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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaszgebliches

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treten darin schon die besonderen Schwierig¬
keiten hervor und die eigenartigen militäri¬
schen Aufgaben, die Osterreich später in der
bedeutenderen und gefährlicheren Insurrektion
von Bosnien und Herzogowina zu bewältigen
hatte. Auch Politisch gesehen, unter diese
Ereignisse an wie das Vorspiel zu den kom¬
menden Verwicklungen in den Nachbar¬
gebieten. Die Bocchesen fanden an Monte¬
negro Rückhalt. Wie weit hier zielbewußte
panslawistische Agitation im Spiele war, Ru߬
land etwa anspornend hinter den Kulissen
stand, scheint mir Sosnosky nicht hinreichend
geklärt zu haben. Aber seiner Verurteilung
der damaligen, höchst schwächlichen Wiener
Regierungspolitik muß man zustimmen.

Der Verfasser hält auch gegenüber der
Andrassyschen Politik an einzelnen Stellen
mit Tadel nicht zurück. Die Kritik ist durch¬
aus angebracht; denn der Biograph dieses
Staatsmannes, Eduard von Wertheimer, ist
geneigt, in ihm nur das Vollkommene zu
sehen, er kann sich seinen besonderen ungari¬
schen Stimmungseindrücken nicht ganz ent¬
ziehen und setzt die Psychologische Sonde nicht
fein und tief genug an. Mir scheint indes,
das; die Schatten, die in dem Wertheimer-
schen Buch fehlen, bei Sosnosky wieder zu
stark hervortreten, und seine Urteile über
Andrassys Leitung des Auswärtigen dürften
doch nicht ganz einheitlich abgewogen sein.
Allerdings leidet Andrassys Politik an einer
gewissen Zwiespältigkeit, sie hat unklare Mo¬
mente, es bestehen Widersprüche zwischen
seiner schonenden Taktik gegenüber der Türkei
und dem Wunsch, eine aktive Politik zu
treiben. Als widersinnig, wie Sosnosky ein¬
mal behauptet, kann man sie denn doch nicht
bezeichnen. Einen Eroberungskrieg um Bos¬
nien und Herzegowina wollte der Minister
nicht führen, sonst Hütte er sie im gemein¬
samen Krieg mit Rußland gegen die Türkei
holen können. Er zog es also vor zu
warten, bis ihm die beiden Provinzen als
reife Frucht zufielen. Die Anklage, daß diese
verhältnismäßige Passivität gleichbedeu¬
tend sei mit staatsmännischer Impotenz
schießt weit über das Ziel hinaus. Es war
allerdings zu optimistisch gerechnet, wenn
Andrassy beim Ausbruch der böhmischen Wirren
auf eine Beschwichtigung durch die Türkei

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hoffte, aber den Versuch, die Türkei vorerst
auf ein Reformprogramm zu verpflichten,
wird man trotzdem gelten lassen müssen.
Sosnosky hat augenscheinlich die Schwierig¬
keiten der allgemeinen Weltlage nicht hoch
genug eingeschätzt; sie und insbesondere der
neu sich erhebende Antagonismus zwischen
Rußland und Osterreich, haben Andrassys
vorsichtig zögernde Haltung zweifellos mit¬
bestimmt, selbstverständlich auch, wie Sosnosky
selber andeutet, die Überlegung, daß die
damals herrschenden Parlamentarischen Ma¬
joritäten einen: Zuwachs slawischer Elemente
abhold waren.

Es ist hier wie auch sonst deutlich, daß
Sosnosky mit seinen historischen wie mit seinen
Persönlichen Sympathien auf der Seite steht,
die den Großmachtscharakter der Habsburgi¬
schen Monarchie am energischsten zum Aus¬
druck bringt. Er rügt daher auch mit Recht
die Verspätung der militärischen Besitznahme
durch Österreich, die sich dann bei der Er¬
hebung der böhmischen und herzegowinischen
Bevölkerung bitter gerächt hat. Diese kriegs¬
geschichtlichen Partien werden auf Grund der
Fachliteratur sorgfältig und eingehend be¬
handelt. In dem zweiten Band des Werkes,
der hoffentlich bald erscheint, wird die poli¬
tische Gesinnung des Verfassers, seine Stellung
zu den Fragen der Gegenwart Wohl schärfer
hervortreten. Die Richtung ist freilich schon
in dem vorliegenden Teil zu erkennen, so
wenn mit bitteren Worten die leisetretende
Hofratspolitik beklagt wird, die in Österreich
endemisch geworden ist. Sosnosky hat in
seinen bisherigen Ausführungen die diplo¬
matischen Verhandlungen den militärischen
Vorgängen untergeordnet. Die jüngsten Balkan¬
ereignisse haben seine offenbar angeborene
Abneigung gegen das Handwerk der Diplo¬
maten verstärkt. Man kann nun mit dem Ver¬
fasser der Meinung sein, daß letzten Grundes
die Waffen, eben Machtentschsidungen die Ge¬
schicke Europas bestimmen. Und man kann
von der lebenschaffenden, von der schöpferischen
Bedeutung des Krieges durchaus überzeugt
sein. Indes, die unliebsamen Überraschungen,
die beim Ausbruch und während der jüngsten
Balkankämpfe einige Vertreter der europäischen
Kabinette erfahren haben, berechtigen doch
noch nicht dazu, das Kind mit dem Bade

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Maßgebliches und Unmaszgebliches

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treten darin schon die besonderen Schwierig¬
keiten hervor und die eigenartigen militäri¬
schen Aufgaben, die Osterreich später in der
bedeutenderen und gefährlicheren Insurrektion
von Bosnien und Herzogowina zu bewältigen
hatte. Auch Politisch gesehen, unter diese
Ereignisse an wie das Vorspiel zu den kom¬
menden Verwicklungen in den Nachbar¬
gebieten. Die Bocchesen fanden an Monte¬
negro Rückhalt. Wie weit hier zielbewußte
panslawistische Agitation im Spiele war, Ru߬
land etwa anspornend hinter den Kulissen
stand, scheint mir Sosnosky nicht hinreichend
geklärt zu haben. Aber seiner Verurteilung
der damaligen, höchst schwächlichen Wiener
Regierungspolitik muß man zustimmen.

Der Verfasser hält auch gegenüber der
Andrassyschen Politik an einzelnen Stellen
mit Tadel nicht zurück. Die Kritik ist durch¬
aus angebracht; denn der Biograph dieses
Staatsmannes, Eduard von Wertheimer, ist
geneigt, in ihm nur das Vollkommene zu
sehen, er kann sich seinen besonderen ungari¬
schen Stimmungseindrücken nicht ganz ent¬
ziehen und setzt die Psychologische Sonde nicht
fein und tief genug an. Mir scheint indes,
das; die Schatten, die in dem Wertheimer-
schen Buch fehlen, bei Sosnosky wieder zu
stark hervortreten, und seine Urteile über
Andrassys Leitung des Auswärtigen dürften
doch nicht ganz einheitlich abgewogen sein.
Allerdings leidet Andrassys Politik an einer
gewissen Zwiespältigkeit, sie hat unklare Mo¬
mente, es bestehen Widersprüche zwischen
seiner schonenden Taktik gegenüber der Türkei
und dem Wunsch, eine aktive Politik zu
treiben. Als widersinnig, wie Sosnosky ein¬
mal behauptet, kann man sie denn doch nicht
bezeichnen. Einen Eroberungskrieg um Bos¬
nien und Herzegowina wollte der Minister
nicht führen, sonst Hütte er sie im gemein¬
samen Krieg mit Rußland gegen die Türkei
holen können. Er zog es also vor zu
warten, bis ihm die beiden Provinzen als
reife Frucht zufielen. Die Anklage, daß diese
verhältnismäßige Passivität gleichbedeu¬
tend sei mit staatsmännischer Impotenz
schießt weit über das Ziel hinaus. Es war
allerdings zu optimistisch gerechnet, wenn
Andrassy beim Ausbruch der böhmischen Wirren
auf eine Beschwichtigung durch die Türkei

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hoffte, aber den Versuch, die Türkei vorerst
auf ein Reformprogramm zu verpflichten,
wird man trotzdem gelten lassen müssen.
Sosnosky hat augenscheinlich die Schwierig¬
keiten der allgemeinen Weltlage nicht hoch
genug eingeschätzt; sie und insbesondere der
neu sich erhebende Antagonismus zwischen
Rußland und Osterreich, haben Andrassys
vorsichtig zögernde Haltung zweifellos mit¬
bestimmt, selbstverständlich auch, wie Sosnosky
selber andeutet, die Überlegung, daß die
damals herrschenden Parlamentarischen Ma¬
joritäten einen: Zuwachs slawischer Elemente
abhold waren.

Es ist hier wie auch sonst deutlich, daß
Sosnosky mit seinen historischen wie mit seinen
Persönlichen Sympathien auf der Seite steht,
die den Großmachtscharakter der Habsburgi¬
schen Monarchie am energischsten zum Aus¬
druck bringt. Er rügt daher auch mit Recht
die Verspätung der militärischen Besitznahme
durch Österreich, die sich dann bei der Er¬
hebung der böhmischen und herzegowinischen
Bevölkerung bitter gerächt hat. Diese kriegs¬
geschichtlichen Partien werden auf Grund der
Fachliteratur sorgfältig und eingehend be¬
handelt. In dem zweiten Band des Werkes,
der hoffentlich bald erscheint, wird die poli¬
tische Gesinnung des Verfassers, seine Stellung
zu den Fragen der Gegenwart Wohl schärfer
hervortreten. Die Richtung ist freilich schon
in dem vorliegenden Teil zu erkennen, so
wenn mit bitteren Worten die leisetretende
Hofratspolitik beklagt wird, die in Österreich
endemisch geworden ist. Sosnosky hat in
seinen bisherigen Ausführungen die diplo¬
matischen Verhandlungen den militärischen
Vorgängen untergeordnet. Die jüngsten Balkan¬
ereignisse haben seine offenbar angeborene
Abneigung gegen das Handwerk der Diplo¬
maten verstärkt. Man kann nun mit dem Ver¬
fasser der Meinung sein, daß letzten Grundes
die Waffen, eben Machtentschsidungen die Ge¬
schicke Europas bestimmen. Und man kann
von der lebenschaffenden, von der schöpferischen
Bedeutung des Krieges durchaus überzeugt
sein. Indes, die unliebsamen Überraschungen,
die beim Ausbruch und während der jüngsten
Balkankämpfe einige Vertreter der europäischen
Kabinette erfahren haben, berechtigen doch
noch nicht dazu, das Kind mit dem Bade

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[0587] Maßgebliches und Unmaszgebliches treten darin schon die besonderen Schwierig¬ keiten hervor und die eigenartigen militäri¬ schen Aufgaben, die Osterreich später in der bedeutenderen und gefährlicheren Insurrektion von Bosnien und Herzogowina zu bewältigen hatte. Auch Politisch gesehen, unter diese Ereignisse an wie das Vorspiel zu den kom¬ menden Verwicklungen in den Nachbar¬ gebieten. Die Bocchesen fanden an Monte¬ negro Rückhalt. Wie weit hier zielbewußte panslawistische Agitation im Spiele war, Ru߬ land etwa anspornend hinter den Kulissen stand, scheint mir Sosnosky nicht hinreichend geklärt zu haben. Aber seiner Verurteilung der damaligen, höchst schwächlichen Wiener Regierungspolitik muß man zustimmen. Der Verfasser hält auch gegenüber der Andrassyschen Politik an einzelnen Stellen mit Tadel nicht zurück. Die Kritik ist durch¬ aus angebracht; denn der Biograph dieses Staatsmannes, Eduard von Wertheimer, ist geneigt, in ihm nur das Vollkommene zu sehen, er kann sich seinen besonderen ungari¬ schen Stimmungseindrücken nicht ganz ent¬ ziehen und setzt die Psychologische Sonde nicht fein und tief genug an. Mir scheint indes, das; die Schatten, die in dem Wertheimer- schen Buch fehlen, bei Sosnosky wieder zu stark hervortreten, und seine Urteile über Andrassys Leitung des Auswärtigen dürften doch nicht ganz einheitlich abgewogen sein. Allerdings leidet Andrassys Politik an einer gewissen Zwiespältigkeit, sie hat unklare Mo¬ mente, es bestehen Widersprüche zwischen seiner schonenden Taktik gegenüber der Türkei und dem Wunsch, eine aktive Politik zu treiben. Als widersinnig, wie Sosnosky ein¬ mal behauptet, kann man sie denn doch nicht bezeichnen. Einen Eroberungskrieg um Bos¬ nien und Herzegowina wollte der Minister nicht führen, sonst Hütte er sie im gemein¬ samen Krieg mit Rußland gegen die Türkei holen können. Er zog es also vor zu warten, bis ihm die beiden Provinzen als reife Frucht zufielen. Die Anklage, daß diese verhältnismäßige Passivität gleichbedeu¬ tend sei mit staatsmännischer Impotenz schießt weit über das Ziel hinaus. Es war allerdings zu optimistisch gerechnet, wenn Andrassy beim Ausbruch der böhmischen Wirren auf eine Beschwichtigung durch die Türkei hoffte, aber den Versuch, die Türkei vorerst auf ein Reformprogramm zu verpflichten, wird man trotzdem gelten lassen müssen. Sosnosky hat augenscheinlich die Schwierig¬ keiten der allgemeinen Weltlage nicht hoch genug eingeschätzt; sie und insbesondere der neu sich erhebende Antagonismus zwischen Rußland und Osterreich, haben Andrassys vorsichtig zögernde Haltung zweifellos mit¬ bestimmt, selbstverständlich auch, wie Sosnosky selber andeutet, die Überlegung, daß die damals herrschenden Parlamentarischen Ma¬ joritäten einen: Zuwachs slawischer Elemente abhold waren. Es ist hier wie auch sonst deutlich, daß Sosnosky mit seinen historischen wie mit seinen Persönlichen Sympathien auf der Seite steht, die den Großmachtscharakter der Habsburgi¬ schen Monarchie am energischsten zum Aus¬ druck bringt. Er rügt daher auch mit Recht die Verspätung der militärischen Besitznahme durch Österreich, die sich dann bei der Er¬ hebung der böhmischen und herzegowinischen Bevölkerung bitter gerächt hat. Diese kriegs¬ geschichtlichen Partien werden auf Grund der Fachliteratur sorgfältig und eingehend be¬ handelt. In dem zweiten Band des Werkes, der hoffentlich bald erscheint, wird die poli¬ tische Gesinnung des Verfassers, seine Stellung zu den Fragen der Gegenwart Wohl schärfer hervortreten. Die Richtung ist freilich schon in dem vorliegenden Teil zu erkennen, so wenn mit bitteren Worten die leisetretende Hofratspolitik beklagt wird, die in Österreich endemisch geworden ist. Sosnosky hat in seinen bisherigen Ausführungen die diplo¬ matischen Verhandlungen den militärischen Vorgängen untergeordnet. Die jüngsten Balkan¬ ereignisse haben seine offenbar angeborene Abneigung gegen das Handwerk der Diplo¬ maten verstärkt. Man kann nun mit dem Ver¬ fasser der Meinung sein, daß letzten Grundes die Waffen, eben Machtentschsidungen die Ge¬ schicke Europas bestimmen. Und man kann von der lebenschaffenden, von der schöpferischen Bedeutung des Krieges durchaus überzeugt sein. Indes, die unliebsamen Überraschungen, die beim Ausbruch und während der jüngsten Balkankämpfe einige Vertreter der europäischen Kabinette erfahren haben, berechtigen doch noch nicht dazu, das Kind mit dem Bade

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/587>, abgerufen am 27.06.2024.