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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Zugendfürsorge

indessen fürchteten, daß das Kind hilfsbedürftig werden würde, wobei nicht sie
einmal, sondern andere Armenverbände die Kosten zu tragen hatten, so erzwangen
sie die Wegbringung des Kindes durch Mißbrauch ihrer Befugnisse. Das Ge¬
setz verbietet den Gemeinden ausdrücklich eine solche Ausweisung aus Besorgnis
vor künftiger Verarmung (Z 4 des Freizügigkeitsgesetzes). Die Befugnisse, die
das Gesetz ihnen zum Schutze solcher Kinder gab, mißbrauchten sie, um sich des
Säuglings, dem an sich jeder Pflegewechsel schädlich ist, zu entledigen. Von
einer Bestrafung der Behörden, wie sie sonst gelegentlich tatsächlich erfolgt ist,
hat man in dem Falle noch nichts vernommen. Freilich wenn man mit solcher
Bestrafung an einer Stelle anfangen wollte, so wäre kein Ende abzusehen, denn
diese Abschiebung gerade von kleinen Kindern kommt immer wieder vor und
wird fast nie verfolgt, weil die kleinen Kinder nicht selbst sich beschweren können.
Vor wenigen Jahren erst habe ich drei solcher Fälle aktenmäßig belegt ver¬
öffentlicht, die im engsten Umkreis einer einzigen Stadt in zwei Jahren zu
meiner Kenntnis gekommen waren und von denen einer noch besonders inter¬
essant war, da der Kreisausschuß, die einzige Instanz, an die sich der Arme
wenden kann -- einen Rechtsweg gibt es für ihn nicht --, mit fadenscheinigen
Gründen jenes Verhalten gedeckt hatte, wobei sich der schöne Vordruck: "Diese
Entscheidung ist nach Paragraph so und so endgültig", fast wie eine besondere
Verhöhnung des armen Kindes ausnahm.

Das ist nur eine Blütenlese aus einer Fülle von Beispielen eines Kinder¬
elends, das nicht die sozialen Verhältnisse, nicht die Unvernunft der Eltern oder
die Schlechtigkeit der Kinder zur Ursache hat, sondern das Verfahren der Be¬
hörden. Was ich hier anführe, sind Tatsachen, für die alle einzelnen Belege
jederzeit noch zu beschaffen sind. Wie seltsam nimmt sich der Eifer in der
Fürsorgeerziehung und bei den Jugendgerichten aus, während die Behörden selber
die Ursache körperlichen Elends und sittlicher Verkommenheit bei ihren Schütz¬
lingen sind, soweit diese der Tod nicht ihrem Jammer entreißt. Wie groß die
Zahl der Kinder ist, die so "öffentlich versorgt" wird, entzieht sich jeder
Schätzung. Wohl aber wissen wir, daß die Gesamtheit der Kinder, die aus
öffentlichen Mitteln erhalten werden, eine Viertelmillion beträgt. Ein
ganzes Heer von Kindern ist es, von dem ein nicht geringer Teil so zugrunde
gerichtet wird!

Es muß nun gefragt werden: wie ist es denn möglich, daß Behörden so
pflichtvergessen handeln, wo das Gesetz ihnen so hohe und heilige Pflichten auf¬
erlegt? Um das Ergebnis gleich vorweg zu nennen: das Gesetz legt den Be¬
hörden Pflichten auf, denen sie nicht gewachsen sind, die sie oft mit dem besten
Willen nicht erfüllen können. Es ist das Gesetz, das in letzter Linie die Schuld
trügt, nicht jene Behörden -- wenigstens in vielen Fällen; das Gesetz und
unsere Gesellschaft, die es duldet, daß ein so wichtiges Ding wie die Versorgung
jener Viertelmillion Kinder zum Teil Organen anvertraut bleibt die diesen
Schutz nicht ausüben können.


Grundfragen der Zugendfürsorge

indessen fürchteten, daß das Kind hilfsbedürftig werden würde, wobei nicht sie
einmal, sondern andere Armenverbände die Kosten zu tragen hatten, so erzwangen
sie die Wegbringung des Kindes durch Mißbrauch ihrer Befugnisse. Das Ge¬
setz verbietet den Gemeinden ausdrücklich eine solche Ausweisung aus Besorgnis
vor künftiger Verarmung (Z 4 des Freizügigkeitsgesetzes). Die Befugnisse, die
das Gesetz ihnen zum Schutze solcher Kinder gab, mißbrauchten sie, um sich des
Säuglings, dem an sich jeder Pflegewechsel schädlich ist, zu entledigen. Von
einer Bestrafung der Behörden, wie sie sonst gelegentlich tatsächlich erfolgt ist,
hat man in dem Falle noch nichts vernommen. Freilich wenn man mit solcher
Bestrafung an einer Stelle anfangen wollte, so wäre kein Ende abzusehen, denn
diese Abschiebung gerade von kleinen Kindern kommt immer wieder vor und
wird fast nie verfolgt, weil die kleinen Kinder nicht selbst sich beschweren können.
Vor wenigen Jahren erst habe ich drei solcher Fälle aktenmäßig belegt ver¬
öffentlicht, die im engsten Umkreis einer einzigen Stadt in zwei Jahren zu
meiner Kenntnis gekommen waren und von denen einer noch besonders inter¬
essant war, da der Kreisausschuß, die einzige Instanz, an die sich der Arme
wenden kann — einen Rechtsweg gibt es für ihn nicht —, mit fadenscheinigen
Gründen jenes Verhalten gedeckt hatte, wobei sich der schöne Vordruck: „Diese
Entscheidung ist nach Paragraph so und so endgültig", fast wie eine besondere
Verhöhnung des armen Kindes ausnahm.

Das ist nur eine Blütenlese aus einer Fülle von Beispielen eines Kinder¬
elends, das nicht die sozialen Verhältnisse, nicht die Unvernunft der Eltern oder
die Schlechtigkeit der Kinder zur Ursache hat, sondern das Verfahren der Be¬
hörden. Was ich hier anführe, sind Tatsachen, für die alle einzelnen Belege
jederzeit noch zu beschaffen sind. Wie seltsam nimmt sich der Eifer in der
Fürsorgeerziehung und bei den Jugendgerichten aus, während die Behörden selber
die Ursache körperlichen Elends und sittlicher Verkommenheit bei ihren Schütz¬
lingen sind, soweit diese der Tod nicht ihrem Jammer entreißt. Wie groß die
Zahl der Kinder ist, die so „öffentlich versorgt" wird, entzieht sich jeder
Schätzung. Wohl aber wissen wir, daß die Gesamtheit der Kinder, die aus
öffentlichen Mitteln erhalten werden, eine Viertelmillion beträgt. Ein
ganzes Heer von Kindern ist es, von dem ein nicht geringer Teil so zugrunde
gerichtet wird!

Es muß nun gefragt werden: wie ist es denn möglich, daß Behörden so
pflichtvergessen handeln, wo das Gesetz ihnen so hohe und heilige Pflichten auf¬
erlegt? Um das Ergebnis gleich vorweg zu nennen: das Gesetz legt den Be¬
hörden Pflichten auf, denen sie nicht gewachsen sind, die sie oft mit dem besten
Willen nicht erfüllen können. Es ist das Gesetz, das in letzter Linie die Schuld
trügt, nicht jene Behörden — wenigstens in vielen Fällen; das Gesetz und
unsere Gesellschaft, die es duldet, daß ein so wichtiges Ding wie die Versorgung
jener Viertelmillion Kinder zum Teil Organen anvertraut bleibt die diesen
Schutz nicht ausüben können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/171>, abgerufen am 21.06.2024.