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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlproblem

Über auf die Dauer ein solcher Gegensatz aufrecht erhalten lassen, wie ihn die
beiden Wahlsysteme darstellen? Gewiß, die Grundlage, die beiden Systemen
als Basis dient, ist gleichartig: hier wie dort die entsprechende Steuerleistung
für entsprechende Rechte, nämlich hier die ungleiche direkte Steuer und dafür als
Entgelt das ungleiche preußische Wahlrecht, dort die gleiche indirekte Steuer und als
Entgelt das gleiche Reichswahlrecht. Aber gerade auf politischem Gebiete ist
der Spruch zu berücksichtigen: Lummum jus, summa injuria! Auch die in¬
direkten Steuern, die zur Deckung der unmittelbaren Reichsbedürfnisse bestimmt
sind und die sich vornehmlich aus den Verbrauchssteuern und Zöllen zusammen¬
setzen, sind für die einzelnen Staatsbürger ja durchaus nicht gleich: der
Familienvater, der zehn Köpfe zu ernähren hat, hat an diesen indirekten Steuern
das Zehnfache aufzubringen, verglichen mit dem, der für sich allein zu sorgen
hat. Und dann seien wir ehrlich: auch bei jenem Hinweis auf die Berechtigung
des Unterschiedes beider Wahlrechte laust eine Erschleichung mit unter -- das
"Reich" wird in letzter Instanz hinsichtlich seiner Kosten nicht nur durch die
indirekten Steuern, sondern auch durch die Einzelstaaten in lebensfähigen Zu¬
stande erhalten, indem seine Hauptlebenskraft, das stehende Reichsheer und die
Reichsflotte, die beide durch die indirekten Steuern unterhalten werden, doch
sicherlich nicht losgelöst von der inneren Verwaltung der einzelnen Staaten
gedacht werden kann, die sozusagen den Gliederbau des Gesamtkörpers darstellen;
wer also die Einzelstaaten unterhält, unterhält damit zugleich auch das Reich,
und die Einzelstaaten werden doch durch direkte Steuern unterhalten. Wie man
sich also auch drehen mag, eine einfache Rechenformel kann die Entscheidung in
solchen Fragen nicht geben. Und so läßt sich auch ein Wahlsystem, das die
freie, freudige Mitarbeit des Gesamtvolkes an der Regierung darstellen und
regeln soll, nicht ohne weiteres unter die seelenlose Fessel der nackten Zahl
zwingen; das moderne Empfinden verlangt das Anerkennen der Persönlichkeit,
auch des persönlichen Arbeitswertes. Wir haben neuerdings gelernt, daß das
Zusammenarbeiten aller Kräfte nötig ist, um den Enderfolg einer Nation zu
entscheiden und zu sichern, daß auch der einfache Arbeiter ein kleines, selbstsicheres
Rädchen darstellt in der Riesenmaschine des modernen Wirtschaftsgetriebes, daß
schließlich das Bedürfnis der Allgemeinheit auf jedem Gebiete überhaupt erst
dauernde Werte schafft. Deshalb muß es das Prinzip des weitschauenden
Politikers sein, den übermäßigen Ansprüchen einzelner Stände, die sich gegen
diese Allgemeinheit richten, entgegenzutreten, mögen sie von oben oder unten
kommen; sein Ziel muß die Unterordnung der einzelnen Stände unter die
Zweckordnung der Allgemeinheit sein, sein Streben zugleich aber, diese Zweck¬
ordnung nach der Gerechtigkeit, nach dem allgemeinen sozialen Empfinden zu gestalten.

Ob das Mittel zur Erreichung dieses Zieles das Dreiklassenwahlrecht sein
kann, braucht nach dem Vorausgehenden wohl kaum erörtert zu werden; ob aber
das Reichstagswahlrecht, d. h. also das gleiche, geheime, direkte Wahlrecht, sich
dazu eignet, soll im folgenden untersucht werden.


Das Wahlproblem

Über auf die Dauer ein solcher Gegensatz aufrecht erhalten lassen, wie ihn die
beiden Wahlsysteme darstellen? Gewiß, die Grundlage, die beiden Systemen
als Basis dient, ist gleichartig: hier wie dort die entsprechende Steuerleistung
für entsprechende Rechte, nämlich hier die ungleiche direkte Steuer und dafür als
Entgelt das ungleiche preußische Wahlrecht, dort die gleiche indirekte Steuer und als
Entgelt das gleiche Reichswahlrecht. Aber gerade auf politischem Gebiete ist
der Spruch zu berücksichtigen: Lummum jus, summa injuria! Auch die in¬
direkten Steuern, die zur Deckung der unmittelbaren Reichsbedürfnisse bestimmt
sind und die sich vornehmlich aus den Verbrauchssteuern und Zöllen zusammen¬
setzen, sind für die einzelnen Staatsbürger ja durchaus nicht gleich: der
Familienvater, der zehn Köpfe zu ernähren hat, hat an diesen indirekten Steuern
das Zehnfache aufzubringen, verglichen mit dem, der für sich allein zu sorgen
hat. Und dann seien wir ehrlich: auch bei jenem Hinweis auf die Berechtigung
des Unterschiedes beider Wahlrechte laust eine Erschleichung mit unter — das
„Reich" wird in letzter Instanz hinsichtlich seiner Kosten nicht nur durch die
indirekten Steuern, sondern auch durch die Einzelstaaten in lebensfähigen Zu¬
stande erhalten, indem seine Hauptlebenskraft, das stehende Reichsheer und die
Reichsflotte, die beide durch die indirekten Steuern unterhalten werden, doch
sicherlich nicht losgelöst von der inneren Verwaltung der einzelnen Staaten
gedacht werden kann, die sozusagen den Gliederbau des Gesamtkörpers darstellen;
wer also die Einzelstaaten unterhält, unterhält damit zugleich auch das Reich,
und die Einzelstaaten werden doch durch direkte Steuern unterhalten. Wie man
sich also auch drehen mag, eine einfache Rechenformel kann die Entscheidung in
solchen Fragen nicht geben. Und so läßt sich auch ein Wahlsystem, das die
freie, freudige Mitarbeit des Gesamtvolkes an der Regierung darstellen und
regeln soll, nicht ohne weiteres unter die seelenlose Fessel der nackten Zahl
zwingen; das moderne Empfinden verlangt das Anerkennen der Persönlichkeit,
auch des persönlichen Arbeitswertes. Wir haben neuerdings gelernt, daß das
Zusammenarbeiten aller Kräfte nötig ist, um den Enderfolg einer Nation zu
entscheiden und zu sichern, daß auch der einfache Arbeiter ein kleines, selbstsicheres
Rädchen darstellt in der Riesenmaschine des modernen Wirtschaftsgetriebes, daß
schließlich das Bedürfnis der Allgemeinheit auf jedem Gebiete überhaupt erst
dauernde Werte schafft. Deshalb muß es das Prinzip des weitschauenden
Politikers sein, den übermäßigen Ansprüchen einzelner Stände, die sich gegen
diese Allgemeinheit richten, entgegenzutreten, mögen sie von oben oder unten
kommen; sein Ziel muß die Unterordnung der einzelnen Stände unter die
Zweckordnung der Allgemeinheit sein, sein Streben zugleich aber, diese Zweck¬
ordnung nach der Gerechtigkeit, nach dem allgemeinen sozialen Empfinden zu gestalten.

Ob das Mittel zur Erreichung dieses Zieles das Dreiklassenwahlrecht sein
kann, braucht nach dem Vorausgehenden wohl kaum erörtert zu werden; ob aber
das Reichstagswahlrecht, d. h. also das gleiche, geheime, direkte Wahlrecht, sich
dazu eignet, soll im folgenden untersucht werden.


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[0404] Das Wahlproblem Über auf die Dauer ein solcher Gegensatz aufrecht erhalten lassen, wie ihn die beiden Wahlsysteme darstellen? Gewiß, die Grundlage, die beiden Systemen als Basis dient, ist gleichartig: hier wie dort die entsprechende Steuerleistung für entsprechende Rechte, nämlich hier die ungleiche direkte Steuer und dafür als Entgelt das ungleiche preußische Wahlrecht, dort die gleiche indirekte Steuer und als Entgelt das gleiche Reichswahlrecht. Aber gerade auf politischem Gebiete ist der Spruch zu berücksichtigen: Lummum jus, summa injuria! Auch die in¬ direkten Steuern, die zur Deckung der unmittelbaren Reichsbedürfnisse bestimmt sind und die sich vornehmlich aus den Verbrauchssteuern und Zöllen zusammen¬ setzen, sind für die einzelnen Staatsbürger ja durchaus nicht gleich: der Familienvater, der zehn Köpfe zu ernähren hat, hat an diesen indirekten Steuern das Zehnfache aufzubringen, verglichen mit dem, der für sich allein zu sorgen hat. Und dann seien wir ehrlich: auch bei jenem Hinweis auf die Berechtigung des Unterschiedes beider Wahlrechte laust eine Erschleichung mit unter — das „Reich" wird in letzter Instanz hinsichtlich seiner Kosten nicht nur durch die indirekten Steuern, sondern auch durch die Einzelstaaten in lebensfähigen Zu¬ stande erhalten, indem seine Hauptlebenskraft, das stehende Reichsheer und die Reichsflotte, die beide durch die indirekten Steuern unterhalten werden, doch sicherlich nicht losgelöst von der inneren Verwaltung der einzelnen Staaten gedacht werden kann, die sozusagen den Gliederbau des Gesamtkörpers darstellen; wer also die Einzelstaaten unterhält, unterhält damit zugleich auch das Reich, und die Einzelstaaten werden doch durch direkte Steuern unterhalten. Wie man sich also auch drehen mag, eine einfache Rechenformel kann die Entscheidung in solchen Fragen nicht geben. Und so läßt sich auch ein Wahlsystem, das die freie, freudige Mitarbeit des Gesamtvolkes an der Regierung darstellen und regeln soll, nicht ohne weiteres unter die seelenlose Fessel der nackten Zahl zwingen; das moderne Empfinden verlangt das Anerkennen der Persönlichkeit, auch des persönlichen Arbeitswertes. Wir haben neuerdings gelernt, daß das Zusammenarbeiten aller Kräfte nötig ist, um den Enderfolg einer Nation zu entscheiden und zu sichern, daß auch der einfache Arbeiter ein kleines, selbstsicheres Rädchen darstellt in der Riesenmaschine des modernen Wirtschaftsgetriebes, daß schließlich das Bedürfnis der Allgemeinheit auf jedem Gebiete überhaupt erst dauernde Werte schafft. Deshalb muß es das Prinzip des weitschauenden Politikers sein, den übermäßigen Ansprüchen einzelner Stände, die sich gegen diese Allgemeinheit richten, entgegenzutreten, mögen sie von oben oder unten kommen; sein Ziel muß die Unterordnung der einzelnen Stände unter die Zweckordnung der Allgemeinheit sein, sein Streben zugleich aber, diese Zweck¬ ordnung nach der Gerechtigkeit, nach dem allgemeinen sozialen Empfinden zu gestalten. Ob das Mittel zur Erreichung dieses Zieles das Dreiklassenwahlrecht sein kann, braucht nach dem Vorausgehenden wohl kaum erörtert zu werden; ob aber das Reichstagswahlrecht, d. h. also das gleiche, geheime, direkte Wahlrecht, sich dazu eignet, soll im folgenden untersucht werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/404>, abgerufen am 25.07.2024.