen Großmächte ist durch die Tat <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328898"/> <fw type="header" place="top"> Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo</fw><lb/> <p xml:id="ID_503" prev="#ID_502"> mäßigen Betrachtungen zu den Fragen der praktischen Politik zurück, so muß<lb/> man sich doch sagen, daß eine plötzliche engere Verbindung mit Rußland sehr<lb/> wahrscheinlich die soeben gebesserter Beziehungen des Deutschen Reiches zu<lb/> England lockern würde. Innerhalb der großen politischen Konstellation —<lb/> Dreibund gegenüber Dreiverband — weisen aber alle unsere realen Interessen<lb/> auf ein ungetrübtes Verhältnis zum Inselreich, ohne daß wir deshalb unfricd-<lb/> liche Gesinnungen gegen den östlichen Nachbar hegen müßten. Nun sind ja<lb/> Rückversicherungen keine ungewohnten Züge mehr auf dem Schachbrett der<lb/> Diplomatie, nur sollten sie nicht den Anschein einer Schaukelpolitik erwecken,<lb/> sondern Ausdruck und Zeichen selbstsicherer Stärke sein. Natürlich hat niemals<lb/> irgendein föderatives System der auswärtigen Politik Anspruch auf ausschlie߬<lb/> liche oder unveränderliche Geltung. Ein mächtiger Staat wird vielmehr nur<lb/> solche Verbindungen festhalten oder aufsuchen, die ihm jene Bewegungsfreiheit<lb/> gewährleisten, welche zur zweckdienlichen und fortschreitenden Entfaltung der in<lb/> seinem Innern tätigen Kräfte nötig ist. Es kann also nicht nur die Ähnlichkeit<lb/> des Verfassuugs- und Negierungssnstems bei solcher Wahl entscheiden; es sprechen<lb/> auch soziale und kulturelle Fragen mit. Nun beruht in Rußland die innere<lb/> Entwicklung doch noch immer auf dem Moment des Zwanges, in England,<lb/> das in seinen politischen Einrichtungen doch so konservativ im Sinne von Be¬<lb/> ständigkeit ist, auf dem der Freiheit. In Österreich-Ungarn wird, wie schon<lb/> erwähnt, der innere Fortgang durch das Mittel des Ausgleichs erstrebt. Im<lb/> Deutschen Reich möchte man ein Element der Erziehung als denjenigen Faktor<lb/> erkennen, der die Staatseinheit festigen, die Staatsgröße fördern will. Die<lb/> theoretischen Folgerungen für die Bündnispolitik dieser Staaten ergeben sich<lb/> daraus von selbst.</p><lb/> <p xml:id="ID_504"> Der praktischen Staatskunst der europäischen Großmächte ist durch die Tat<lb/> von Serajewo die nicht leichte Aufgabe nahegelegt, unter sicherer Wahrung des<lb/> allgemeinen Friedens die politischen Ruhestörer endlich unschädlich zu machen.<lb/> In dem gegenwärtigen Zeitalter der Friedensbewegung hängt von dem<lb/> Gelingen für eine universalgerichtete Geschichtsbetrachtung die Beantwortung<lb/> der Frage ab, ob die einstige romanisch-germanische Staatengemeinschaft,<lb/> die heute als Kulturgemeinschaft fortbesteht, einer Entwicklung zu europäischer<lb/> Geltung fähig ist.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0164]
Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo
mäßigen Betrachtungen zu den Fragen der praktischen Politik zurück, so muß
man sich doch sagen, daß eine plötzliche engere Verbindung mit Rußland sehr
wahrscheinlich die soeben gebesserter Beziehungen des Deutschen Reiches zu
England lockern würde. Innerhalb der großen politischen Konstellation —
Dreibund gegenüber Dreiverband — weisen aber alle unsere realen Interessen
auf ein ungetrübtes Verhältnis zum Inselreich, ohne daß wir deshalb unfricd-
liche Gesinnungen gegen den östlichen Nachbar hegen müßten. Nun sind ja
Rückversicherungen keine ungewohnten Züge mehr auf dem Schachbrett der
Diplomatie, nur sollten sie nicht den Anschein einer Schaukelpolitik erwecken,
sondern Ausdruck und Zeichen selbstsicherer Stärke sein. Natürlich hat niemals
irgendein föderatives System der auswärtigen Politik Anspruch auf ausschlie߬
liche oder unveränderliche Geltung. Ein mächtiger Staat wird vielmehr nur
solche Verbindungen festhalten oder aufsuchen, die ihm jene Bewegungsfreiheit
gewährleisten, welche zur zweckdienlichen und fortschreitenden Entfaltung der in
seinem Innern tätigen Kräfte nötig ist. Es kann also nicht nur die Ähnlichkeit
des Verfassuugs- und Negierungssnstems bei solcher Wahl entscheiden; es sprechen
auch soziale und kulturelle Fragen mit. Nun beruht in Rußland die innere
Entwicklung doch noch immer auf dem Moment des Zwanges, in England,
das in seinen politischen Einrichtungen doch so konservativ im Sinne von Be¬
ständigkeit ist, auf dem der Freiheit. In Österreich-Ungarn wird, wie schon
erwähnt, der innere Fortgang durch das Mittel des Ausgleichs erstrebt. Im
Deutschen Reich möchte man ein Element der Erziehung als denjenigen Faktor
erkennen, der die Staatseinheit festigen, die Staatsgröße fördern will. Die
theoretischen Folgerungen für die Bündnispolitik dieser Staaten ergeben sich
daraus von selbst.
Der praktischen Staatskunst der europäischen Großmächte ist durch die Tat
von Serajewo die nicht leichte Aufgabe nahegelegt, unter sicherer Wahrung des
allgemeinen Friedens die politischen Ruhestörer endlich unschädlich zu machen.
In dem gegenwärtigen Zeitalter der Friedensbewegung hängt von dem
Gelingen für eine universalgerichtete Geschichtsbetrachtung die Beantwortung
der Frage ab, ob die einstige romanisch-germanische Staatengemeinschaft,
die heute als Kulturgemeinschaft fortbesteht, einer Entwicklung zu europäischer
Geltung fähig ist.
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