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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grundfragen der Ingondfürsorge

wird. Daher hat die Armenpflege bei Kindern doch in größerem Umfange vor¬
beugenden Charakter; sie schützt die armen Kinder schon, wenn sie noch nicht
gefährdet, vor allem noch nicht sittlich geschädigt sind.

Wir denken bei Armenpflege von Kindern in den meisten Fällen an
Waisen. Dieses Wort erfreut sich eines angenehmen Rufes, ihm wohnt ein
seit Jahrhunderten ausgebildeter Gefühlswert inne, so daß jedes Herz bei
seinem Klänge zur Milde gestimmt wird. Es gibt heutigen Tages noch immer
Leute, die Waisenhäuser stiften und erbauen wollen, weil die armen Waisen so
bemitleidenswert sind. Diesen Leuten entgeht völlig, daß von allen schutz¬
bedürftiger Kindern die Waisen weitaus am besten versorgt sind. Ihre Be¬
dürftigkeit tritt so deutlich zu Tage, sie festzustellen bedarf so weniger Umstände,
daß ein Waisenkind fast stets rechtzeitig in öffentliche Versorgung kommt, wenn
sich nicht schon vorher ein mildtätiges Herz seiner annimmt. Die Zahl der
Waisen, besonders der versorgungsbedürftigen Waisen nimmt übrigens erkennbar
ab. Die Menschen werden langlebiger wie früher, die Mütter sterben nicht
mehr so früh, besonders seit die gefährlichen Wochenbettkrankheiten abgenommen
haben. Vielleicht wirken auch die modernen Versicherungsgesetze dahin, daß
manche Waisen und Halbwaisen eigene Mittel zur Verfügung haben, die es
vor wenigen Jahrzehnten für sie noch nicht gab. Selbst wenn gelegentlich
Deutschland auch heute noch sür seine Veteranen betteln gehen muß, so haben
wir doch im ganzen für Kriegerwitwen und -waisen wie sür Beamte eine einiger¬
maßen brauchbare Versorgung, so daß die Zahl der hilfsbedürftigen Waisen schon
durch solche Einrichtungen vermindert wird.

Die Waisen bilden daher heute nur einen Teil, einen kleinen Teil, der
öffentlich versorgten Kinder. Dagegen ist deren Gesamtzahl nicht kleiner, sondern
größer geworden, weil ganz andere Gruppen jetzt unter ihnen die Hauptrolle
spielen. In den großen Städten beträgt die Zahl der Waisen unter den Armen-
pfleglingen etwa ein Zehntel. Neben 115 Waisen wurden z. B. im
Jahre 1905 in der Stadt Hamburg 827 andere Kinder in die
öffentliche Waisenpflege übernommen; und ähnlich ist das Verhältnis auch in
anderen Orten.

Wieviel Kinder müssen im Deutschen Reiche so im Wege der öffentlichen
Armenpflege gänzlich versorgt werden? Das läßt sich nur schätzungsweise
angeben. Wahrscheinlich wird ihre Zahl mit 250000 eher zu niedrig als zu
hoch angenommen. Schon allein auf Grund dieser Zahlen wird man es verstehen,
wenn wir als erstes und bedeutsamstes Institut des Kinderschutzes die Armen¬
pflege anführen. Die Art, wie sie ihre Aufgaben erfüllt, wie sie die ihr
anvertrauten Kinder erzieht, entscheidet über das Schicksal zahlreicher hilfloser
Glieder unseres Volkes. Nur die einseitige Betonung von Fürsorgeerziehung
und Strafrecht bei Jugendlichen hat dazu führen können, daß die Öffentlichkeit
sich um die Armenpflege von Kindern so gut wie gar nicht kümmerte. Doch
vielleicht kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht darum, weil es mit dieser Armen-


Grundfragen der Ingondfürsorge

wird. Daher hat die Armenpflege bei Kindern doch in größerem Umfange vor¬
beugenden Charakter; sie schützt die armen Kinder schon, wenn sie noch nicht
gefährdet, vor allem noch nicht sittlich geschädigt sind.

Wir denken bei Armenpflege von Kindern in den meisten Fällen an
Waisen. Dieses Wort erfreut sich eines angenehmen Rufes, ihm wohnt ein
seit Jahrhunderten ausgebildeter Gefühlswert inne, so daß jedes Herz bei
seinem Klänge zur Milde gestimmt wird. Es gibt heutigen Tages noch immer
Leute, die Waisenhäuser stiften und erbauen wollen, weil die armen Waisen so
bemitleidenswert sind. Diesen Leuten entgeht völlig, daß von allen schutz¬
bedürftiger Kindern die Waisen weitaus am besten versorgt sind. Ihre Be¬
dürftigkeit tritt so deutlich zu Tage, sie festzustellen bedarf so weniger Umstände,
daß ein Waisenkind fast stets rechtzeitig in öffentliche Versorgung kommt, wenn
sich nicht schon vorher ein mildtätiges Herz seiner annimmt. Die Zahl der
Waisen, besonders der versorgungsbedürftigen Waisen nimmt übrigens erkennbar
ab. Die Menschen werden langlebiger wie früher, die Mütter sterben nicht
mehr so früh, besonders seit die gefährlichen Wochenbettkrankheiten abgenommen
haben. Vielleicht wirken auch die modernen Versicherungsgesetze dahin, daß
manche Waisen und Halbwaisen eigene Mittel zur Verfügung haben, die es
vor wenigen Jahrzehnten für sie noch nicht gab. Selbst wenn gelegentlich
Deutschland auch heute noch sür seine Veteranen betteln gehen muß, so haben
wir doch im ganzen für Kriegerwitwen und -waisen wie sür Beamte eine einiger¬
maßen brauchbare Versorgung, so daß die Zahl der hilfsbedürftigen Waisen schon
durch solche Einrichtungen vermindert wird.

Die Waisen bilden daher heute nur einen Teil, einen kleinen Teil, der
öffentlich versorgten Kinder. Dagegen ist deren Gesamtzahl nicht kleiner, sondern
größer geworden, weil ganz andere Gruppen jetzt unter ihnen die Hauptrolle
spielen. In den großen Städten beträgt die Zahl der Waisen unter den Armen-
pfleglingen etwa ein Zehntel. Neben 115 Waisen wurden z. B. im
Jahre 1905 in der Stadt Hamburg 827 andere Kinder in die
öffentliche Waisenpflege übernommen; und ähnlich ist das Verhältnis auch in
anderen Orten.

Wieviel Kinder müssen im Deutschen Reiche so im Wege der öffentlichen
Armenpflege gänzlich versorgt werden? Das läßt sich nur schätzungsweise
angeben. Wahrscheinlich wird ihre Zahl mit 250000 eher zu niedrig als zu
hoch angenommen. Schon allein auf Grund dieser Zahlen wird man es verstehen,
wenn wir als erstes und bedeutsamstes Institut des Kinderschutzes die Armen¬
pflege anführen. Die Art, wie sie ihre Aufgaben erfüllt, wie sie die ihr
anvertrauten Kinder erzieht, entscheidet über das Schicksal zahlreicher hilfloser
Glieder unseres Volkes. Nur die einseitige Betonung von Fürsorgeerziehung
und Strafrecht bei Jugendlichen hat dazu führen können, daß die Öffentlichkeit
sich um die Armenpflege von Kindern so gut wie gar nicht kümmerte. Doch
vielleicht kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht darum, weil es mit dieser Armen-


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[0168] Grundfragen der Ingondfürsorge wird. Daher hat die Armenpflege bei Kindern doch in größerem Umfange vor¬ beugenden Charakter; sie schützt die armen Kinder schon, wenn sie noch nicht gefährdet, vor allem noch nicht sittlich geschädigt sind. Wir denken bei Armenpflege von Kindern in den meisten Fällen an Waisen. Dieses Wort erfreut sich eines angenehmen Rufes, ihm wohnt ein seit Jahrhunderten ausgebildeter Gefühlswert inne, so daß jedes Herz bei seinem Klänge zur Milde gestimmt wird. Es gibt heutigen Tages noch immer Leute, die Waisenhäuser stiften und erbauen wollen, weil die armen Waisen so bemitleidenswert sind. Diesen Leuten entgeht völlig, daß von allen schutz¬ bedürftiger Kindern die Waisen weitaus am besten versorgt sind. Ihre Be¬ dürftigkeit tritt so deutlich zu Tage, sie festzustellen bedarf so weniger Umstände, daß ein Waisenkind fast stets rechtzeitig in öffentliche Versorgung kommt, wenn sich nicht schon vorher ein mildtätiges Herz seiner annimmt. Die Zahl der Waisen, besonders der versorgungsbedürftigen Waisen nimmt übrigens erkennbar ab. Die Menschen werden langlebiger wie früher, die Mütter sterben nicht mehr so früh, besonders seit die gefährlichen Wochenbettkrankheiten abgenommen haben. Vielleicht wirken auch die modernen Versicherungsgesetze dahin, daß manche Waisen und Halbwaisen eigene Mittel zur Verfügung haben, die es vor wenigen Jahrzehnten für sie noch nicht gab. Selbst wenn gelegentlich Deutschland auch heute noch sür seine Veteranen betteln gehen muß, so haben wir doch im ganzen für Kriegerwitwen und -waisen wie sür Beamte eine einiger¬ maßen brauchbare Versorgung, so daß die Zahl der hilfsbedürftigen Waisen schon durch solche Einrichtungen vermindert wird. Die Waisen bilden daher heute nur einen Teil, einen kleinen Teil, der öffentlich versorgten Kinder. Dagegen ist deren Gesamtzahl nicht kleiner, sondern größer geworden, weil ganz andere Gruppen jetzt unter ihnen die Hauptrolle spielen. In den großen Städten beträgt die Zahl der Waisen unter den Armen- pfleglingen etwa ein Zehntel. Neben 115 Waisen wurden z. B. im Jahre 1905 in der Stadt Hamburg 827 andere Kinder in die öffentliche Waisenpflege übernommen; und ähnlich ist das Verhältnis auch in anderen Orten. Wieviel Kinder müssen im Deutschen Reiche so im Wege der öffentlichen Armenpflege gänzlich versorgt werden? Das läßt sich nur schätzungsweise angeben. Wahrscheinlich wird ihre Zahl mit 250000 eher zu niedrig als zu hoch angenommen. Schon allein auf Grund dieser Zahlen wird man es verstehen, wenn wir als erstes und bedeutsamstes Institut des Kinderschutzes die Armen¬ pflege anführen. Die Art, wie sie ihre Aufgaben erfüllt, wie sie die ihr anvertrauten Kinder erzieht, entscheidet über das Schicksal zahlreicher hilfloser Glieder unseres Volkes. Nur die einseitige Betonung von Fürsorgeerziehung und Strafrecht bei Jugendlichen hat dazu führen können, daß die Öffentlichkeit sich um die Armenpflege von Kindern so gut wie gar nicht kümmerte. Doch vielleicht kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht darum, weil es mit dieser Armen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/168>, abgerufen am 23.06.2024.