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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Wandern

man sein Gesicht vom Lichte wendet, da vergißt man des Himmels Antlitz und
seine wundervolle, reiche, tiefe Sprache, man vergißt Vögel, Blumen, Wolken
und die Düfte der Erde. Nein, auf der Landstraße wächst das Kraut für
unseren Kummer. Auf Straßen, die mit Ahorn, Kirsche, Birne. Eberesche,
Pappel ins Unendliche locken, Hügelauf und ab, an Städten vorüber, über
Flüsse hinweg, durch Wälder, Wiesen, zwischen Gartenmauern.

Deutschland ließ ich, alte kleine Städte, Träume an der Eisenbahn, Dörfer
und Flecken, vergessene Einsamkeiten unseres Jahrhunderts; das Gebirge kam,
die Alpen, und ich stieg hinein, hinauf. Firnlicht blendete, Gletscher hauchten
kalt, die dünnen Wälder des Engadins rochen nach Moos und Pilzen. Und
dann kam die Straße nach Italien hinab. Von Nietzsches Wegen kam ich, -- sein
Haus in Sils Maria steht immer im Schatten --, ich erreichte Maloja am See,
das Paradies der Einsamen. Segantini liegt da begraben in der Höhe, die
er liebte. Und durchs Bergen hinab verließ ich den Norden. Früh, früh muß
man aufbrechen. Kennt ihr die Sonne im Hochgebirge, wenn sie morgens
aufgeht? Die so lieb und sanft und milde ist. daß man ihr ins kleine glänzende
Gesichtlein sehen kann? Sie tut einem nichts, sie strahlt einen ganz sachte an.
Und gerade ging sie über Maloja auf. wie ich den weißen Weg ins Tal hin¬
unterstieg. Blauer Himmel, weiße Wolken, eine große graue über den Bergen
des Julier, in der es regnete; und also stand in der Wolke, naß glühend, ein
Regenbogen. Und wie ich tiefer und tiefer stieg durch das Stufen- und
Terrassenland, war plötzlich die Höhe von Maloja eine schwarze Wand, die hoch
das Tal sperrte.

Und noch einmal ging die Sonne mir darüber auf am hellen Himmel.
Unten war er grün, unten über Chiavenna. Und dann auf halbem Wege, so
plötzlich wie nirgends sonst, ist der Süden da. Promontagne heißt das Dorf,
wo unversehens statt der Kiefer die Zypresse steht, statt der Lärche die Kastanie,
statt der Kartoffel Wein und Pfirsich statt Tanne. Italien tut sich auf, süß
ist die Luft, Musik durchklingt die Sprache. Und hinter Kirchen, Felsen,
Wäldern liegt endlich Chiavenna, die zauberische Stadt, Italien am Fuß der
beschneiten Alpen, singende Mädchen und dunkle Burschen, heiteres Leben in den
Straßen, alle Wechselfülle des Daseins vor den Haustüren, malerische Brücken
über dem schäumenden Bach, Katzen auf allen Schwellen und gute Blicke für
den Wanderer. Die einzige Riesenmauer eines Palastes dräut in die Gassen
hinein, ein Garten tut sich auf wie ein Blick in Sizilien, Rosen, Lorbeer,
Oleander und Viburnum. Und schon pfeift ein Zug; die Eisenbahn ist da,
die Postkutsche wird abgelöst, der Wanderer nimmt ein Billet, denn die Straße
ist traurig öd, und nach einer Stunde öffnet sich der See von Collao.

Arm, nur im Besitz eines tapferen Herzens, wandert es sich am besten.
Die Menschen sind gut, sie geben gern einem, der mit Lächeln bittet, eine Mahl¬
zeit. Oder man leistet ihnen eine kleine Arbeit, man repariert die Uhr. die mit
der Zeit nicht mitgehen will, man zeichnet ihnen schnell ihr Haus oder das


Wandern

man sein Gesicht vom Lichte wendet, da vergißt man des Himmels Antlitz und
seine wundervolle, reiche, tiefe Sprache, man vergißt Vögel, Blumen, Wolken
und die Düfte der Erde. Nein, auf der Landstraße wächst das Kraut für
unseren Kummer. Auf Straßen, die mit Ahorn, Kirsche, Birne. Eberesche,
Pappel ins Unendliche locken, Hügelauf und ab, an Städten vorüber, über
Flüsse hinweg, durch Wälder, Wiesen, zwischen Gartenmauern.

Deutschland ließ ich, alte kleine Städte, Träume an der Eisenbahn, Dörfer
und Flecken, vergessene Einsamkeiten unseres Jahrhunderts; das Gebirge kam,
die Alpen, und ich stieg hinein, hinauf. Firnlicht blendete, Gletscher hauchten
kalt, die dünnen Wälder des Engadins rochen nach Moos und Pilzen. Und
dann kam die Straße nach Italien hinab. Von Nietzsches Wegen kam ich, — sein
Haus in Sils Maria steht immer im Schatten —, ich erreichte Maloja am See,
das Paradies der Einsamen. Segantini liegt da begraben in der Höhe, die
er liebte. Und durchs Bergen hinab verließ ich den Norden. Früh, früh muß
man aufbrechen. Kennt ihr die Sonne im Hochgebirge, wenn sie morgens
aufgeht? Die so lieb und sanft und milde ist. daß man ihr ins kleine glänzende
Gesichtlein sehen kann? Sie tut einem nichts, sie strahlt einen ganz sachte an.
Und gerade ging sie über Maloja auf. wie ich den weißen Weg ins Tal hin¬
unterstieg. Blauer Himmel, weiße Wolken, eine große graue über den Bergen
des Julier, in der es regnete; und also stand in der Wolke, naß glühend, ein
Regenbogen. Und wie ich tiefer und tiefer stieg durch das Stufen- und
Terrassenland, war plötzlich die Höhe von Maloja eine schwarze Wand, die hoch
das Tal sperrte.

Und noch einmal ging die Sonne mir darüber auf am hellen Himmel.
Unten war er grün, unten über Chiavenna. Und dann auf halbem Wege, so
plötzlich wie nirgends sonst, ist der Süden da. Promontagne heißt das Dorf,
wo unversehens statt der Kiefer die Zypresse steht, statt der Lärche die Kastanie,
statt der Kartoffel Wein und Pfirsich statt Tanne. Italien tut sich auf, süß
ist die Luft, Musik durchklingt die Sprache. Und hinter Kirchen, Felsen,
Wäldern liegt endlich Chiavenna, die zauberische Stadt, Italien am Fuß der
beschneiten Alpen, singende Mädchen und dunkle Burschen, heiteres Leben in den
Straßen, alle Wechselfülle des Daseins vor den Haustüren, malerische Brücken
über dem schäumenden Bach, Katzen auf allen Schwellen und gute Blicke für
den Wanderer. Die einzige Riesenmauer eines Palastes dräut in die Gassen
hinein, ein Garten tut sich auf wie ein Blick in Sizilien, Rosen, Lorbeer,
Oleander und Viburnum. Und schon pfeift ein Zug; die Eisenbahn ist da,
die Postkutsche wird abgelöst, der Wanderer nimmt ein Billet, denn die Straße
ist traurig öd, und nach einer Stunde öffnet sich der See von Collao.

Arm, nur im Besitz eines tapferen Herzens, wandert es sich am besten.
Die Menschen sind gut, sie geben gern einem, der mit Lächeln bittet, eine Mahl¬
zeit. Oder man leistet ihnen eine kleine Arbeit, man repariert die Uhr. die mit
der Zeit nicht mitgehen will, man zeichnet ihnen schnell ihr Haus oder das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/142>, abgerufen am 27.07.2024.