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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Dichtungen von Rabiiwranath Tcigore

Der junge Mann erwachte sogleich, die flackernde Helligkeit einer Laterne
traf seine gütigen Augen.

Er bemerkte eine Bajadere, trunken vom Wein ihrer Jugend, mit Edel¬
steinen in verschiedenen Farben geschmückt und in einen blaßblauen Mantel
gehüllt.

Sie ließ die Laterne herab, um das schöne aber strenge Gesicht des jungen
Asketen zu beleuchten.

"Verzeih mir, junger Anachoret, daß ich dich geweckt habe," sagte die
Bajadere. "Geruhe, mich zu besuchen. Die staubige Straße ist kein Bett, das
deiner würdig ist."

"Zieh deinen Weg, Schöne der Schönen," antwortete der Eremit. "Wenn
der Augenblick gekommen sein wird, werde ich dich zu finden wissen."

Plötzlich zeigte die schwarze Nacht in einem leuchtenden Blitz ihre Zähne,
und die Bajadere begann vor Angst zu zittern.

Das neue Jahr ist noch nicht eingeläutet. Der Wind zürnt. Die Zweige
der Bäume weinen einen Blütenregen.

Ein sanfter Frühlingswind bringt von fern die Klänge der Schalmei mit.
Die Menschen laufen in den Wald um das Fest der Blumen zu feiern.

Über die Dächer der schlafenden Stadt fällt vom Himmel die Helligkeit
des Vollmondes.

Der junge Anachoret wandert auf einsamer Straße und lauscht dem Liebes-
klagen eines Vogels in den Zweigen einer Magnolie.

Ugaponta nähert sich den Toren der Stadt und hemmt seinen Schritt.

Wer ist die Frau, die neben dem Festungsgraben im Staube lagert?

Die Bajadere ist es, mit Wunden bedeckt, eine Beute der schwarzen Pest,
aus der Stadt vertrieben.

Der junge Eremit setzte sich neben die Bajadere. Er legt den Kopf der
Kranken auf seine Knie, er netzt ihre brennenden Lippen mit frischem Wasser
und salbt ihren Körper mit Öl.

"Wer bist du, sanfter Engel der Barmherzigkeit?" fragte die Bajadere
stöhnend.

"Der Augenblick ist gekommen, in dein ich mich bei dir einfinden sollte,
und da bin ich, wie ich dir versprochen habe."




Das Kind

Wenn ich dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind, begreife ich, warum
ein solches Farbenschillern über die graue Leere flammt, warum die Blumen
in so reichen Tönungen leuchten -- wenn ich dir buntes Spielzeug bringe,
mein Kind.

Wenn ich dir zum Tanze singe, mein Kind, weiß ich, warum unter den
Reisern Musik ertönt, und warum die Wogen den Chor ihrer Stimmen bis


Zwei Dichtungen von Rabiiwranath Tcigore

Der junge Mann erwachte sogleich, die flackernde Helligkeit einer Laterne
traf seine gütigen Augen.

Er bemerkte eine Bajadere, trunken vom Wein ihrer Jugend, mit Edel¬
steinen in verschiedenen Farben geschmückt und in einen blaßblauen Mantel
gehüllt.

Sie ließ die Laterne herab, um das schöne aber strenge Gesicht des jungen
Asketen zu beleuchten.

„Verzeih mir, junger Anachoret, daß ich dich geweckt habe," sagte die
Bajadere. „Geruhe, mich zu besuchen. Die staubige Straße ist kein Bett, das
deiner würdig ist."

„Zieh deinen Weg, Schöne der Schönen," antwortete der Eremit. „Wenn
der Augenblick gekommen sein wird, werde ich dich zu finden wissen."

Plötzlich zeigte die schwarze Nacht in einem leuchtenden Blitz ihre Zähne,
und die Bajadere begann vor Angst zu zittern.

Das neue Jahr ist noch nicht eingeläutet. Der Wind zürnt. Die Zweige
der Bäume weinen einen Blütenregen.

Ein sanfter Frühlingswind bringt von fern die Klänge der Schalmei mit.
Die Menschen laufen in den Wald um das Fest der Blumen zu feiern.

Über die Dächer der schlafenden Stadt fällt vom Himmel die Helligkeit
des Vollmondes.

Der junge Anachoret wandert auf einsamer Straße und lauscht dem Liebes-
klagen eines Vogels in den Zweigen einer Magnolie.

Ugaponta nähert sich den Toren der Stadt und hemmt seinen Schritt.

Wer ist die Frau, die neben dem Festungsgraben im Staube lagert?

Die Bajadere ist es, mit Wunden bedeckt, eine Beute der schwarzen Pest,
aus der Stadt vertrieben.

Der junge Eremit setzte sich neben die Bajadere. Er legt den Kopf der
Kranken auf seine Knie, er netzt ihre brennenden Lippen mit frischem Wasser
und salbt ihren Körper mit Öl.

„Wer bist du, sanfter Engel der Barmherzigkeit?" fragte die Bajadere
stöhnend.

„Der Augenblick ist gekommen, in dein ich mich bei dir einfinden sollte,
und da bin ich, wie ich dir versprochen habe."




Das Kind

Wenn ich dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind, begreife ich, warum
ein solches Farbenschillern über die graue Leere flammt, warum die Blumen
in so reichen Tönungen leuchten — wenn ich dir buntes Spielzeug bringe,
mein Kind.

Wenn ich dir zum Tanze singe, mein Kind, weiß ich, warum unter den
Reisern Musik ertönt, und warum die Wogen den Chor ihrer Stimmen bis


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[0091] Zwei Dichtungen von Rabiiwranath Tcigore Der junge Mann erwachte sogleich, die flackernde Helligkeit einer Laterne traf seine gütigen Augen. Er bemerkte eine Bajadere, trunken vom Wein ihrer Jugend, mit Edel¬ steinen in verschiedenen Farben geschmückt und in einen blaßblauen Mantel gehüllt. Sie ließ die Laterne herab, um das schöne aber strenge Gesicht des jungen Asketen zu beleuchten. „Verzeih mir, junger Anachoret, daß ich dich geweckt habe," sagte die Bajadere. „Geruhe, mich zu besuchen. Die staubige Straße ist kein Bett, das deiner würdig ist." „Zieh deinen Weg, Schöne der Schönen," antwortete der Eremit. „Wenn der Augenblick gekommen sein wird, werde ich dich zu finden wissen." Plötzlich zeigte die schwarze Nacht in einem leuchtenden Blitz ihre Zähne, und die Bajadere begann vor Angst zu zittern. Das neue Jahr ist noch nicht eingeläutet. Der Wind zürnt. Die Zweige der Bäume weinen einen Blütenregen. Ein sanfter Frühlingswind bringt von fern die Klänge der Schalmei mit. Die Menschen laufen in den Wald um das Fest der Blumen zu feiern. Über die Dächer der schlafenden Stadt fällt vom Himmel die Helligkeit des Vollmondes. Der junge Anachoret wandert auf einsamer Straße und lauscht dem Liebes- klagen eines Vogels in den Zweigen einer Magnolie. Ugaponta nähert sich den Toren der Stadt und hemmt seinen Schritt. Wer ist die Frau, die neben dem Festungsgraben im Staube lagert? Die Bajadere ist es, mit Wunden bedeckt, eine Beute der schwarzen Pest, aus der Stadt vertrieben. Der junge Eremit setzte sich neben die Bajadere. Er legt den Kopf der Kranken auf seine Knie, er netzt ihre brennenden Lippen mit frischem Wasser und salbt ihren Körper mit Öl. „Wer bist du, sanfter Engel der Barmherzigkeit?" fragte die Bajadere stöhnend. „Der Augenblick ist gekommen, in dein ich mich bei dir einfinden sollte, und da bin ich, wie ich dir versprochen habe." Das Kind Wenn ich dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind, begreife ich, warum ein solches Farbenschillern über die graue Leere flammt, warum die Blumen in so reichen Tönungen leuchten — wenn ich dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind. Wenn ich dir zum Tanze singe, mein Kind, weiß ich, warum unter den Reisern Musik ertönt, und warum die Wogen den Chor ihrer Stimmen bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/91>, abgerufen am 29.12.2024.