Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hoetzsch: Rußland

Er gibt kein Forschungsergebnis, eher schon einen Rechenschaftsbericht, eine
Inventur über das Material, das er persönlich während vorübergehender
Aufenthalte in einzelnen Orten Rußlands, vor allen Dingen in Petersburg,
und in den Baltischen Provinzen gefunden hat.

Angesichts der Art des Buches, das auch eine Sammlung von Aufsätzen
genannt werden könnte, weil die zwölf Kapitel mehr aneinander gereiht als mit¬
einander verbunden sind, ist es schwer seinen Inhalt darzustellen, man müßte
denn gerade das Inhaltsverzeichnis abschreiben; damit aber würde man der
Arbeit des anerkannten Berliner Universitätsprofessors nicht gerecht werden. Ich
gehe darum von der Aufgabenstellung aus und erlaube mir eine Ergänzung in
die Darstellung von Hoetzsch hineinzufügen, die dem Gedankengange des Autors
entspricht.




Hoetzsch selbst hat sich die Aufgabe gestellt, eine Einführung auf Grund
der Geschichte Rußlands von 1904 bis 1912 zu geben.

Was müssen wir von einer Einführung in ein Wissensgebiet verlangen,
was insbesondere von einer Einführung in russische Verhältnisse?

Eine Einführung in ein Wissensgebiet geben heißt: das bis zu einem
gewissen Zeitpunkt dafür vorhandene Material, in unserem Falle das literarische
und die zugänglichen Akten von Regierung und Parteien, kritisch darstellen.
Bei einer Einführung in die Verhältnisse eines sich mitten in Verfassungs¬
kämpfen befindenden Staates wird sich eine solche Einführung zweckmäßig darauf
beschränken, ein Momentbild von den sich widerstreitenden Gedanken, Wünschen,
Plänen, Programmen und Forderungen zu geben. Dies Bild kann durch die
Darstellung der Geschichte der momentanen politischen und wirtschaftlichen und
sozialen Kämpfe mit ihren Ausstrahlungen auf alles Leben im Zusammenhang
mit einer geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Ideen und Parteien erläutert
werden. Der geehrte Autor hat versucht, seine Aufgabe auf diesem Wege zu
lösen, sie im Vorwort aber beschränkt durch den Hinweis, daß er von
Studien in der Verfassungsgeschichte ausgehe.

Das beweist das Kapitel "Erbteil der Vergangenheit". Umgekehrt an Hinzes
Auffassungen über Staatenbildung zieht er hier eine interessante Parallele
zwischen demi Werden Preußens und Rußlands und zeigt die historischen Vor¬
aussetzungen für die Spannungen, die in der Konstruktion des heutigen russischen
Staatsbaues wirken. Das erste Kapitel wäre, weiter ausgeführt und dadurch
leichter lesbar, der wertvolle Bestandteil eines umfangreicheren Werkes über Nu߬
land geworden. Das scheint dem Autor aber erst zum Bewußtsein gekommen
zu sein, als er im zweiten Kapitel an die Epoche der russischen Geschichte kam,
die durch die Regierung Alexanders des Zweiten bezeichnet wird. Er wird, so
denke ich mir, plötzlich überrascht vor der Tatsache gestanden haben, daß diese
Epoche, die das reichste Material für die Verfassungskämpfe und damit für die


Hoetzsch: Rußland

Er gibt kein Forschungsergebnis, eher schon einen Rechenschaftsbericht, eine
Inventur über das Material, das er persönlich während vorübergehender
Aufenthalte in einzelnen Orten Rußlands, vor allen Dingen in Petersburg,
und in den Baltischen Provinzen gefunden hat.

Angesichts der Art des Buches, das auch eine Sammlung von Aufsätzen
genannt werden könnte, weil die zwölf Kapitel mehr aneinander gereiht als mit¬
einander verbunden sind, ist es schwer seinen Inhalt darzustellen, man müßte
denn gerade das Inhaltsverzeichnis abschreiben; damit aber würde man der
Arbeit des anerkannten Berliner Universitätsprofessors nicht gerecht werden. Ich
gehe darum von der Aufgabenstellung aus und erlaube mir eine Ergänzung in
die Darstellung von Hoetzsch hineinzufügen, die dem Gedankengange des Autors
entspricht.




Hoetzsch selbst hat sich die Aufgabe gestellt, eine Einführung auf Grund
der Geschichte Rußlands von 1904 bis 1912 zu geben.

Was müssen wir von einer Einführung in ein Wissensgebiet verlangen,
was insbesondere von einer Einführung in russische Verhältnisse?

Eine Einführung in ein Wissensgebiet geben heißt: das bis zu einem
gewissen Zeitpunkt dafür vorhandene Material, in unserem Falle das literarische
und die zugänglichen Akten von Regierung und Parteien, kritisch darstellen.
Bei einer Einführung in die Verhältnisse eines sich mitten in Verfassungs¬
kämpfen befindenden Staates wird sich eine solche Einführung zweckmäßig darauf
beschränken, ein Momentbild von den sich widerstreitenden Gedanken, Wünschen,
Plänen, Programmen und Forderungen zu geben. Dies Bild kann durch die
Darstellung der Geschichte der momentanen politischen und wirtschaftlichen und
sozialen Kämpfe mit ihren Ausstrahlungen auf alles Leben im Zusammenhang
mit einer geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Ideen und Parteien erläutert
werden. Der geehrte Autor hat versucht, seine Aufgabe auf diesem Wege zu
lösen, sie im Vorwort aber beschränkt durch den Hinweis, daß er von
Studien in der Verfassungsgeschichte ausgehe.

Das beweist das Kapitel „Erbteil der Vergangenheit". Umgekehrt an Hinzes
Auffassungen über Staatenbildung zieht er hier eine interessante Parallele
zwischen demi Werden Preußens und Rußlands und zeigt die historischen Vor¬
aussetzungen für die Spannungen, die in der Konstruktion des heutigen russischen
Staatsbaues wirken. Das erste Kapitel wäre, weiter ausgeführt und dadurch
leichter lesbar, der wertvolle Bestandteil eines umfangreicheren Werkes über Nu߬
land geworden. Das scheint dem Autor aber erst zum Bewußtsein gekommen
zu sein, als er im zweiten Kapitel an die Epoche der russischen Geschichte kam,
die durch die Regierung Alexanders des Zweiten bezeichnet wird. Er wird, so
denke ich mir, plötzlich überrascht vor der Tatsache gestanden haben, daß diese
Epoche, die das reichste Material für die Verfassungskämpfe und damit für die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328630"/>
          <fw type="header" place="top"> Hoetzsch: Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2146" prev="#ID_2145"> Er gibt kein Forschungsergebnis, eher schon einen Rechenschaftsbericht, eine<lb/>
Inventur über das Material, das er persönlich während vorübergehender<lb/>
Aufenthalte in einzelnen Orten Rußlands, vor allen Dingen in Petersburg,<lb/>
und in den Baltischen Provinzen gefunden hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2147"> Angesichts der Art des Buches, das auch eine Sammlung von Aufsätzen<lb/>
genannt werden könnte, weil die zwölf Kapitel mehr aneinander gereiht als mit¬<lb/>
einander verbunden sind, ist es schwer seinen Inhalt darzustellen, man müßte<lb/>
denn gerade das Inhaltsverzeichnis abschreiben; damit aber würde man der<lb/>
Arbeit des anerkannten Berliner Universitätsprofessors nicht gerecht werden. Ich<lb/>
gehe darum von der Aufgabenstellung aus und erlaube mir eine Ergänzung in<lb/>
die Darstellung von Hoetzsch hineinzufügen, die dem Gedankengange des Autors<lb/>
entspricht.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2148"> Hoetzsch selbst hat sich die Aufgabe gestellt, eine Einführung auf Grund<lb/>
der Geschichte Rußlands von 1904 bis 1912 zu geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2149"> Was müssen wir von einer Einführung in ein Wissensgebiet verlangen,<lb/>
was insbesondere von einer Einführung in russische Verhältnisse?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2150"> Eine Einführung in ein Wissensgebiet geben heißt: das bis zu einem<lb/>
gewissen Zeitpunkt dafür vorhandene Material, in unserem Falle das literarische<lb/>
und die zugänglichen Akten von Regierung und Parteien, kritisch darstellen.<lb/>
Bei einer Einführung in die Verhältnisse eines sich mitten in Verfassungs¬<lb/>
kämpfen befindenden Staates wird sich eine solche Einführung zweckmäßig darauf<lb/>
beschränken, ein Momentbild von den sich widerstreitenden Gedanken, Wünschen,<lb/>
Plänen, Programmen und Forderungen zu geben. Dies Bild kann durch die<lb/>
Darstellung der Geschichte der momentanen politischen und wirtschaftlichen und<lb/>
sozialen Kämpfe mit ihren Ausstrahlungen auf alles Leben im Zusammenhang<lb/>
mit einer geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Ideen und Parteien erläutert<lb/>
werden. Der geehrte Autor hat versucht, seine Aufgabe auf diesem Wege zu<lb/>
lösen, sie im Vorwort aber beschränkt durch den Hinweis, daß er von<lb/>
Studien in der Verfassungsgeschichte ausgehe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2151" next="#ID_2152"> Das beweist das Kapitel &#x201E;Erbteil der Vergangenheit". Umgekehrt an Hinzes<lb/>
Auffassungen über Staatenbildung zieht er hier eine interessante Parallele<lb/>
zwischen demi Werden Preußens und Rußlands und zeigt die historischen Vor¬<lb/>
aussetzungen für die Spannungen, die in der Konstruktion des heutigen russischen<lb/>
Staatsbaues wirken. Das erste Kapitel wäre, weiter ausgeführt und dadurch<lb/>
leichter lesbar, der wertvolle Bestandteil eines umfangreicheren Werkes über Nu߬<lb/>
land geworden. Das scheint dem Autor aber erst zum Bewußtsein gekommen<lb/>
zu sein, als er im zweiten Kapitel an die Epoche der russischen Geschichte kam,<lb/>
die durch die Regierung Alexanders des Zweiten bezeichnet wird. Er wird, so<lb/>
denke ich mir, plötzlich überrascht vor der Tatsache gestanden haben, daß diese<lb/>
Epoche, die das reichste Material für die Verfassungskämpfe und damit für die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0530] Hoetzsch: Rußland Er gibt kein Forschungsergebnis, eher schon einen Rechenschaftsbericht, eine Inventur über das Material, das er persönlich während vorübergehender Aufenthalte in einzelnen Orten Rußlands, vor allen Dingen in Petersburg, und in den Baltischen Provinzen gefunden hat. Angesichts der Art des Buches, das auch eine Sammlung von Aufsätzen genannt werden könnte, weil die zwölf Kapitel mehr aneinander gereiht als mit¬ einander verbunden sind, ist es schwer seinen Inhalt darzustellen, man müßte denn gerade das Inhaltsverzeichnis abschreiben; damit aber würde man der Arbeit des anerkannten Berliner Universitätsprofessors nicht gerecht werden. Ich gehe darum von der Aufgabenstellung aus und erlaube mir eine Ergänzung in die Darstellung von Hoetzsch hineinzufügen, die dem Gedankengange des Autors entspricht. Hoetzsch selbst hat sich die Aufgabe gestellt, eine Einführung auf Grund der Geschichte Rußlands von 1904 bis 1912 zu geben. Was müssen wir von einer Einführung in ein Wissensgebiet verlangen, was insbesondere von einer Einführung in russische Verhältnisse? Eine Einführung in ein Wissensgebiet geben heißt: das bis zu einem gewissen Zeitpunkt dafür vorhandene Material, in unserem Falle das literarische und die zugänglichen Akten von Regierung und Parteien, kritisch darstellen. Bei einer Einführung in die Verhältnisse eines sich mitten in Verfassungs¬ kämpfen befindenden Staates wird sich eine solche Einführung zweckmäßig darauf beschränken, ein Momentbild von den sich widerstreitenden Gedanken, Wünschen, Plänen, Programmen und Forderungen zu geben. Dies Bild kann durch die Darstellung der Geschichte der momentanen politischen und wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe mit ihren Ausstrahlungen auf alles Leben im Zusammenhang mit einer geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Ideen und Parteien erläutert werden. Der geehrte Autor hat versucht, seine Aufgabe auf diesem Wege zu lösen, sie im Vorwort aber beschränkt durch den Hinweis, daß er von Studien in der Verfassungsgeschichte ausgehe. Das beweist das Kapitel „Erbteil der Vergangenheit". Umgekehrt an Hinzes Auffassungen über Staatenbildung zieht er hier eine interessante Parallele zwischen demi Werden Preußens und Rußlands und zeigt die historischen Vor¬ aussetzungen für die Spannungen, die in der Konstruktion des heutigen russischen Staatsbaues wirken. Das erste Kapitel wäre, weiter ausgeführt und dadurch leichter lesbar, der wertvolle Bestandteil eines umfangreicheren Werkes über Nu߬ land geworden. Das scheint dem Autor aber erst zum Bewußtsein gekommen zu sein, als er im zweiten Kapitel an die Epoche der russischen Geschichte kam, die durch die Regierung Alexanders des Zweiten bezeichnet wird. Er wird, so denke ich mir, plötzlich überrascht vor der Tatsache gestanden haben, daß diese Epoche, die das reichste Material für die Verfassungskämpfe und damit für die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/530
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/530>, abgerufen am 26.07.2024.