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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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bewußt will, z. B. Hebbel gegenüber, während er sonst maßlos einseitig ist --
man vergleiche seine tolle Äußerung über Rich. Voß (III, 609) --. und zwar stets
für die Gegenwart, was fast schon zum Prinzip bei ihm geworden sein dürfte.
Er versteht die Literatur unserer Zeit nicht, weil er sie nicht vorurteilslos,
sondern nur im Sinne seiner Tendenzen, zum Zwecke seiner Parteiziele und
deren Erreichen anschauen kann.

Es ist zweifellos ein guter Grundsatz, daß die Vergangenheit aus der
Gegenwart erhellt werden soll. Scherer stellte ihn auf und befolgte ihn.
Wirklich allseitig fruchtbar kann die Gegenwart als Hilfsmittel für das Ver¬
gangene aber nur werden, wenn sie in vorurteilsloser Gesinnung und Un¬
befangenheit erlebt und verstanden wird. Bartels betrachtet sich nun als
Vertreter der Gegenwart; er spricht stets von "wir heute" (z, B. I, 210) und
charakterisiert "unsere" Stellung im Vergleich mit den Stellungen, die andere
Epochen zu gewissen Erscheinungen einnehmen. seinen Tendenzen gemäß aber
können wir ihn nicht als Vertreter sür die ganze Gegenwart anerkennen, son¬
dern nur für einen Teil, eine Partei der Gegenwart, über die er sich leider nur
hin und wieder in seinen Äußerungen "Wir heute . . ." emporhebt. Vor allem
schon deswegen nicht, weil er das Mittel "Gegenwart" zur Erkenntnis der
Vergangenheit nicht allseitig erkennt, sondern nur einseitig. Er würde
in das Wesen unserer Zeit objektiver eindringen, wenn er den Grund¬
satz für alle gerechte Beurteilung der Gegenwartsliteratur befolgte: die
Privat- und Lebensverhältnisse, das äußerlich Biographische des leben¬
den Autors haben den zeitgenössischen Literaturwissenschaftler nirgends
zu kümmern, sondern nur das Schaffen des Autors, seine Leistung und sein
Werk. Dieser Grundsatz allein verhütet jede Beeinflussung des Urteils durch
Anekdoten, literarischen Klatsch, Cliquenwesen, verhütet jede literarische Vetter-
michelei, die auf der Rechten wie der Linken der Gegenwartsliteratur gleich
ausgebreitet und gang und gäbe ist. Solange ein Autor lebt, hat das geistige
Bild seiner Persönlichkeit ganz aus seinen Werken zu erwachsen. Tritt dazu
biographisches Material, so darf dies nur insoweit in Betracht gezogen werden,
als es hilft, das Werk zu verstehen und zu erleben, nicht aber zu beurteilen,
denn objektives, d. h. allseitig vorhandenes biographisches Material darf allein
für das Urteil zusammen mit dein ganzen Lebenswerk in Betracht kommen
und auch dann noch mit bestimmten geistigen Vorbehalten. Biographisches Material
erreicht aber erst, wenn der Autor tot und sein Lebenswerk abgeschlossen ist,
objektiven Wert, vorher niemals. Wir können der Kunst eines Gerhart Haupt¬
mann, seiner geistigen Persönlichkeit nur gerecht werden, wenn wir uns von
allen: biographischen Detail emanzipieren, ja die höchste Gerechtigkeit, das
absolute Werturteil, die universale Stellungnahme erreichen wir erst
nach dem Tode des Dichters, nachdem es möglich ist, seine Persönlichkeit,
sein Werk und den Geist seiner Zeit als eine Einheit zu sehen und zu
verstehen.


bewußt will, z. B. Hebbel gegenüber, während er sonst maßlos einseitig ist —
man vergleiche seine tolle Äußerung über Rich. Voß (III, 609) —. und zwar stets
für die Gegenwart, was fast schon zum Prinzip bei ihm geworden sein dürfte.
Er versteht die Literatur unserer Zeit nicht, weil er sie nicht vorurteilslos,
sondern nur im Sinne seiner Tendenzen, zum Zwecke seiner Parteiziele und
deren Erreichen anschauen kann.

Es ist zweifellos ein guter Grundsatz, daß die Vergangenheit aus der
Gegenwart erhellt werden soll. Scherer stellte ihn auf und befolgte ihn.
Wirklich allseitig fruchtbar kann die Gegenwart als Hilfsmittel für das Ver¬
gangene aber nur werden, wenn sie in vorurteilsloser Gesinnung und Un¬
befangenheit erlebt und verstanden wird. Bartels betrachtet sich nun als
Vertreter der Gegenwart; er spricht stets von „wir heute" (z, B. I, 210) und
charakterisiert „unsere" Stellung im Vergleich mit den Stellungen, die andere
Epochen zu gewissen Erscheinungen einnehmen. seinen Tendenzen gemäß aber
können wir ihn nicht als Vertreter sür die ganze Gegenwart anerkennen, son¬
dern nur für einen Teil, eine Partei der Gegenwart, über die er sich leider nur
hin und wieder in seinen Äußerungen „Wir heute . . ." emporhebt. Vor allem
schon deswegen nicht, weil er das Mittel „Gegenwart" zur Erkenntnis der
Vergangenheit nicht allseitig erkennt, sondern nur einseitig. Er würde
in das Wesen unserer Zeit objektiver eindringen, wenn er den Grund¬
satz für alle gerechte Beurteilung der Gegenwartsliteratur befolgte: die
Privat- und Lebensverhältnisse, das äußerlich Biographische des leben¬
den Autors haben den zeitgenössischen Literaturwissenschaftler nirgends
zu kümmern, sondern nur das Schaffen des Autors, seine Leistung und sein
Werk. Dieser Grundsatz allein verhütet jede Beeinflussung des Urteils durch
Anekdoten, literarischen Klatsch, Cliquenwesen, verhütet jede literarische Vetter-
michelei, die auf der Rechten wie der Linken der Gegenwartsliteratur gleich
ausgebreitet und gang und gäbe ist. Solange ein Autor lebt, hat das geistige
Bild seiner Persönlichkeit ganz aus seinen Werken zu erwachsen. Tritt dazu
biographisches Material, so darf dies nur insoweit in Betracht gezogen werden,
als es hilft, das Werk zu verstehen und zu erleben, nicht aber zu beurteilen,
denn objektives, d. h. allseitig vorhandenes biographisches Material darf allein
für das Urteil zusammen mit dein ganzen Lebenswerk in Betracht kommen
und auch dann noch mit bestimmten geistigen Vorbehalten. Biographisches Material
erreicht aber erst, wenn der Autor tot und sein Lebenswerk abgeschlossen ist,
objektiven Wert, vorher niemals. Wir können der Kunst eines Gerhart Haupt¬
mann, seiner geistigen Persönlichkeit nur gerecht werden, wenn wir uns von
allen: biographischen Detail emanzipieren, ja die höchste Gerechtigkeit, das
absolute Werturteil, die universale Stellungnahme erreichen wir erst
nach dem Tode des Dichters, nachdem es möglich ist, seine Persönlichkeit,
sein Werk und den Geist seiner Zeit als eine Einheit zu sehen und zu
verstehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/562>, abgerufen am 25.07.2024.