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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

er folgt der Entwicklung der Dinge. Das
Erkennen soll in? Biologismus nur fest¬
stellen und beschreiben, es soll das Neben-
und das Nacheinander der Dinge zeigen. Das
Leben, das der Biologismus meint, ist nur
das natürliche, kausal verknüpfte Leben, aber
das Ganze des Lebens ist es nicht. Wollen
wir das Ganze des Lebens finden, so muß
das Denken Entwürfe schaffen, die das Leben
verwirklichen und gestalten muß.

Eucken geht nun von einer "axiomatischen
Gewißheit", einer "Überzeugung" aus, nämlich
daß wir und das Ganze des Lebensgeschehens
getragen sind von einem naturüberlegenen
geistigen Leben, von einem "Geistesleben",
das nicht auf die Enge des gesellschaftlichen
Kreises und auf die Seelenlosigkeit des natur¬
gesetzlicher Werdens beschränkt ist, sondern
das in souveräner Freiheit sich über das
natürliche Leben erhebt, und das dem Men¬
schen Anteil gibt an einem höheren Leben.

Zunächst ist das eine Behauptung, die
ihre Richtigkeit erst auszuweisen hat; aber
wir haben ein Recht von solcher Behauptung
-- gleichsam als einer später zu bestätigenden
Grundlage -- auszugehen, wenn uns alle
anderen Wege nicht zum Ziele führen. Das
Recht seiner Behauptung erhärtet Eucken auf
"noologischcm" Wege. Die noologische Methode
strebt danach, auf induktiven Wege zunächst
durch Analyse der Wirklichkeit Ansätze und
Offenbarungen eines geistigen Lebens zu
finden. Die großen geistigen Schöpfungen
der Menschen, die Arbeitswelt, z. B. die
Wissenschaft oder die Kunst, offenbaren solche
fundamentale Tatsachen. So reduziert die
Analyse das Leben der Menschheit auf die
treibenden geistigen Kräfte.

Die Analyse zeigt Einzelzüge des geistigen
Lebens, von dessen Behauptung Eucken aus¬
ging, und dessen Wirklichkeit schrittweise zu
erhärten ist. Solche Einzelzüge müssen durch
Synthese zu einem Ganzen zusammengeschlossen
werden. Die großen Weltanschauungstypen,
z. B, des Altertums, des Mittelalters, der
Neuzeit, oder Idealismus und Nationalismus
stellen den Versuch solcher Synthesen, einer
Gestaltung des Lebens aus einem einheit¬
lichen Prinzip dar. Allerdings hatten sie alle
nichts Fertiges geleistet, aber aus allem schaut
der Drang des Geistes, zu sich selber zu

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kommen. Es gilt ihren "Wahrheitsgehalt"
zu erkennen, die Wahrheit dem Irrtum zu
entwinden und so immer mehr zur Wahrheit
vorzudringen.

Damit ist bereits gesagt, was Eucken unter
Wahrheit versteht. Nicht die Übereinstim¬
mung unseres Denkens mit einem Draußen,
nicht das dem Irdischen Förderliche, nicht die
Elemente der Natur, sondern das geistige
Leben ist die Wahrheit. Diese Wahrheit können
wir nur finden durch ehrliche Arbeit. Wir haben
sie nicht, sie fällt uns nicht fertig in den Schoß,
wir müssen zu ihr Vordringen. Dabei gilt es
drei Stufen zu durchlaufen.

Die erste Stufe ist die Stufe der Kritik.
Diese Kritik beschränkt sich nicht aus das
intellektuelle Gebiet, sie erschüttert auch,
was bisher vielen als Kunst, als Sittlichkeit,
als Religion gegolten hat. Indessen kann
die Kritik nur weiterführen, Wenn sie nicht
der Abschluß, sondern der Anfang ist. Das
ist nur möglich, wenn die Kritik von einem
kraftvollen Leben getragen ist, wenn sie in sich
die Keime der Wahrheit enthält.

-Sollen diese Wahrheitskeime entwickelt wer¬
den, so muß eine große Wendung, eine Versetzung
in ein selbständiges "Reich des Schaffens"*) er¬
folgen. Es kommt alles darauf an, daß das
geistige Leben nicht an den einzelnen Menschen
gefesselt bleibt, es muß sich über die Bedürf¬
nisse und Zwecke des einzelnen Menschen er¬
heben. Das ist aber nur möglich, wenn daS,
was an Geistigen im Menschen lebt, die Ent¬
faltung eines selbständigen Geschehens, die
Offenbarung einer neuen Welt ist, die unser
eigenes menschlich-irdisches Wesen umgestaltet.
Dadurch werden die AlltagSfragen klein und
belanglos, es tritt eine Umwertung der
Werte ein.

Die dritte Stufe auf dem Wege zur
Wahrheit ist die Arbeit. Die Welt des
Schaffens muß die Widerstände des feind¬
lichen Erdengeschehens niederringen. Reben
die Helden der schöpferischen Erneuerung
treten die Helden der Arbeit, die die belebende
Kraft des Geistes über die ganze Breite aus¬
dehnen und ihr den Boden gewinnen. Was

[Ende Spaltensatz]
") Der Ausdruck soll besagen, daß die
Wahrheit schöpferisch ist, daß sie neugestaltend
wirkt.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

er folgt der Entwicklung der Dinge. Das
Erkennen soll in? Biologismus nur fest¬
stellen und beschreiben, es soll das Neben-
und das Nacheinander der Dinge zeigen. Das
Leben, das der Biologismus meint, ist nur
das natürliche, kausal verknüpfte Leben, aber
das Ganze des Lebens ist es nicht. Wollen
wir das Ganze des Lebens finden, so muß
das Denken Entwürfe schaffen, die das Leben
verwirklichen und gestalten muß.

Eucken geht nun von einer „axiomatischen
Gewißheit", einer „Überzeugung" aus, nämlich
daß wir und das Ganze des Lebensgeschehens
getragen sind von einem naturüberlegenen
geistigen Leben, von einem „Geistesleben",
das nicht auf die Enge des gesellschaftlichen
Kreises und auf die Seelenlosigkeit des natur¬
gesetzlicher Werdens beschränkt ist, sondern
das in souveräner Freiheit sich über das
natürliche Leben erhebt, und das dem Men¬
schen Anteil gibt an einem höheren Leben.

Zunächst ist das eine Behauptung, die
ihre Richtigkeit erst auszuweisen hat; aber
wir haben ein Recht von solcher Behauptung
— gleichsam als einer später zu bestätigenden
Grundlage — auszugehen, wenn uns alle
anderen Wege nicht zum Ziele führen. Das
Recht seiner Behauptung erhärtet Eucken auf
„noologischcm" Wege. Die noologische Methode
strebt danach, auf induktiven Wege zunächst
durch Analyse der Wirklichkeit Ansätze und
Offenbarungen eines geistigen Lebens zu
finden. Die großen geistigen Schöpfungen
der Menschen, die Arbeitswelt, z. B. die
Wissenschaft oder die Kunst, offenbaren solche
fundamentale Tatsachen. So reduziert die
Analyse das Leben der Menschheit auf die
treibenden geistigen Kräfte.

Die Analyse zeigt Einzelzüge des geistigen
Lebens, von dessen Behauptung Eucken aus¬
ging, und dessen Wirklichkeit schrittweise zu
erhärten ist. Solche Einzelzüge müssen durch
Synthese zu einem Ganzen zusammengeschlossen
werden. Die großen Weltanschauungstypen,
z. B, des Altertums, des Mittelalters, der
Neuzeit, oder Idealismus und Nationalismus
stellen den Versuch solcher Synthesen, einer
Gestaltung des Lebens aus einem einheit¬
lichen Prinzip dar. Allerdings hatten sie alle
nichts Fertiges geleistet, aber aus allem schaut
der Drang des Geistes, zu sich selber zu

[Spaltenumbruch]

kommen. Es gilt ihren „Wahrheitsgehalt"
zu erkennen, die Wahrheit dem Irrtum zu
entwinden und so immer mehr zur Wahrheit
vorzudringen.

Damit ist bereits gesagt, was Eucken unter
Wahrheit versteht. Nicht die Übereinstim¬
mung unseres Denkens mit einem Draußen,
nicht das dem Irdischen Förderliche, nicht die
Elemente der Natur, sondern das geistige
Leben ist die Wahrheit. Diese Wahrheit können
wir nur finden durch ehrliche Arbeit. Wir haben
sie nicht, sie fällt uns nicht fertig in den Schoß,
wir müssen zu ihr Vordringen. Dabei gilt es
drei Stufen zu durchlaufen.

Die erste Stufe ist die Stufe der Kritik.
Diese Kritik beschränkt sich nicht aus das
intellektuelle Gebiet, sie erschüttert auch,
was bisher vielen als Kunst, als Sittlichkeit,
als Religion gegolten hat. Indessen kann
die Kritik nur weiterführen, Wenn sie nicht
der Abschluß, sondern der Anfang ist. Das
ist nur möglich, wenn die Kritik von einem
kraftvollen Leben getragen ist, wenn sie in sich
die Keime der Wahrheit enthält.

-Sollen diese Wahrheitskeime entwickelt wer¬
den, so muß eine große Wendung, eine Versetzung
in ein selbständiges „Reich des Schaffens"*) er¬
folgen. Es kommt alles darauf an, daß das
geistige Leben nicht an den einzelnen Menschen
gefesselt bleibt, es muß sich über die Bedürf¬
nisse und Zwecke des einzelnen Menschen er¬
heben. Das ist aber nur möglich, wenn daS,
was an Geistigen im Menschen lebt, die Ent¬
faltung eines selbständigen Geschehens, die
Offenbarung einer neuen Welt ist, die unser
eigenes menschlich-irdisches Wesen umgestaltet.
Dadurch werden die AlltagSfragen klein und
belanglos, es tritt eine Umwertung der
Werte ein.

Die dritte Stufe auf dem Wege zur
Wahrheit ist die Arbeit. Die Welt des
Schaffens muß die Widerstände des feind¬
lichen Erdengeschehens niederringen. Reben
die Helden der schöpferischen Erneuerung
treten die Helden der Arbeit, die die belebende
Kraft des Geistes über die ganze Breite aus¬
dehnen und ihr den Boden gewinnen. Was

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") Der Ausdruck soll besagen, daß die
Wahrheit schöpferisch ist, daß sie neugestaltend
wirkt.
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[0101] Maßgebliches und Unmaßgebliches er folgt der Entwicklung der Dinge. Das Erkennen soll in? Biologismus nur fest¬ stellen und beschreiben, es soll das Neben- und das Nacheinander der Dinge zeigen. Das Leben, das der Biologismus meint, ist nur das natürliche, kausal verknüpfte Leben, aber das Ganze des Lebens ist es nicht. Wollen wir das Ganze des Lebens finden, so muß das Denken Entwürfe schaffen, die das Leben verwirklichen und gestalten muß. Eucken geht nun von einer „axiomatischen Gewißheit", einer „Überzeugung" aus, nämlich daß wir und das Ganze des Lebensgeschehens getragen sind von einem naturüberlegenen geistigen Leben, von einem „Geistesleben", das nicht auf die Enge des gesellschaftlichen Kreises und auf die Seelenlosigkeit des natur¬ gesetzlicher Werdens beschränkt ist, sondern das in souveräner Freiheit sich über das natürliche Leben erhebt, und das dem Men¬ schen Anteil gibt an einem höheren Leben. Zunächst ist das eine Behauptung, die ihre Richtigkeit erst auszuweisen hat; aber wir haben ein Recht von solcher Behauptung — gleichsam als einer später zu bestätigenden Grundlage — auszugehen, wenn uns alle anderen Wege nicht zum Ziele führen. Das Recht seiner Behauptung erhärtet Eucken auf „noologischcm" Wege. Die noologische Methode strebt danach, auf induktiven Wege zunächst durch Analyse der Wirklichkeit Ansätze und Offenbarungen eines geistigen Lebens zu finden. Die großen geistigen Schöpfungen der Menschen, die Arbeitswelt, z. B. die Wissenschaft oder die Kunst, offenbaren solche fundamentale Tatsachen. So reduziert die Analyse das Leben der Menschheit auf die treibenden geistigen Kräfte. Die Analyse zeigt Einzelzüge des geistigen Lebens, von dessen Behauptung Eucken aus¬ ging, und dessen Wirklichkeit schrittweise zu erhärten ist. Solche Einzelzüge müssen durch Synthese zu einem Ganzen zusammengeschlossen werden. Die großen Weltanschauungstypen, z. B, des Altertums, des Mittelalters, der Neuzeit, oder Idealismus und Nationalismus stellen den Versuch solcher Synthesen, einer Gestaltung des Lebens aus einem einheit¬ lichen Prinzip dar. Allerdings hatten sie alle nichts Fertiges geleistet, aber aus allem schaut der Drang des Geistes, zu sich selber zu kommen. Es gilt ihren „Wahrheitsgehalt" zu erkennen, die Wahrheit dem Irrtum zu entwinden und so immer mehr zur Wahrheit vorzudringen. Damit ist bereits gesagt, was Eucken unter Wahrheit versteht. Nicht die Übereinstim¬ mung unseres Denkens mit einem Draußen, nicht das dem Irdischen Förderliche, nicht die Elemente der Natur, sondern das geistige Leben ist die Wahrheit. Diese Wahrheit können wir nur finden durch ehrliche Arbeit. Wir haben sie nicht, sie fällt uns nicht fertig in den Schoß, wir müssen zu ihr Vordringen. Dabei gilt es drei Stufen zu durchlaufen. Die erste Stufe ist die Stufe der Kritik. Diese Kritik beschränkt sich nicht aus das intellektuelle Gebiet, sie erschüttert auch, was bisher vielen als Kunst, als Sittlichkeit, als Religion gegolten hat. Indessen kann die Kritik nur weiterführen, Wenn sie nicht der Abschluß, sondern der Anfang ist. Das ist nur möglich, wenn die Kritik von einem kraftvollen Leben getragen ist, wenn sie in sich die Keime der Wahrheit enthält. -Sollen diese Wahrheitskeime entwickelt wer¬ den, so muß eine große Wendung, eine Versetzung in ein selbständiges „Reich des Schaffens"*) er¬ folgen. Es kommt alles darauf an, daß das geistige Leben nicht an den einzelnen Menschen gefesselt bleibt, es muß sich über die Bedürf¬ nisse und Zwecke des einzelnen Menschen er¬ heben. Das ist aber nur möglich, wenn daS, was an Geistigen im Menschen lebt, die Ent¬ faltung eines selbständigen Geschehens, die Offenbarung einer neuen Welt ist, die unser eigenes menschlich-irdisches Wesen umgestaltet. Dadurch werden die AlltagSfragen klein und belanglos, es tritt eine Umwertung der Werte ein. Die dritte Stufe auf dem Wege zur Wahrheit ist die Arbeit. Die Welt des Schaffens muß die Widerstände des feind¬ lichen Erdengeschehens niederringen. Reben die Helden der schöpferischen Erneuerung treten die Helden der Arbeit, die die belebende Kraft des Geistes über die ganze Breite aus¬ dehnen und ihr den Boden gewinnen. Was ") Der Ausdruck soll besagen, daß die Wahrheit schöpferisch ist, daß sie neugestaltend wirkt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/101>, abgerufen am 23.06.2024.