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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Aarl Goedeke

um wieder "Mensch unter Menschen" zu sein, so ließ er nun 1849 seine "Elf
Bücher Deutscher Dichtung. Von Sebastian Braut (1500) bis auf die Gegen¬
wart. Aus den Quellen" mit der Widmung an die Brüder Grimm erscheinen.
Er verfolgte mit dem Werke das Ziel, "die deutsche Dichtung vom Ausgange
des sinkenden Mittelalters bis auf die Gegenwart zu begleiten und in selbst¬
redender Geschichte aus den Quellen zu schildern, die Zeit durch ihre bezeichnendsten
Dichter und diese durch ihre eigentümlichsten Dichtungen darzustellen." Das
Werk fand eine Ergänzung nach rückwärts durch die 1852 bis 1854 erschienene
"Deutsche Dichtung im Mittelalter", wiederum in elf Büchern, denen sich 1871
in der zweiten Auflage ein von H. Qsterlen herausgegebenes zwölftes, die nieder¬
deutsch-mittelalterliche Dichtung enthaltendes, anschloß. Die Zusammenstellung
des handschriftlichen Materials der einzelnen Dichtungen verleiht den beiden
Werken, obschon die litemrgeschichllichen Bemerkungen heute bereits zum Teil
recht veraltet sind, einen besonderen Wert. Sie stellen vor allem wesentliche
Vorarbeiten zu Goedekes Haupt- und Lebenswerk, dem "Grundriß der Ge¬
schichte der deutschen Dichtung aus den Quellen", dar. Im Mai 1355
war er nach Celle übergesiedelt, und hier hatte er das gewaltige Werk
begonnen, dessen weitschichtiges Material ihn 1859 nötigte, seinen Wohnsitz
Celle mit Göttingen zu vertauschen, um dort in ausgiebigster Weise die reichen
Bestände der Universitätsbibliothek benutzen zu können. In den Jahren 1856 bis
1859 erschienen die ersten zwei Bände, 1862 bis 1881 der dritte Band des "Grund¬
risses". Julius Kochs "Compendium der deutschen Literaturgeschichte" (1790)
bot Goedeke das Vorbild für sein Unternehmen. "Wie er, strebte auch ich nach
innerer Vollständigkeit und äußerer Reichhaltigkeit. Seine Arbeit stand mir als
Muster vor Augen." Goedekes Absicht ging nicht dahin, in abgeschlossener
Darstellung eine zusammenhängende Entwicklung der deutschen Literatur von
ihren Anfängen bis auf die Gegenwart zu geben. Er hat vielmehr in
möglichster Vollständigkeit die Quellen zusammengetragen, das ihm zugängliche
bibliographische Material verzeichnet und durch den Text die literar-
geschichtlichen Notizen verknüpft. Sein Werk bietet also sozusagen die feste
Grundlage und Vorarbeit zu einer jeden zusammenhängenden Darstellung der
Geschichte der deutschen Literatur. Es umfaßte die deutsche Dichtung bis
1830, also etwa bis zu Goethes Tode. Zeigte das mittelalterliche Quellen¬
material auch noch bedeutende Lücken, so wurden doch die Grundlagen der
neueren Literatur, vor allem des sechzehnten Jahrhunderts, in einzigartiger
Fülle erschlossen. Aus den Arbeiten zu diesem Werke entsprang die in Gemein¬
schaft mit Tittmann geschaffene "Bibliothek deutscher Dichter des sechzehnten
Jahrhunderts" (1867 ff.), der sich ein wenig später die "Bibliothek deutscher
Dichter des siebzehnten Jahrhunderts" (1869 ff.) anschloß. Die äußere Aner¬
kennung für Goedekes großartige wissenschaftliche Leistungen war inzwischen nicht
ausgeblieben. Hatte ihn bereits 1862 die philosophische Fakultät der Universität
Tübingen zum Ehrendoktor ernannt, so übertrug ihm 1873 der preußische


Aarl Goedeke

um wieder „Mensch unter Menschen" zu sein, so ließ er nun 1849 seine „Elf
Bücher Deutscher Dichtung. Von Sebastian Braut (1500) bis auf die Gegen¬
wart. Aus den Quellen" mit der Widmung an die Brüder Grimm erscheinen.
Er verfolgte mit dem Werke das Ziel, „die deutsche Dichtung vom Ausgange
des sinkenden Mittelalters bis auf die Gegenwart zu begleiten und in selbst¬
redender Geschichte aus den Quellen zu schildern, die Zeit durch ihre bezeichnendsten
Dichter und diese durch ihre eigentümlichsten Dichtungen darzustellen." Das
Werk fand eine Ergänzung nach rückwärts durch die 1852 bis 1854 erschienene
„Deutsche Dichtung im Mittelalter", wiederum in elf Büchern, denen sich 1871
in der zweiten Auflage ein von H. Qsterlen herausgegebenes zwölftes, die nieder¬
deutsch-mittelalterliche Dichtung enthaltendes, anschloß. Die Zusammenstellung
des handschriftlichen Materials der einzelnen Dichtungen verleiht den beiden
Werken, obschon die litemrgeschichllichen Bemerkungen heute bereits zum Teil
recht veraltet sind, einen besonderen Wert. Sie stellen vor allem wesentliche
Vorarbeiten zu Goedekes Haupt- und Lebenswerk, dem „Grundriß der Ge¬
schichte der deutschen Dichtung aus den Quellen", dar. Im Mai 1355
war er nach Celle übergesiedelt, und hier hatte er das gewaltige Werk
begonnen, dessen weitschichtiges Material ihn 1859 nötigte, seinen Wohnsitz
Celle mit Göttingen zu vertauschen, um dort in ausgiebigster Weise die reichen
Bestände der Universitätsbibliothek benutzen zu können. In den Jahren 1856 bis
1859 erschienen die ersten zwei Bände, 1862 bis 1881 der dritte Band des „Grund¬
risses". Julius Kochs „Compendium der deutschen Literaturgeschichte" (1790)
bot Goedeke das Vorbild für sein Unternehmen. „Wie er, strebte auch ich nach
innerer Vollständigkeit und äußerer Reichhaltigkeit. Seine Arbeit stand mir als
Muster vor Augen." Goedekes Absicht ging nicht dahin, in abgeschlossener
Darstellung eine zusammenhängende Entwicklung der deutschen Literatur von
ihren Anfängen bis auf die Gegenwart zu geben. Er hat vielmehr in
möglichster Vollständigkeit die Quellen zusammengetragen, das ihm zugängliche
bibliographische Material verzeichnet und durch den Text die literar-
geschichtlichen Notizen verknüpft. Sein Werk bietet also sozusagen die feste
Grundlage und Vorarbeit zu einer jeden zusammenhängenden Darstellung der
Geschichte der deutschen Literatur. Es umfaßte die deutsche Dichtung bis
1830, also etwa bis zu Goethes Tode. Zeigte das mittelalterliche Quellen¬
material auch noch bedeutende Lücken, so wurden doch die Grundlagen der
neueren Literatur, vor allem des sechzehnten Jahrhunderts, in einzigartiger
Fülle erschlossen. Aus den Arbeiten zu diesem Werke entsprang die in Gemein¬
schaft mit Tittmann geschaffene „Bibliothek deutscher Dichter des sechzehnten
Jahrhunderts" (1867 ff.), der sich ein wenig später die „Bibliothek deutscher
Dichter des siebzehnten Jahrhunderts" (1869 ff.) anschloß. Die äußere Aner¬
kennung für Goedekes großartige wissenschaftliche Leistungen war inzwischen nicht
ausgeblieben. Hatte ihn bereits 1862 die philosophische Fakultät der Universität
Tübingen zum Ehrendoktor ernannt, so übertrug ihm 1873 der preußische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/98>, abgerufen am 22.06.2024.