Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Briefe

Organe der Selbstverwaltung sich nicht frei entwickelt hätten und die Polen
noch immer keine Autonomie haben.

Das Bedenkliche an der Sache ist, daß die russische Bureaukratie seit den
1870 er Jahren keinerlei irgendwie ernst zu nehmende Schritte unternommen
hat, um der Entwicklung der gegen Deutschland gerichteten Stimmung Einhalt
zu tun: sie hat sie sogar vielfach nach Kräften gefördert, um sie teils für ihre
Zwecke in der inneren Politik, aber auch zu ganz persönlichen Dingen aus¬
zunutzen.

Während die preußische Regierung bei sich, im Gegensatz zu Rußlands
Bundesgenossen und häufig genug im schärfsten Gegensatz zu den Empfindungen
im deutschen Volk, keinerlei liberale, gegen das russische Regime gerichtete
Propaganda duldete (man erinnere sich der Ausweisungen russischer politischer
Flüchtlinge und ihrer strengen Beaufsichtigung durch unsere Polizei vor 1904
und später) -- also während die preußische Negierung die russische Bureaukratie unter¬
stützte -- tat und tut dieselbe Bureaukratie nichts, um dem Märchen entgegenzutreten,
als habe Deutschland dieNotlage Rußlands absichtlich gefördert und inderperfidesten
Weise für seine eigenen Zwecke ausgebeutet. Und das ist der springende Punkt für
die Beurteilung der deutsch-russischen Beziehungen: solange man in Deutschland
den Eindruck haben konnte, daß eine von den besten Absichten beseelte, wenn
auch mit verzweifelten Mitteln kämpfende Regierung gewisse Ausschnitte der
auswärtigen Politik als Notbehelf zur Auslösung innerpolitischer Wirkungen
brauchte, solange konnten wir uns das Treiben selbst eines bedeutenden Teils
der russischen Presse gelassen mit ansehen, wenn wir auch die darin liegende
Gefahr durchaus nicht unterschätzten. Von dem Augenblick an jedoch, wo die
Bureaukratie aus der innerpolitischen Defensive eine scharfe, gegen das be¬
freundete Deutschland gerichtete Offensive machte -- das geschah 1909 -- hörte
die ohnehin schon auf eine schwere Probe gestellte Geduld auf. Was wir
früher als Ruf des einsamen Wanderers hingehen lassen konnten, ist zur Heraus¬
forderung geworden, die vielfaches Echo wecken mußte. Und in diesem Zusammen¬
hange ist es auch zu verstehen, wenn wir in Deutschland glaubten, eine Ver¬
anlassung zu haben, dem Nowoje Wremja eine Bedeutung beizumessen, die ihm
an den verantwortlichen Stellen zu Se. Petersburg ganz entschieden abgesprochen
wird: das Nowoje Wremja ist das Organ der Se. Petersburger Bureaukratie.

Gegenwärtig befindet sich nun die russische Bureaukratie in einer eigen¬
tümlichen Lage: sie müßte auf ein nach ihren eigenen Rezepten äußerst wirk¬
sames Mittel zur inneren Erneuerung der Staatsmaschine verzichten, wollte sie
ihre Presse zwingen, von der Hetze gegen Deutschland abzusehen. Sie hat sich
an dieses Hilfsmittel der Politik gewöhnt, hat damit dank der Unbekümmertheit
Deutschlands gewisse Erfolge erzielt und kann nun nicht recht darauf verzichten,
wo Aufgaben an sie herantreten, die doch geeignet sind, den russischen Staat
und damit das Dasein der Bureaukratie vor eine recht schwere Krise zu
stellen.


Russische Briefe

Organe der Selbstverwaltung sich nicht frei entwickelt hätten und die Polen
noch immer keine Autonomie haben.

Das Bedenkliche an der Sache ist, daß die russische Bureaukratie seit den
1870 er Jahren keinerlei irgendwie ernst zu nehmende Schritte unternommen
hat, um der Entwicklung der gegen Deutschland gerichteten Stimmung Einhalt
zu tun: sie hat sie sogar vielfach nach Kräften gefördert, um sie teils für ihre
Zwecke in der inneren Politik, aber auch zu ganz persönlichen Dingen aus¬
zunutzen.

Während die preußische Regierung bei sich, im Gegensatz zu Rußlands
Bundesgenossen und häufig genug im schärfsten Gegensatz zu den Empfindungen
im deutschen Volk, keinerlei liberale, gegen das russische Regime gerichtete
Propaganda duldete (man erinnere sich der Ausweisungen russischer politischer
Flüchtlinge und ihrer strengen Beaufsichtigung durch unsere Polizei vor 1904
und später) — also während die preußische Negierung die russische Bureaukratie unter¬
stützte — tat und tut dieselbe Bureaukratie nichts, um dem Märchen entgegenzutreten,
als habe Deutschland dieNotlage Rußlands absichtlich gefördert und inderperfidesten
Weise für seine eigenen Zwecke ausgebeutet. Und das ist der springende Punkt für
die Beurteilung der deutsch-russischen Beziehungen: solange man in Deutschland
den Eindruck haben konnte, daß eine von den besten Absichten beseelte, wenn
auch mit verzweifelten Mitteln kämpfende Regierung gewisse Ausschnitte der
auswärtigen Politik als Notbehelf zur Auslösung innerpolitischer Wirkungen
brauchte, solange konnten wir uns das Treiben selbst eines bedeutenden Teils
der russischen Presse gelassen mit ansehen, wenn wir auch die darin liegende
Gefahr durchaus nicht unterschätzten. Von dem Augenblick an jedoch, wo die
Bureaukratie aus der innerpolitischen Defensive eine scharfe, gegen das be¬
freundete Deutschland gerichtete Offensive machte — das geschah 1909 — hörte
die ohnehin schon auf eine schwere Probe gestellte Geduld auf. Was wir
früher als Ruf des einsamen Wanderers hingehen lassen konnten, ist zur Heraus¬
forderung geworden, die vielfaches Echo wecken mußte. Und in diesem Zusammen¬
hange ist es auch zu verstehen, wenn wir in Deutschland glaubten, eine Ver¬
anlassung zu haben, dem Nowoje Wremja eine Bedeutung beizumessen, die ihm
an den verantwortlichen Stellen zu Se. Petersburg ganz entschieden abgesprochen
wird: das Nowoje Wremja ist das Organ der Se. Petersburger Bureaukratie.

Gegenwärtig befindet sich nun die russische Bureaukratie in einer eigen¬
tümlichen Lage: sie müßte auf ein nach ihren eigenen Rezepten äußerst wirk¬
sames Mittel zur inneren Erneuerung der Staatsmaschine verzichten, wollte sie
ihre Presse zwingen, von der Hetze gegen Deutschland abzusehen. Sie hat sich
an dieses Hilfsmittel der Politik gewöhnt, hat damit dank der Unbekümmertheit
Deutschlands gewisse Erfolge erzielt und kann nun nicht recht darauf verzichten,
wo Aufgaben an sie herantreten, die doch geeignet sind, den russischen Staat
und damit das Dasein der Bureaukratie vor eine recht schwere Krise zu
stellen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0163" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328263"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_715" prev="#ID_714"> Organe der Selbstverwaltung sich nicht frei entwickelt hätten und die Polen<lb/>
noch immer keine Autonomie haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_716"> Das Bedenkliche an der Sache ist, daß die russische Bureaukratie seit den<lb/>
1870 er Jahren keinerlei irgendwie ernst zu nehmende Schritte unternommen<lb/>
hat, um der Entwicklung der gegen Deutschland gerichteten Stimmung Einhalt<lb/>
zu tun: sie hat sie sogar vielfach nach Kräften gefördert, um sie teils für ihre<lb/>
Zwecke in der inneren Politik, aber auch zu ganz persönlichen Dingen aus¬<lb/>
zunutzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_717"> Während die preußische Regierung bei sich, im Gegensatz zu Rußlands<lb/>
Bundesgenossen und häufig genug im schärfsten Gegensatz zu den Empfindungen<lb/>
im deutschen Volk, keinerlei liberale, gegen das russische Regime gerichtete<lb/>
Propaganda duldete (man erinnere sich der Ausweisungen russischer politischer<lb/>
Flüchtlinge und ihrer strengen Beaufsichtigung durch unsere Polizei vor 1904<lb/>
und später) &#x2014; also während die preußische Negierung die russische Bureaukratie unter¬<lb/>
stützte &#x2014; tat und tut dieselbe Bureaukratie nichts, um dem Märchen entgegenzutreten,<lb/>
als habe Deutschland dieNotlage Rußlands absichtlich gefördert und inderperfidesten<lb/>
Weise für seine eigenen Zwecke ausgebeutet. Und das ist der springende Punkt für<lb/>
die Beurteilung der deutsch-russischen Beziehungen: solange man in Deutschland<lb/>
den Eindruck haben konnte, daß eine von den besten Absichten beseelte, wenn<lb/>
auch mit verzweifelten Mitteln kämpfende Regierung gewisse Ausschnitte der<lb/>
auswärtigen Politik als Notbehelf zur Auslösung innerpolitischer Wirkungen<lb/>
brauchte, solange konnten wir uns das Treiben selbst eines bedeutenden Teils<lb/>
der russischen Presse gelassen mit ansehen, wenn wir auch die darin liegende<lb/>
Gefahr durchaus nicht unterschätzten. Von dem Augenblick an jedoch, wo die<lb/>
Bureaukratie aus der innerpolitischen Defensive eine scharfe, gegen das be¬<lb/>
freundete Deutschland gerichtete Offensive machte &#x2014; das geschah 1909 &#x2014; hörte<lb/>
die ohnehin schon auf eine schwere Probe gestellte Geduld auf. Was wir<lb/>
früher als Ruf des einsamen Wanderers hingehen lassen konnten, ist zur Heraus¬<lb/>
forderung geworden, die vielfaches Echo wecken mußte. Und in diesem Zusammen¬<lb/>
hange ist es auch zu verstehen, wenn wir in Deutschland glaubten, eine Ver¬<lb/>
anlassung zu haben, dem Nowoje Wremja eine Bedeutung beizumessen, die ihm<lb/>
an den verantwortlichen Stellen zu Se. Petersburg ganz entschieden abgesprochen<lb/>
wird: das Nowoje Wremja ist das Organ der Se. Petersburger Bureaukratie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_718"> Gegenwärtig befindet sich nun die russische Bureaukratie in einer eigen¬<lb/>
tümlichen Lage: sie müßte auf ein nach ihren eigenen Rezepten äußerst wirk¬<lb/>
sames Mittel zur inneren Erneuerung der Staatsmaschine verzichten, wollte sie<lb/>
ihre Presse zwingen, von der Hetze gegen Deutschland abzusehen. Sie hat sich<lb/>
an dieses Hilfsmittel der Politik gewöhnt, hat damit dank der Unbekümmertheit<lb/>
Deutschlands gewisse Erfolge erzielt und kann nun nicht recht darauf verzichten,<lb/>
wo Aufgaben an sie herantreten, die doch geeignet sind, den russischen Staat<lb/>
und damit das Dasein der Bureaukratie vor eine recht schwere Krise zu<lb/>
stellen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0163] Russische Briefe Organe der Selbstverwaltung sich nicht frei entwickelt hätten und die Polen noch immer keine Autonomie haben. Das Bedenkliche an der Sache ist, daß die russische Bureaukratie seit den 1870 er Jahren keinerlei irgendwie ernst zu nehmende Schritte unternommen hat, um der Entwicklung der gegen Deutschland gerichteten Stimmung Einhalt zu tun: sie hat sie sogar vielfach nach Kräften gefördert, um sie teils für ihre Zwecke in der inneren Politik, aber auch zu ganz persönlichen Dingen aus¬ zunutzen. Während die preußische Regierung bei sich, im Gegensatz zu Rußlands Bundesgenossen und häufig genug im schärfsten Gegensatz zu den Empfindungen im deutschen Volk, keinerlei liberale, gegen das russische Regime gerichtete Propaganda duldete (man erinnere sich der Ausweisungen russischer politischer Flüchtlinge und ihrer strengen Beaufsichtigung durch unsere Polizei vor 1904 und später) — also während die preußische Negierung die russische Bureaukratie unter¬ stützte — tat und tut dieselbe Bureaukratie nichts, um dem Märchen entgegenzutreten, als habe Deutschland dieNotlage Rußlands absichtlich gefördert und inderperfidesten Weise für seine eigenen Zwecke ausgebeutet. Und das ist der springende Punkt für die Beurteilung der deutsch-russischen Beziehungen: solange man in Deutschland den Eindruck haben konnte, daß eine von den besten Absichten beseelte, wenn auch mit verzweifelten Mitteln kämpfende Regierung gewisse Ausschnitte der auswärtigen Politik als Notbehelf zur Auslösung innerpolitischer Wirkungen brauchte, solange konnten wir uns das Treiben selbst eines bedeutenden Teils der russischen Presse gelassen mit ansehen, wenn wir auch die darin liegende Gefahr durchaus nicht unterschätzten. Von dem Augenblick an jedoch, wo die Bureaukratie aus der innerpolitischen Defensive eine scharfe, gegen das be¬ freundete Deutschland gerichtete Offensive machte — das geschah 1909 — hörte die ohnehin schon auf eine schwere Probe gestellte Geduld auf. Was wir früher als Ruf des einsamen Wanderers hingehen lassen konnten, ist zur Heraus¬ forderung geworden, die vielfaches Echo wecken mußte. Und in diesem Zusammen¬ hange ist es auch zu verstehen, wenn wir in Deutschland glaubten, eine Ver¬ anlassung zu haben, dem Nowoje Wremja eine Bedeutung beizumessen, die ihm an den verantwortlichen Stellen zu Se. Petersburg ganz entschieden abgesprochen wird: das Nowoje Wremja ist das Organ der Se. Petersburger Bureaukratie. Gegenwärtig befindet sich nun die russische Bureaukratie in einer eigen¬ tümlichen Lage: sie müßte auf ein nach ihren eigenen Rezepten äußerst wirk¬ sames Mittel zur inneren Erneuerung der Staatsmaschine verzichten, wollte sie ihre Presse zwingen, von der Hetze gegen Deutschland abzusehen. Sie hat sich an dieses Hilfsmittel der Politik gewöhnt, hat damit dank der Unbekümmertheit Deutschlands gewisse Erfolge erzielt und kann nun nicht recht darauf verzichten, wo Aufgaben an sie herantreten, die doch geeignet sind, den russischen Staat und damit das Dasein der Bureaukratie vor eine recht schwere Krise zu stellen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/163
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/163>, abgerufen am 21.06.2024.