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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

in ihnen, aus denen also stets die Lebensenergie gleichsam herauszukristallisieren
ist. Die ganze sich ergebende Masse solcher Kristullisationsprozesse bildet die
Lebensenergie eines Volkes an sich. Von diesem Standpunkte aus gewinnen
wir sofort die rechte Stellung zu allen Tages- und Zeiterscheinungen, wie zur
Abnahme der Geburten, die noch keineswegs eine Abnahme der Lebensenergie
-- also eine Dekadenz --, sondern nur eine Übertragung der Lebensenergie
auf andere Lebensäußerungen und Gebiete bedeutet, wie zur Zunahme der
Verbrechen, die sogar, wenn man von allem Ethischen absieht, eine Zunahme
der Lebensenergie ausdrücken kann (ich denke hier an die Zeit der italienischen
Renaissance), wie zu den Wirtschaftsformen, zum Judentum, zu allem, das
Bartels nur tendenziös zu beurteilen vermag, während es doch tendenzfrei
beurteilt sein muß.




Der Parteimann Bartels bringt nun die einzelnen Tendenzen seiner
Partei -- der konservativ-agrarischen -- überall zur Geltung. Wäre es wahr,
was er einmal (Deutsche Literatur. Einsichten und Aussichten, S. 6) behauptet
hat, daß er "auf dem Gebiete der Politik wie auf dem der Literatur den ent¬
schieden nationalen Standpunkt" einnähme, wogegen nichts zu sagen wäre, so
brauchte er nicht so konsequent und einseitig gegen den Liberalismus anzu¬
kämpfen, wie er es tut. Denn man kann politisch liberal gesinnt und dabei
durchaus national sein, wie z. B. Erich Schmidt es war. Die rechtsstehenden
Parteien haben durchaus nicht das Nationale für sich gepachtet, das Recht, den
Liberalen die nationale Art abzusprechen. Aber Bartels ist eben ein Partei¬
kämpfer und so macht er auch in seiner "Einführung der Weltliteratur" alles
Parteiische mit, wie durch einige Zitate über die einzelnen Parteitendenzen
nachgewiesen sei.

Voran steht der Kampf gegen den Liberalismus oder, wie Bartels meist
und schon in gegnerischer Tendenz sagt, den Radikalismus. Um den Liberalismus
gruppieren sich der Jndustrialismus, das Großstadtwesen u. a. in., gegen die
Bartels, wo er nur den Schein davon entdeckt, sofort in Abwehrstellung
tritt. Wie raffiniert Bartels hier zu Werke geht, wird jeder feststellen, der auf
den Sprachausdruck der Zitate achtet. Ich stelle nur -- um des Raumes
willen -- eine kleine Auswahl zusammen und lasse gesperrt drucken, was für
die Tendenz bezeichnend ist. Band I. Seite 6? heißt es: "Goethe nennt
Ludwig den Vierzehnten einen .französischen König im höchsten Sinne' und spricht
ihm Sinn für das Große zu; selbst ein liberaler, aufklärerisch gesinnter Schrift¬
steller wie Hettner aber leugnet nicht, daß die unumschränkte Machtstellung
des Königs in jenem Zeitalter .eine geschichtliche Notwendigkeit und darum
co unendlicher Segen' war." -- Bd. I, S. 117/118: "der republikanisch¬
demokratische Standpunkt" der "Persischen Briefe" Montesquieus ist für Bartels
nicht nur hier, sondern überhaupt stets "unklar", und "solche Bücher wirken


Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

in ihnen, aus denen also stets die Lebensenergie gleichsam herauszukristallisieren
ist. Die ganze sich ergebende Masse solcher Kristullisationsprozesse bildet die
Lebensenergie eines Volkes an sich. Von diesem Standpunkte aus gewinnen
wir sofort die rechte Stellung zu allen Tages- und Zeiterscheinungen, wie zur
Abnahme der Geburten, die noch keineswegs eine Abnahme der Lebensenergie
— also eine Dekadenz —, sondern nur eine Übertragung der Lebensenergie
auf andere Lebensäußerungen und Gebiete bedeutet, wie zur Zunahme der
Verbrechen, die sogar, wenn man von allem Ethischen absieht, eine Zunahme
der Lebensenergie ausdrücken kann (ich denke hier an die Zeit der italienischen
Renaissance), wie zu den Wirtschaftsformen, zum Judentum, zu allem, das
Bartels nur tendenziös zu beurteilen vermag, während es doch tendenzfrei
beurteilt sein muß.




Der Parteimann Bartels bringt nun die einzelnen Tendenzen seiner
Partei — der konservativ-agrarischen — überall zur Geltung. Wäre es wahr,
was er einmal (Deutsche Literatur. Einsichten und Aussichten, S. 6) behauptet
hat, daß er „auf dem Gebiete der Politik wie auf dem der Literatur den ent¬
schieden nationalen Standpunkt" einnähme, wogegen nichts zu sagen wäre, so
brauchte er nicht so konsequent und einseitig gegen den Liberalismus anzu¬
kämpfen, wie er es tut. Denn man kann politisch liberal gesinnt und dabei
durchaus national sein, wie z. B. Erich Schmidt es war. Die rechtsstehenden
Parteien haben durchaus nicht das Nationale für sich gepachtet, das Recht, den
Liberalen die nationale Art abzusprechen. Aber Bartels ist eben ein Partei¬
kämpfer und so macht er auch in seiner „Einführung der Weltliteratur" alles
Parteiische mit, wie durch einige Zitate über die einzelnen Parteitendenzen
nachgewiesen sei.

Voran steht der Kampf gegen den Liberalismus oder, wie Bartels meist
und schon in gegnerischer Tendenz sagt, den Radikalismus. Um den Liberalismus
gruppieren sich der Jndustrialismus, das Großstadtwesen u. a. in., gegen die
Bartels, wo er nur den Schein davon entdeckt, sofort in Abwehrstellung
tritt. Wie raffiniert Bartels hier zu Werke geht, wird jeder feststellen, der auf
den Sprachausdruck der Zitate achtet. Ich stelle nur — um des Raumes
willen — eine kleine Auswahl zusammen und lasse gesperrt drucken, was für
die Tendenz bezeichnend ist. Band I. Seite 6? heißt es: „Goethe nennt
Ludwig den Vierzehnten einen .französischen König im höchsten Sinne' und spricht
ihm Sinn für das Große zu; selbst ein liberaler, aufklärerisch gesinnter Schrift¬
steller wie Hettner aber leugnet nicht, daß die unumschränkte Machtstellung
des Königs in jenem Zeitalter .eine geschichtliche Notwendigkeit und darum
co unendlicher Segen' war." — Bd. I, S. 117/118: „der republikanisch¬
demokratische Standpunkt" der „Persischen Briefe" Montesquieus ist für Bartels
nicht nur hier, sondern überhaupt stets „unklar", und „solche Bücher wirken


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[0503] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung in ihnen, aus denen also stets die Lebensenergie gleichsam herauszukristallisieren ist. Die ganze sich ergebende Masse solcher Kristullisationsprozesse bildet die Lebensenergie eines Volkes an sich. Von diesem Standpunkte aus gewinnen wir sofort die rechte Stellung zu allen Tages- und Zeiterscheinungen, wie zur Abnahme der Geburten, die noch keineswegs eine Abnahme der Lebensenergie — also eine Dekadenz —, sondern nur eine Übertragung der Lebensenergie auf andere Lebensäußerungen und Gebiete bedeutet, wie zur Zunahme der Verbrechen, die sogar, wenn man von allem Ethischen absieht, eine Zunahme der Lebensenergie ausdrücken kann (ich denke hier an die Zeit der italienischen Renaissance), wie zu den Wirtschaftsformen, zum Judentum, zu allem, das Bartels nur tendenziös zu beurteilen vermag, während es doch tendenzfrei beurteilt sein muß. Der Parteimann Bartels bringt nun die einzelnen Tendenzen seiner Partei — der konservativ-agrarischen — überall zur Geltung. Wäre es wahr, was er einmal (Deutsche Literatur. Einsichten und Aussichten, S. 6) behauptet hat, daß er „auf dem Gebiete der Politik wie auf dem der Literatur den ent¬ schieden nationalen Standpunkt" einnähme, wogegen nichts zu sagen wäre, so brauchte er nicht so konsequent und einseitig gegen den Liberalismus anzu¬ kämpfen, wie er es tut. Denn man kann politisch liberal gesinnt und dabei durchaus national sein, wie z. B. Erich Schmidt es war. Die rechtsstehenden Parteien haben durchaus nicht das Nationale für sich gepachtet, das Recht, den Liberalen die nationale Art abzusprechen. Aber Bartels ist eben ein Partei¬ kämpfer und so macht er auch in seiner „Einführung der Weltliteratur" alles Parteiische mit, wie durch einige Zitate über die einzelnen Parteitendenzen nachgewiesen sei. Voran steht der Kampf gegen den Liberalismus oder, wie Bartels meist und schon in gegnerischer Tendenz sagt, den Radikalismus. Um den Liberalismus gruppieren sich der Jndustrialismus, das Großstadtwesen u. a. in., gegen die Bartels, wo er nur den Schein davon entdeckt, sofort in Abwehrstellung tritt. Wie raffiniert Bartels hier zu Werke geht, wird jeder feststellen, der auf den Sprachausdruck der Zitate achtet. Ich stelle nur — um des Raumes willen — eine kleine Auswahl zusammen und lasse gesperrt drucken, was für die Tendenz bezeichnend ist. Band I. Seite 6? heißt es: „Goethe nennt Ludwig den Vierzehnten einen .französischen König im höchsten Sinne' und spricht ihm Sinn für das Große zu; selbst ein liberaler, aufklärerisch gesinnter Schrift¬ steller wie Hettner aber leugnet nicht, daß die unumschränkte Machtstellung des Königs in jenem Zeitalter .eine geschichtliche Notwendigkeit und darum co unendlicher Segen' war." — Bd. I, S. 117/118: „der republikanisch¬ demokratische Standpunkt" der „Persischen Briefe" Montesquieus ist für Bartels nicht nur hier, sondern überhaupt stets „unklar", und „solche Bücher wirken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/503>, abgerufen am 25.07.2024.