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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die GrundMge einer Literaturbeurtellung

"Aber es" anhängt, dort, wo es ihm paßt, Einwendungen macht, abschwächt
oder verstärkt und die in die Tendenz sich fügenden Tatsachen vorschiebt, hell
beleuchtet, dabei alle anderen soziologischen, historischen Umstände nach Willkür
benutzend oder nicht erwähnend. I, S. 162 heißt es von Italien: "Man nennt
die italienische Nation gewöhnlich die ältere lateinische Schwesternation der
französischen, und in der Tat, in manchem Betracht trifft diese Bezeichnung zu.
Sind auch die rassenhaften Volksbestandteile der beiden Nationen nicht ganz die
nämlichen, herrscht jedenfalls ein völlig anderes Mischungsverhältnis, so sind
doch Sprache und Kultur von Italien nach Gallien und Frankreich gekommen,
und namentlich zu zwei Zeiten, im Altertum und während der Renaissance
besteht ein ganz nahes Verhältnis, das man wohl mit dem der älteren und
der jüngeren Schwester vergleichen mag. Frankreich freilich hat dank der
fränkischen Eroberung, der tatsächlichen Vorherrschaft der germanischen
Volksbestandteile (das wagt Bartels zu sagen, wo die "keltische Frage" noch
ganz ungelöst ist!!) auch ein wirkliches, kulturell selbständiges Mittelalter, Italien,
politisch allezeit ein Spielball fremder Mächte und national noch sehr zerklüftet,
hat ein solches nicht. Erst gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts geht
die lateinische, sozusagen aus Altertumsresten bestehende Kultur bei gefestigterem
Volkstum in die italienische über, erst da entsteht bei nun entwickelter, italienischer
Sprache auch allmählich italienische Dichtung. Literatur. Aber nun wird hier
der mittelalterliche Geist auch am frühesten in Europa überwunden: der Italiener
wird nach Jakob Burckhardts Ausdruck der Erstgeborene unter den Söhnen des
jetzigen Europas, der erste moderne Mensch. Wenn man will, kann man als
diesen geradezu Dante bezeichnen. Ethnologische, politische, wirtschaftliche, rein
geistige Ursachen wirken zusammen, eine ganz neue, von der mittelalterlichen
sehr verschiedene, eine Persönlichkeitskultur heraufzuführen, bei der man die
führenden Persönlichkeiten zunächst immerhin zu germanischem In¬
dividualismus in Beziehung setzen mag." -- I, 204: hier werden die
Wendungen "wir Germanen" und "wir Deutschen" immer in gleicher Weise
benutzt, was schlechthin eine Verwirrung der Begriffe ist; sie soll ja auch zwecks
der Tendenz beim Leser herbeigeführt werden. -- I, 251: "Es soll hier über
die Entwicklung der (englischen) Nation und Sprache nicht geredet werden." --
Sobald die Sache nicht einmal den Schein der Wahrheit hat, weicht der Rasse¬
theoretiker aus! -- Zu dem germanischen Begriff tritt noch der arische, um
Werke, die gar nicht in den germanischen Kreis einzubeziehen sind, wenigstens
in die Nähe des Germanischen zu rücken, so I, 527: "So haben wir uns in
neuerer Zeit gewöhnt, die .Ilias' und .Odyssee' vor allen: auch als arische
Dichtungen zu sehen, als die vollendeten künstlerischen Offenbarungen arischer
Weltanschauung, und als solche stehen sie uns Deutschen viel näher als die
Dichtungen der Bibel, in denen uns das semitische Volkstum doch
vielfach abstößt." Hier kann es dem konservativen Parteimanne Bartels aus
Rassenhaß sogar begegnen, daß er die Schranken konservativer Anschauungen,


Die GrundMge einer Literaturbeurtellung

„Aber es" anhängt, dort, wo es ihm paßt, Einwendungen macht, abschwächt
oder verstärkt und die in die Tendenz sich fügenden Tatsachen vorschiebt, hell
beleuchtet, dabei alle anderen soziologischen, historischen Umstände nach Willkür
benutzend oder nicht erwähnend. I, S. 162 heißt es von Italien: „Man nennt
die italienische Nation gewöhnlich die ältere lateinische Schwesternation der
französischen, und in der Tat, in manchem Betracht trifft diese Bezeichnung zu.
Sind auch die rassenhaften Volksbestandteile der beiden Nationen nicht ganz die
nämlichen, herrscht jedenfalls ein völlig anderes Mischungsverhältnis, so sind
doch Sprache und Kultur von Italien nach Gallien und Frankreich gekommen,
und namentlich zu zwei Zeiten, im Altertum und während der Renaissance
besteht ein ganz nahes Verhältnis, das man wohl mit dem der älteren und
der jüngeren Schwester vergleichen mag. Frankreich freilich hat dank der
fränkischen Eroberung, der tatsächlichen Vorherrschaft der germanischen
Volksbestandteile (das wagt Bartels zu sagen, wo die „keltische Frage" noch
ganz ungelöst ist!!) auch ein wirkliches, kulturell selbständiges Mittelalter, Italien,
politisch allezeit ein Spielball fremder Mächte und national noch sehr zerklüftet,
hat ein solches nicht. Erst gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts geht
die lateinische, sozusagen aus Altertumsresten bestehende Kultur bei gefestigterem
Volkstum in die italienische über, erst da entsteht bei nun entwickelter, italienischer
Sprache auch allmählich italienische Dichtung. Literatur. Aber nun wird hier
der mittelalterliche Geist auch am frühesten in Europa überwunden: der Italiener
wird nach Jakob Burckhardts Ausdruck der Erstgeborene unter den Söhnen des
jetzigen Europas, der erste moderne Mensch. Wenn man will, kann man als
diesen geradezu Dante bezeichnen. Ethnologische, politische, wirtschaftliche, rein
geistige Ursachen wirken zusammen, eine ganz neue, von der mittelalterlichen
sehr verschiedene, eine Persönlichkeitskultur heraufzuführen, bei der man die
führenden Persönlichkeiten zunächst immerhin zu germanischem In¬
dividualismus in Beziehung setzen mag." — I, 204: hier werden die
Wendungen „wir Germanen" und „wir Deutschen" immer in gleicher Weise
benutzt, was schlechthin eine Verwirrung der Begriffe ist; sie soll ja auch zwecks
der Tendenz beim Leser herbeigeführt werden. — I, 251: „Es soll hier über
die Entwicklung der (englischen) Nation und Sprache nicht geredet werden." —
Sobald die Sache nicht einmal den Schein der Wahrheit hat, weicht der Rasse¬
theoretiker aus! — Zu dem germanischen Begriff tritt noch der arische, um
Werke, die gar nicht in den germanischen Kreis einzubeziehen sind, wenigstens
in die Nähe des Germanischen zu rücken, so I, 527: „So haben wir uns in
neuerer Zeit gewöhnt, die .Ilias' und .Odyssee' vor allen: auch als arische
Dichtungen zu sehen, als die vollendeten künstlerischen Offenbarungen arischer
Weltanschauung, und als solche stehen sie uns Deutschen viel näher als die
Dichtungen der Bibel, in denen uns das semitische Volkstum doch
vielfach abstößt." Hier kann es dem konservativen Parteimanne Bartels aus
Rassenhaß sogar begegnen, daß er die Schranken konservativer Anschauungen,


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[0508] Die GrundMge einer Literaturbeurtellung „Aber es" anhängt, dort, wo es ihm paßt, Einwendungen macht, abschwächt oder verstärkt und die in die Tendenz sich fügenden Tatsachen vorschiebt, hell beleuchtet, dabei alle anderen soziologischen, historischen Umstände nach Willkür benutzend oder nicht erwähnend. I, S. 162 heißt es von Italien: „Man nennt die italienische Nation gewöhnlich die ältere lateinische Schwesternation der französischen, und in der Tat, in manchem Betracht trifft diese Bezeichnung zu. Sind auch die rassenhaften Volksbestandteile der beiden Nationen nicht ganz die nämlichen, herrscht jedenfalls ein völlig anderes Mischungsverhältnis, so sind doch Sprache und Kultur von Italien nach Gallien und Frankreich gekommen, und namentlich zu zwei Zeiten, im Altertum und während der Renaissance besteht ein ganz nahes Verhältnis, das man wohl mit dem der älteren und der jüngeren Schwester vergleichen mag. Frankreich freilich hat dank der fränkischen Eroberung, der tatsächlichen Vorherrschaft der germanischen Volksbestandteile (das wagt Bartels zu sagen, wo die „keltische Frage" noch ganz ungelöst ist!!) auch ein wirkliches, kulturell selbständiges Mittelalter, Italien, politisch allezeit ein Spielball fremder Mächte und national noch sehr zerklüftet, hat ein solches nicht. Erst gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts geht die lateinische, sozusagen aus Altertumsresten bestehende Kultur bei gefestigterem Volkstum in die italienische über, erst da entsteht bei nun entwickelter, italienischer Sprache auch allmählich italienische Dichtung. Literatur. Aber nun wird hier der mittelalterliche Geist auch am frühesten in Europa überwunden: der Italiener wird nach Jakob Burckhardts Ausdruck der Erstgeborene unter den Söhnen des jetzigen Europas, der erste moderne Mensch. Wenn man will, kann man als diesen geradezu Dante bezeichnen. Ethnologische, politische, wirtschaftliche, rein geistige Ursachen wirken zusammen, eine ganz neue, von der mittelalterlichen sehr verschiedene, eine Persönlichkeitskultur heraufzuführen, bei der man die führenden Persönlichkeiten zunächst immerhin zu germanischem In¬ dividualismus in Beziehung setzen mag." — I, 204: hier werden die Wendungen „wir Germanen" und „wir Deutschen" immer in gleicher Weise benutzt, was schlechthin eine Verwirrung der Begriffe ist; sie soll ja auch zwecks der Tendenz beim Leser herbeigeführt werden. — I, 251: „Es soll hier über die Entwicklung der (englischen) Nation und Sprache nicht geredet werden." — Sobald die Sache nicht einmal den Schein der Wahrheit hat, weicht der Rasse¬ theoretiker aus! — Zu dem germanischen Begriff tritt noch der arische, um Werke, die gar nicht in den germanischen Kreis einzubeziehen sind, wenigstens in die Nähe des Germanischen zu rücken, so I, 527: „So haben wir uns in neuerer Zeit gewöhnt, die .Ilias' und .Odyssee' vor allen: auch als arische Dichtungen zu sehen, als die vollendeten künstlerischen Offenbarungen arischer Weltanschauung, und als solche stehen sie uns Deutschen viel näher als die Dichtungen der Bibel, in denen uns das semitische Volkstum doch vielfach abstößt." Hier kann es dem konservativen Parteimanne Bartels aus Rassenhaß sogar begegnen, daß er die Schranken konservativer Anschauungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/508>, abgerufen am 25.07.2024.