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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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<Lin reaktionärer Briefwechsel

das Parlament von seinem Einfluß macht, in seinem Mangel an Einfluß stehst
und dem Parlament mehr Macht geben willst, weil es seine jetzige Macht nicht
zu verwenden versteht. Das ist neu und originell. Ich gebe zu, daß Du
einige Gründe vorgebracht hast, die diese Paradoxie weniger paradox erscheinen
lassen, als ich sie eben formuliert habe. Du erwartest alles von der Verant¬
wortung. Das hat etwas Bestechendes. Es enthält eine Wahrheit, die, aus
den einzelnen Menschen angewendet, richtig ist. Bei dem einzelnen wird man,
wenn man ihm mit dem Einfluß auch die Verantwortung für dessen Ver¬
wendung überträgt, damit gute Erfahrungen machen. Der einzelne fühlt seine
Persönlichkeit verpfändet; und sollte auch das, demgegenüber er äußerlich ver¬
antwortlich ist, ihm keinen Respekt einflößen, so hat er doch gemeinhin vor
seinem eigenen Selbst, vor dem er innerlich verantwortlich ist, einen gewissen
Respekt. '

Dieses Vertrauen auf die Verantwortlichkeit, die eine an dem einzelnen
konstatierte Erfahrung ist. von diesem aus Versammlungen zu übertragen, ist
ein verhängnisvoller Irrtum. Versammlungen haben eine ganz eigene,
ganz andere Psychologie. Wenn Versammlungen so etwas wie Seele oder
Persönlichkeit haben, so ist doch diese Seele viel, viel dünner und schwächer als
die Seele des schwächsten einzelnen, der an ihnen beteiligt ist. sehr viel leicht¬
fertiger, erregbarer, von Worten und Phrasen abhängiger, bald zaghafter, bald
mutiger, aber immer ursachlicher, kurz und gut, keine Seele, die mit sich selbst
kämpfend um die Erkenntnis des rechten ringt und, wenn sie es erkannt hat,
gegen eine widrige Umwelt daran festhält. Da versteckt sich einer hinter dem
anderen, wird durch die Verantwortlichkeit der Versammlung von seiner eigenen
befreit. Schließlich erkennen dies Moment alle Verfassungen an, indem sie
bei wichtigen Entscheidungen auf die Verantwortlichkeit des einzelnen zurück¬
greifen und namentliche Abstimmungen vorsehen. Also mit der inneren Ver¬
antwortung ist es nichts. Äußerlich verantwortlich ist das Parlament vor dem
Volke, das heißt vor dem Volke in der durchaus unzulänglichen Form, in der
allein es als eine Institution faßbar wird, vor der Masse der Wähler. Diese
Verantwortung besteht hente schon. Ich gebe indes zu, daß die Parteien sich
heute alle in edlem Wettstreit und mit Erfolg bemühen, die Verantwortung für
alles auf die Regierung abzuwälzen.

Ich komme nun auf den Punkt, an dem Dein Beweis sich selbst verschlingt.
Du führst ganz richtig das Elend des Reichs auf den Einfluß zurück, den die
Wähler, ihre Stimmungen und Sonderinteressen, auf das Parlament haben.
Du sagst ganz richtig, daß die Masse, der Du einen Anspruch auf den Schein
der Macht zugestehst, kein Recht auf die reale Macht sowie keine Fähigkeit ihres
richtigen Gebrauchs hat. Ich verstehe, daß jemand, der glaubt, das Volk finde
selbst schließlich doch immer, wie das Maultier im Nebel, den richtigen Weg,
sich von der Etablierung eines, die Geschäfte selbst führenden, daher für sie ver¬
antwortlichen Parlaments etwas versprechen kann. Wer diesen Glauben aber


<Lin reaktionärer Briefwechsel

das Parlament von seinem Einfluß macht, in seinem Mangel an Einfluß stehst
und dem Parlament mehr Macht geben willst, weil es seine jetzige Macht nicht
zu verwenden versteht. Das ist neu und originell. Ich gebe zu, daß Du
einige Gründe vorgebracht hast, die diese Paradoxie weniger paradox erscheinen
lassen, als ich sie eben formuliert habe. Du erwartest alles von der Verant¬
wortung. Das hat etwas Bestechendes. Es enthält eine Wahrheit, die, aus
den einzelnen Menschen angewendet, richtig ist. Bei dem einzelnen wird man,
wenn man ihm mit dem Einfluß auch die Verantwortung für dessen Ver¬
wendung überträgt, damit gute Erfahrungen machen. Der einzelne fühlt seine
Persönlichkeit verpfändet; und sollte auch das, demgegenüber er äußerlich ver¬
antwortlich ist, ihm keinen Respekt einflößen, so hat er doch gemeinhin vor
seinem eigenen Selbst, vor dem er innerlich verantwortlich ist, einen gewissen
Respekt. '

Dieses Vertrauen auf die Verantwortlichkeit, die eine an dem einzelnen
konstatierte Erfahrung ist. von diesem aus Versammlungen zu übertragen, ist
ein verhängnisvoller Irrtum. Versammlungen haben eine ganz eigene,
ganz andere Psychologie. Wenn Versammlungen so etwas wie Seele oder
Persönlichkeit haben, so ist doch diese Seele viel, viel dünner und schwächer als
die Seele des schwächsten einzelnen, der an ihnen beteiligt ist. sehr viel leicht¬
fertiger, erregbarer, von Worten und Phrasen abhängiger, bald zaghafter, bald
mutiger, aber immer ursachlicher, kurz und gut, keine Seele, die mit sich selbst
kämpfend um die Erkenntnis des rechten ringt und, wenn sie es erkannt hat,
gegen eine widrige Umwelt daran festhält. Da versteckt sich einer hinter dem
anderen, wird durch die Verantwortlichkeit der Versammlung von seiner eigenen
befreit. Schließlich erkennen dies Moment alle Verfassungen an, indem sie
bei wichtigen Entscheidungen auf die Verantwortlichkeit des einzelnen zurück¬
greifen und namentliche Abstimmungen vorsehen. Also mit der inneren Ver¬
antwortung ist es nichts. Äußerlich verantwortlich ist das Parlament vor dem
Volke, das heißt vor dem Volke in der durchaus unzulänglichen Form, in der
allein es als eine Institution faßbar wird, vor der Masse der Wähler. Diese
Verantwortung besteht hente schon. Ich gebe indes zu, daß die Parteien sich
heute alle in edlem Wettstreit und mit Erfolg bemühen, die Verantwortung für
alles auf die Regierung abzuwälzen.

Ich komme nun auf den Punkt, an dem Dein Beweis sich selbst verschlingt.
Du führst ganz richtig das Elend des Reichs auf den Einfluß zurück, den die
Wähler, ihre Stimmungen und Sonderinteressen, auf das Parlament haben.
Du sagst ganz richtig, daß die Masse, der Du einen Anspruch auf den Schein
der Macht zugestehst, kein Recht auf die reale Macht sowie keine Fähigkeit ihres
richtigen Gebrauchs hat. Ich verstehe, daß jemand, der glaubt, das Volk finde
selbst schließlich doch immer, wie das Maultier im Nebel, den richtigen Weg,
sich von der Etablierung eines, die Geschäfte selbst führenden, daher für sie ver¬
antwortlichen Parlaments etwas versprechen kann. Wer diesen Glauben aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/494>, abgerufen am 24.07.2024.