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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Zwischen altgermnnischem und griechisch¬
römischem Mythentum ist eine tiefe Kluft.
Im sonnigen Süden sind die Götter mensch¬
lich von Gestalt und Denkungscirt, die riesigen
Unholde treten weit zurück. Zeus hat zwar
den Blitz, im übrigen bedienen sich die Götter
menschlicher Waffen. Im Norden neigt sich
der Sinn nicht nur dem Ungeheueren zu,
sondern dem Zaubernden, dem spukhaften.
Odin ist der zaubernde Gott, der mit ge¬
heimnisvollen Sprüchen seine Wunder tut.
Das Beschwören der Abgeschiedenen durch
Sprüche und wunderbare Handlungen spielt
im Norden eine große Rolle, während die
Herauslockung der Unterwelt durch Odysseus
ini antiken Wunderwesen sehr vereinzelt da¬
steht. Dieses ganze Gebiet stellt Conrad
Müller unter der Überschrift "Secmythische
Niederschläge" vortrefflich zusammen, seinem
Ziel entsprechend, dabei das Seewesen ge¬
bührend in den Bordergrund.

Von der nordgermanischen Schiffahrt in
allen ihren Zweigen stellt unser Verfasser viel
Interessantes zusammen, wobei in erster
Linie die isländisch-skandinavischen Sagen
und Chroniken, dann das angelsächsische
Beowulfslied und endlich das im dreizehnten
Jahrhundert in Bayern oder Tirol aufge¬
zeichnete, jedoch stofflich durchaus dänische
Gudrunlied reiche Ausbeute liefern.

Von der germanischen Meeresherrschaft
im frühen Mittelalter wissen wir nichts.
Britannien war bis um 450 keltisch-römisch.
Vor irgendwelcher geschichtlichen Aufzeichnung
aus jener Zeit und Gegend, um die Mitte
des zweiten Jahrhunderts, müssen sich die
Goten von beiden Seiten der mittleren Ostsee
aufgemacht haben -- die schwedischen müssen
also zu Schiff herübergekommen sein -- und
südostwärts jene bedeutsamen Wanderzüge
unternommen haben, mit denen wir den Ab¬
schnitt der "Völkerwanderung" .zu beginnen
Pflegen.

Langsam wälzten sich die Massen der
Völker neuen Ländern zu. Die Ostgoten
zogen am Dujepr hinunter zuni Schwarzen
Meer, wo sie 214 n. Chr. den ersten geschicht¬
lich gemeldeten Zusammenstoß mit den Römern
hatten. Die Westgoten wählten einen Weg
durch Schlesien, Galizien, das heutige Ru¬
mänien. Mit den Goten zogen die verwandten

[Spaltenumbruch]

Stämme der Gepiden, Alanen, Wandalen
und andere. Die Westgoten betätigen sich
nicht als Seevolk, sie endigen in Südfrank¬
reich und Spanien; die Ostgoten aber nehmen
am Pontos ihre seemännischen Überlieferungen
wieder auf, bauen Schiffe, bauen Flotten
und brandschatzen alsbald die umliegenden
Länder. Bald belagern sie blühende Städte
des römischen Orients, fahren an Byzanz
vorbei, kommen bis Kreta, siegen zu Schiff
und zu Lande und werden manchmal zu
Lande besiegt. 451 machen sie Attilas Zug
nach Gallien mit, aus dessen Mißerfolg
weiterhin ihr norditalienisches Reich unter
Theodorich und seinen Nachfolgern hervor¬
geht. Schon die früher hierher gekommenen
oberdeutschen Stämme hatten keine Beziehung
zur See gehabt. Daß aber auch das ost¬
gotische Reich in Ravenna versäumte, sich
eine Seemacht zu schaffen, wozu es nur seine
Pontischen Traditionen hätte fortzusetzen
brauchen, muß man mit Conrad Müller als
eine Hauptursache seines raschen Untergangs
ansehen. Die byzantinischen Flotten unter
Belisar und Narses zertrümmerten den go¬
tischen Bau, was Landheere kaum vermocht
hätten.

Im lebhaftesten Gegensatz dazu sollte das
gleichzeitige Vandalenreich auf afrikanischen!
Boden zeigen, was die damaligen Germanen
im Mittelmeer konnten. Die an Volkszahl
sicher nicht sehr starken Vandalen kamen von
Spanien nach der nordafrikanischen Küste und
zogen durch das wehrlose Land nach Kar¬
thago, wo sie, zu Lande völlig unangreifbar,
ihr Reich errichteten. Unter Geiserichs genialer
Leitung nahmen sie sofort den Schiffsbau auf
und während das Römerreich seine Seemacht
gänzlich vernachlässigt hatte, wurden die
Vandalen alsbald die Engländer des fünften
Jahrhunderts. Ihre Flotten waren all¬
gegenwärtig. Jeder Entstehung einer See¬
macht kamen sie durch zerstörende Angriffe
zuvor Das alte germanische Seeheldentum
flammte bei den Vandalen, die doch etwa
dreihundert Jahre der Salzflut entfremdet
gewesen waren, wieder anf. Dann wandte
sich das Schicksal. Die Germanen verweich¬
lichten unter dem heißen Klima und dem
entnervenden Luxus. Sie vernachlässigten
ihre Flotte, während die Byzantiner die ihrige

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Zwischen altgermnnischem und griechisch¬
römischem Mythentum ist eine tiefe Kluft.
Im sonnigen Süden sind die Götter mensch¬
lich von Gestalt und Denkungscirt, die riesigen
Unholde treten weit zurück. Zeus hat zwar
den Blitz, im übrigen bedienen sich die Götter
menschlicher Waffen. Im Norden neigt sich
der Sinn nicht nur dem Ungeheueren zu,
sondern dem Zaubernden, dem spukhaften.
Odin ist der zaubernde Gott, der mit ge¬
heimnisvollen Sprüchen seine Wunder tut.
Das Beschwören der Abgeschiedenen durch
Sprüche und wunderbare Handlungen spielt
im Norden eine große Rolle, während die
Herauslockung der Unterwelt durch Odysseus
ini antiken Wunderwesen sehr vereinzelt da¬
steht. Dieses ganze Gebiet stellt Conrad
Müller unter der Überschrift „Secmythische
Niederschläge" vortrefflich zusammen, seinem
Ziel entsprechend, dabei das Seewesen ge¬
bührend in den Bordergrund.

Von der nordgermanischen Schiffahrt in
allen ihren Zweigen stellt unser Verfasser viel
Interessantes zusammen, wobei in erster
Linie die isländisch-skandinavischen Sagen
und Chroniken, dann das angelsächsische
Beowulfslied und endlich das im dreizehnten
Jahrhundert in Bayern oder Tirol aufge¬
zeichnete, jedoch stofflich durchaus dänische
Gudrunlied reiche Ausbeute liefern.

Von der germanischen Meeresherrschaft
im frühen Mittelalter wissen wir nichts.
Britannien war bis um 450 keltisch-römisch.
Vor irgendwelcher geschichtlichen Aufzeichnung
aus jener Zeit und Gegend, um die Mitte
des zweiten Jahrhunderts, müssen sich die
Goten von beiden Seiten der mittleren Ostsee
aufgemacht haben — die schwedischen müssen
also zu Schiff herübergekommen sein — und
südostwärts jene bedeutsamen Wanderzüge
unternommen haben, mit denen wir den Ab¬
schnitt der „Völkerwanderung" .zu beginnen
Pflegen.

Langsam wälzten sich die Massen der
Völker neuen Ländern zu. Die Ostgoten
zogen am Dujepr hinunter zuni Schwarzen
Meer, wo sie 214 n. Chr. den ersten geschicht¬
lich gemeldeten Zusammenstoß mit den Römern
hatten. Die Westgoten wählten einen Weg
durch Schlesien, Galizien, das heutige Ru¬
mänien. Mit den Goten zogen die verwandten

[Spaltenumbruch]

Stämme der Gepiden, Alanen, Wandalen
und andere. Die Westgoten betätigen sich
nicht als Seevolk, sie endigen in Südfrank¬
reich und Spanien; die Ostgoten aber nehmen
am Pontos ihre seemännischen Überlieferungen
wieder auf, bauen Schiffe, bauen Flotten
und brandschatzen alsbald die umliegenden
Länder. Bald belagern sie blühende Städte
des römischen Orients, fahren an Byzanz
vorbei, kommen bis Kreta, siegen zu Schiff
und zu Lande und werden manchmal zu
Lande besiegt. 451 machen sie Attilas Zug
nach Gallien mit, aus dessen Mißerfolg
weiterhin ihr norditalienisches Reich unter
Theodorich und seinen Nachfolgern hervor¬
geht. Schon die früher hierher gekommenen
oberdeutschen Stämme hatten keine Beziehung
zur See gehabt. Daß aber auch das ost¬
gotische Reich in Ravenna versäumte, sich
eine Seemacht zu schaffen, wozu es nur seine
Pontischen Traditionen hätte fortzusetzen
brauchen, muß man mit Conrad Müller als
eine Hauptursache seines raschen Untergangs
ansehen. Die byzantinischen Flotten unter
Belisar und Narses zertrümmerten den go¬
tischen Bau, was Landheere kaum vermocht
hätten.

Im lebhaftesten Gegensatz dazu sollte das
gleichzeitige Vandalenreich auf afrikanischen!
Boden zeigen, was die damaligen Germanen
im Mittelmeer konnten. Die an Volkszahl
sicher nicht sehr starken Vandalen kamen von
Spanien nach der nordafrikanischen Küste und
zogen durch das wehrlose Land nach Kar¬
thago, wo sie, zu Lande völlig unangreifbar,
ihr Reich errichteten. Unter Geiserichs genialer
Leitung nahmen sie sofort den Schiffsbau auf
und während das Römerreich seine Seemacht
gänzlich vernachlässigt hatte, wurden die
Vandalen alsbald die Engländer des fünften
Jahrhunderts. Ihre Flotten waren all¬
gegenwärtig. Jeder Entstehung einer See¬
macht kamen sie durch zerstörende Angriffe
zuvor Das alte germanische Seeheldentum
flammte bei den Vandalen, die doch etwa
dreihundert Jahre der Salzflut entfremdet
gewesen waren, wieder anf. Dann wandte
sich das Schicksal. Die Germanen verweich¬
lichten unter dem heißen Klima und dem
entnervenden Luxus. Sie vernachlässigten
ihre Flotte, während die Byzantiner die ihrige

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[0247] Maßgebliches und Unmaßgebliches Zwischen altgermnnischem und griechisch¬ römischem Mythentum ist eine tiefe Kluft. Im sonnigen Süden sind die Götter mensch¬ lich von Gestalt und Denkungscirt, die riesigen Unholde treten weit zurück. Zeus hat zwar den Blitz, im übrigen bedienen sich die Götter menschlicher Waffen. Im Norden neigt sich der Sinn nicht nur dem Ungeheueren zu, sondern dem Zaubernden, dem spukhaften. Odin ist der zaubernde Gott, der mit ge¬ heimnisvollen Sprüchen seine Wunder tut. Das Beschwören der Abgeschiedenen durch Sprüche und wunderbare Handlungen spielt im Norden eine große Rolle, während die Herauslockung der Unterwelt durch Odysseus ini antiken Wunderwesen sehr vereinzelt da¬ steht. Dieses ganze Gebiet stellt Conrad Müller unter der Überschrift „Secmythische Niederschläge" vortrefflich zusammen, seinem Ziel entsprechend, dabei das Seewesen ge¬ bührend in den Bordergrund. Von der nordgermanischen Schiffahrt in allen ihren Zweigen stellt unser Verfasser viel Interessantes zusammen, wobei in erster Linie die isländisch-skandinavischen Sagen und Chroniken, dann das angelsächsische Beowulfslied und endlich das im dreizehnten Jahrhundert in Bayern oder Tirol aufge¬ zeichnete, jedoch stofflich durchaus dänische Gudrunlied reiche Ausbeute liefern. Von der germanischen Meeresherrschaft im frühen Mittelalter wissen wir nichts. Britannien war bis um 450 keltisch-römisch. Vor irgendwelcher geschichtlichen Aufzeichnung aus jener Zeit und Gegend, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts, müssen sich die Goten von beiden Seiten der mittleren Ostsee aufgemacht haben — die schwedischen müssen also zu Schiff herübergekommen sein — und südostwärts jene bedeutsamen Wanderzüge unternommen haben, mit denen wir den Ab¬ schnitt der „Völkerwanderung" .zu beginnen Pflegen. Langsam wälzten sich die Massen der Völker neuen Ländern zu. Die Ostgoten zogen am Dujepr hinunter zuni Schwarzen Meer, wo sie 214 n. Chr. den ersten geschicht¬ lich gemeldeten Zusammenstoß mit den Römern hatten. Die Westgoten wählten einen Weg durch Schlesien, Galizien, das heutige Ru¬ mänien. Mit den Goten zogen die verwandten Stämme der Gepiden, Alanen, Wandalen und andere. Die Westgoten betätigen sich nicht als Seevolk, sie endigen in Südfrank¬ reich und Spanien; die Ostgoten aber nehmen am Pontos ihre seemännischen Überlieferungen wieder auf, bauen Schiffe, bauen Flotten und brandschatzen alsbald die umliegenden Länder. Bald belagern sie blühende Städte des römischen Orients, fahren an Byzanz vorbei, kommen bis Kreta, siegen zu Schiff und zu Lande und werden manchmal zu Lande besiegt. 451 machen sie Attilas Zug nach Gallien mit, aus dessen Mißerfolg weiterhin ihr norditalienisches Reich unter Theodorich und seinen Nachfolgern hervor¬ geht. Schon die früher hierher gekommenen oberdeutschen Stämme hatten keine Beziehung zur See gehabt. Daß aber auch das ost¬ gotische Reich in Ravenna versäumte, sich eine Seemacht zu schaffen, wozu es nur seine Pontischen Traditionen hätte fortzusetzen brauchen, muß man mit Conrad Müller als eine Hauptursache seines raschen Untergangs ansehen. Die byzantinischen Flotten unter Belisar und Narses zertrümmerten den go¬ tischen Bau, was Landheere kaum vermocht hätten. Im lebhaftesten Gegensatz dazu sollte das gleichzeitige Vandalenreich auf afrikanischen! Boden zeigen, was die damaligen Germanen im Mittelmeer konnten. Die an Volkszahl sicher nicht sehr starken Vandalen kamen von Spanien nach der nordafrikanischen Küste und zogen durch das wehrlose Land nach Kar¬ thago, wo sie, zu Lande völlig unangreifbar, ihr Reich errichteten. Unter Geiserichs genialer Leitung nahmen sie sofort den Schiffsbau auf und während das Römerreich seine Seemacht gänzlich vernachlässigt hatte, wurden die Vandalen alsbald die Engländer des fünften Jahrhunderts. Ihre Flotten waren all¬ gegenwärtig. Jeder Entstehung einer See¬ macht kamen sie durch zerstörende Angriffe zuvor Das alte germanische Seeheldentum flammte bei den Vandalen, die doch etwa dreihundert Jahre der Salzflut entfremdet gewesen waren, wieder anf. Dann wandte sich das Schicksal. Die Germanen verweich¬ lichten unter dem heißen Klima und dem entnervenden Luxus. Sie vernachlässigten ihre Flotte, während die Byzantiner die ihrige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/247>, abgerufen am 04.07.2024.