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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Bücher zur neueren deutschen Literatur

wenn sie nicht gerade viel Zweck haben. Und man ist immer wieder geneigt zu
fragen, warum sich nicht die zünftige Literaturgeschichte viel mehr auf modernes
Gebiet begibt, wo sie in ruhigen sachlichen Abhandlungen Fühlung mit der
Gegenwart und dem Publikum gewinnen könnte.

Nun gewiß, es ist immerhin berechtigt, wenn die Wissenschaft sich im
allgemeinen hütet, geistige Erscheinungen der Gegenwart gleich registrieren zu
wollen; sie würde dabei oft irren, oft sogar den Schaffenden schaden. Aber
die Berührung zwischen Literaturwissenschaft und Volk mangelt ja nicht nur
auf modernem Gebiete. Denn wo haben wir die abschließenden Bücher über
Dichter, deren Bedeutung für das Volk längst feststeht? Wo ist die künstlerisch
empfindende Monographie über Clemens Brentano oder Wolfram von Eschenbach,
die man als solides und doch lesbares Buch dem denkenden Laien in die Hand
geben könnte? Die Gegenwart kann sich nicht erschöpfen in nutzloser Wieder¬
holung von Dichierausgaben, Sie werden alle gekauft. Ein Publikum aber
ist auch vorhanden für literarhistorische Darstellung. Wo ist -- abgesehen
von den vielen kurz überblickenden Literaturgeschichten -- ein wissenschaftlich
wertvolles literarhistorisches Buch der letzten zwanzig Jahre, das allgemeines
Aufsehen erregt, von dem eine Lebenskraft wieder ins Volk übergegangen wäre?
Man wird vielleicht einige Bücher über Dichter und Literaturperioden nennen
wollen -- vielleicht aber gerade solche, die von Philosophen oder sogar von
Dichtern geschrieben sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, vermittelt
zwischen Volk und Dichtung nicht die wissenschaftliche Literaturgeschichte; sie, die
unsere nationale Dichtung verwaltet, ist vielmehr ihrer darstellenden Kraft nach
für unser Volk so gut wie tot. Diese Zurückhaltung mag sehr vornehm sein,
mag aus ganz besonders wissenschaftlichen Prinzipien hervorgehen, aber ehren¬
voll ist sie nicht. Freilich, wer will andere Literaturhistoriker aus der Erde
stampfen? Gewissenhaftigkeit, Methode kann geschult und bis zu gewissem
Grade anerzogen werden; die Fähigkeit darzustellen und zu vermitteln aber
bleibt zuletzt doch -- Talent.




Bücher zur neueren deutschen Literatur

wenn sie nicht gerade viel Zweck haben. Und man ist immer wieder geneigt zu
fragen, warum sich nicht die zünftige Literaturgeschichte viel mehr auf modernes
Gebiet begibt, wo sie in ruhigen sachlichen Abhandlungen Fühlung mit der
Gegenwart und dem Publikum gewinnen könnte.

Nun gewiß, es ist immerhin berechtigt, wenn die Wissenschaft sich im
allgemeinen hütet, geistige Erscheinungen der Gegenwart gleich registrieren zu
wollen; sie würde dabei oft irren, oft sogar den Schaffenden schaden. Aber
die Berührung zwischen Literaturwissenschaft und Volk mangelt ja nicht nur
auf modernem Gebiete. Denn wo haben wir die abschließenden Bücher über
Dichter, deren Bedeutung für das Volk längst feststeht? Wo ist die künstlerisch
empfindende Monographie über Clemens Brentano oder Wolfram von Eschenbach,
die man als solides und doch lesbares Buch dem denkenden Laien in die Hand
geben könnte? Die Gegenwart kann sich nicht erschöpfen in nutzloser Wieder¬
holung von Dichierausgaben, Sie werden alle gekauft. Ein Publikum aber
ist auch vorhanden für literarhistorische Darstellung. Wo ist — abgesehen
von den vielen kurz überblickenden Literaturgeschichten — ein wissenschaftlich
wertvolles literarhistorisches Buch der letzten zwanzig Jahre, das allgemeines
Aufsehen erregt, von dem eine Lebenskraft wieder ins Volk übergegangen wäre?
Man wird vielleicht einige Bücher über Dichter und Literaturperioden nennen
wollen — vielleicht aber gerade solche, die von Philosophen oder sogar von
Dichtern geschrieben sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, vermittelt
zwischen Volk und Dichtung nicht die wissenschaftliche Literaturgeschichte; sie, die
unsere nationale Dichtung verwaltet, ist vielmehr ihrer darstellenden Kraft nach
für unser Volk so gut wie tot. Diese Zurückhaltung mag sehr vornehm sein,
mag aus ganz besonders wissenschaftlichen Prinzipien hervorgehen, aber ehren¬
voll ist sie nicht. Freilich, wer will andere Literaturhistoriker aus der Erde
stampfen? Gewissenhaftigkeit, Methode kann geschult und bis zu gewissem
Grade anerzogen werden; die Fähigkeit darzustellen und zu vermitteln aber
bleibt zuletzt doch — Talent.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/152>, abgerufen am 22.12.2024.