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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das lvahlproblom

Masse, die rohe Zahl, die überall wie eine Riesenwelle heranwuchtet und die
kleinere Schar der Kulturträger und mit ihr die Kultur selbst zu überfluten, zu
ersticken droht. Die Waffe aber dieser plumpen Masse zur Erringung der
politischen Macht, zur Niederzwingung der heutigen Kultur ist das gleiche
Stimmrecht.

Wie ist nun diese Gefahr zu bannen, wie das "Wahlproblem" zu lösen?
Schon ist das Mittel erkannt, schon ist es auch im preußischen Abgeordneten¬
hause von einer einflußreichen Partei bei den letzten Wahlverhandlungen als
Palladium bezeichnet worden. Es ist das direkte, geheime Pluralwahlrecht, das
seit längeren Jahren schon in Belgien und neuerdings auch in Sachsen ein¬
geführt ist. Aber bisher ist es auch in diesen Staaten noch ein ziemlich
unvollkommenes Instrument geblieben, das so, wie es jetzt beschaffen ist, noch
nicht die vollen harmonischen Töne erzeugen kann, die von ihm bei weiterer
Vervollkommnung zuversichtlich erwartet werden können: in Belgien hat man
Stimmerweiterung bis zu drei Stimmen je nach Grundeigentum, Verheiratung,
höherer Bildung oder Amtsbekleidung, in Sachsen bis zu vier Stimmen nach
Einkommen, Grundbesitz, Amt und höherer Bildung.

Unter diesen für die Stimmvermehrung geltenden Merkzeichen ist nämlich
nur eines von durchschlagender Bedeutung, da es die ganze Masse der Be¬
völkerung betrifft, nämlich die durch eine Zusatzstimme erhöhte Bewertung der
Verehelichung; die anderen Merkzeichen, die ziemlich willkürlich aufgerichtet sind
und meist nur eine kleine Minderheit bevorzugen, haben keine besondere
Wichtigkeit und sind jedenfalls nicht imstande, die Übermacht der niederen Ge¬
samtmasse zu brechen.

Um diesen Hauptzweck zu erreichen, muß man eben die Masse selbst zu
differenzieren suchen, indem man diejenigen Elemente, denen ohne weiteres eine
stärkere Staats- und kulturerhaltende Tendenz innezuwohnen pflegt, im Gegensatz
zur Gesamtmasse mit Zusatzstimmen begabt. Daß die Verehelichung solche
Elemente schafft, liegt auf der Hand und ist durch die Sache selbst begründet;
ein Ehemann, der für seine Familie zu sorgen hat -- es empfiehlt sich, zu¬
gleich ein bestimmtes Lebensjahr (wie in Belgien z. B. das sünfnnddreißigste)
für das Inkrafttreten dieser Ehebestimmuug festzusetzen -- wird sicherlich im
allgemeinen seine Pflicht gegen den Staat ernster nehmen als ein lediger Mann
gleichen Alters; dazu ist diese Maßnahme durchaus gerecht, der Staat hat sogar
unseres Erachtens die Pflicht, die Familie, die Basis seiner eigenen Existenz,
mehr als bisher zum Ausgangspunkte seiner gesetzlichen Bestimmungen zu
nehmen. Die erste Zusatzstimme wäre also dem verheirateten Manne bzw. dem
verwitweten Familienvater zuzugestehen.

Neben der Ehe ist sodann das gereifte Alter als Differenzmerkmal für die
gesamte Masse des Volkes in Betracht zu ziehen. Daß im Altertum das Alter
besondere politische Vorrechte genoß, ist bekannt; auch die französische Republik
vom Jahre 1795 hat "im Rate der Alten" den Wert dieser Doktrin sich zu


Das lvahlproblom

Masse, die rohe Zahl, die überall wie eine Riesenwelle heranwuchtet und die
kleinere Schar der Kulturträger und mit ihr die Kultur selbst zu überfluten, zu
ersticken droht. Die Waffe aber dieser plumpen Masse zur Erringung der
politischen Macht, zur Niederzwingung der heutigen Kultur ist das gleiche
Stimmrecht.

Wie ist nun diese Gefahr zu bannen, wie das „Wahlproblem" zu lösen?
Schon ist das Mittel erkannt, schon ist es auch im preußischen Abgeordneten¬
hause von einer einflußreichen Partei bei den letzten Wahlverhandlungen als
Palladium bezeichnet worden. Es ist das direkte, geheime Pluralwahlrecht, das
seit längeren Jahren schon in Belgien und neuerdings auch in Sachsen ein¬
geführt ist. Aber bisher ist es auch in diesen Staaten noch ein ziemlich
unvollkommenes Instrument geblieben, das so, wie es jetzt beschaffen ist, noch
nicht die vollen harmonischen Töne erzeugen kann, die von ihm bei weiterer
Vervollkommnung zuversichtlich erwartet werden können: in Belgien hat man
Stimmerweiterung bis zu drei Stimmen je nach Grundeigentum, Verheiratung,
höherer Bildung oder Amtsbekleidung, in Sachsen bis zu vier Stimmen nach
Einkommen, Grundbesitz, Amt und höherer Bildung.

Unter diesen für die Stimmvermehrung geltenden Merkzeichen ist nämlich
nur eines von durchschlagender Bedeutung, da es die ganze Masse der Be¬
völkerung betrifft, nämlich die durch eine Zusatzstimme erhöhte Bewertung der
Verehelichung; die anderen Merkzeichen, die ziemlich willkürlich aufgerichtet sind
und meist nur eine kleine Minderheit bevorzugen, haben keine besondere
Wichtigkeit und sind jedenfalls nicht imstande, die Übermacht der niederen Ge¬
samtmasse zu brechen.

Um diesen Hauptzweck zu erreichen, muß man eben die Masse selbst zu
differenzieren suchen, indem man diejenigen Elemente, denen ohne weiteres eine
stärkere Staats- und kulturerhaltende Tendenz innezuwohnen pflegt, im Gegensatz
zur Gesamtmasse mit Zusatzstimmen begabt. Daß die Verehelichung solche
Elemente schafft, liegt auf der Hand und ist durch die Sache selbst begründet;
ein Ehemann, der für seine Familie zu sorgen hat — es empfiehlt sich, zu¬
gleich ein bestimmtes Lebensjahr (wie in Belgien z. B. das sünfnnddreißigste)
für das Inkrafttreten dieser Ehebestimmuug festzusetzen — wird sicherlich im
allgemeinen seine Pflicht gegen den Staat ernster nehmen als ein lediger Mann
gleichen Alters; dazu ist diese Maßnahme durchaus gerecht, der Staat hat sogar
unseres Erachtens die Pflicht, die Familie, die Basis seiner eigenen Existenz,
mehr als bisher zum Ausgangspunkte seiner gesetzlichen Bestimmungen zu
nehmen. Die erste Zusatzstimme wäre also dem verheirateten Manne bzw. dem
verwitweten Familienvater zuzugestehen.

Neben der Ehe ist sodann das gereifte Alter als Differenzmerkmal für die
gesamte Masse des Volkes in Betracht zu ziehen. Daß im Altertum das Alter
besondere politische Vorrechte genoß, ist bekannt; auch die französische Republik
vom Jahre 1795 hat „im Rate der Alten" den Wert dieser Doktrin sich zu


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[0406] Das lvahlproblom Masse, die rohe Zahl, die überall wie eine Riesenwelle heranwuchtet und die kleinere Schar der Kulturträger und mit ihr die Kultur selbst zu überfluten, zu ersticken droht. Die Waffe aber dieser plumpen Masse zur Erringung der politischen Macht, zur Niederzwingung der heutigen Kultur ist das gleiche Stimmrecht. Wie ist nun diese Gefahr zu bannen, wie das „Wahlproblem" zu lösen? Schon ist das Mittel erkannt, schon ist es auch im preußischen Abgeordneten¬ hause von einer einflußreichen Partei bei den letzten Wahlverhandlungen als Palladium bezeichnet worden. Es ist das direkte, geheime Pluralwahlrecht, das seit längeren Jahren schon in Belgien und neuerdings auch in Sachsen ein¬ geführt ist. Aber bisher ist es auch in diesen Staaten noch ein ziemlich unvollkommenes Instrument geblieben, das so, wie es jetzt beschaffen ist, noch nicht die vollen harmonischen Töne erzeugen kann, die von ihm bei weiterer Vervollkommnung zuversichtlich erwartet werden können: in Belgien hat man Stimmerweiterung bis zu drei Stimmen je nach Grundeigentum, Verheiratung, höherer Bildung oder Amtsbekleidung, in Sachsen bis zu vier Stimmen nach Einkommen, Grundbesitz, Amt und höherer Bildung. Unter diesen für die Stimmvermehrung geltenden Merkzeichen ist nämlich nur eines von durchschlagender Bedeutung, da es die ganze Masse der Be¬ völkerung betrifft, nämlich die durch eine Zusatzstimme erhöhte Bewertung der Verehelichung; die anderen Merkzeichen, die ziemlich willkürlich aufgerichtet sind und meist nur eine kleine Minderheit bevorzugen, haben keine besondere Wichtigkeit und sind jedenfalls nicht imstande, die Übermacht der niederen Ge¬ samtmasse zu brechen. Um diesen Hauptzweck zu erreichen, muß man eben die Masse selbst zu differenzieren suchen, indem man diejenigen Elemente, denen ohne weiteres eine stärkere Staats- und kulturerhaltende Tendenz innezuwohnen pflegt, im Gegensatz zur Gesamtmasse mit Zusatzstimmen begabt. Daß die Verehelichung solche Elemente schafft, liegt auf der Hand und ist durch die Sache selbst begründet; ein Ehemann, der für seine Familie zu sorgen hat — es empfiehlt sich, zu¬ gleich ein bestimmtes Lebensjahr (wie in Belgien z. B. das sünfnnddreißigste) für das Inkrafttreten dieser Ehebestimmuug festzusetzen — wird sicherlich im allgemeinen seine Pflicht gegen den Staat ernster nehmen als ein lediger Mann gleichen Alters; dazu ist diese Maßnahme durchaus gerecht, der Staat hat sogar unseres Erachtens die Pflicht, die Familie, die Basis seiner eigenen Existenz, mehr als bisher zum Ausgangspunkte seiner gesetzlichen Bestimmungen zu nehmen. Die erste Zusatzstimme wäre also dem verheirateten Manne bzw. dem verwitweten Familienvater zuzugestehen. Neben der Ehe ist sodann das gereifte Alter als Differenzmerkmal für die gesamte Masse des Volkes in Betracht zu ziehen. Daß im Altertum das Alter besondere politische Vorrechte genoß, ist bekannt; auch die französische Republik vom Jahre 1795 hat „im Rate der Alten" den Wert dieser Doktrin sich zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/406>, abgerufen am 25.07.2024.