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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

Inanspruchnahme einer Mehrzahl von Richtern statt eines Richters vorgebeugt.
Daß ein Verfahren, welches durch Anerkenntnis- oder Versäumnisurteil, durch
Klagerücknahme oder schließlich durch Vergleich seine Erledigung findet, an sich
billiger sein müßte als ein durch kontradiktorisches Urteil abgeschlossenes Ver¬
fahren, ist jedoch nicht ohne weiteres anzuerkennen. Denn einem Anerkenntnis-
urteil zum Beispiel geht vielfach eine ebenso schwierige Ermittelung der Wahrheit
voraus wie einem kontradiktorischen Urteil. Von diesem Gesichtspunkte aus ist
auch der Vorschlag Lobes nicht gerecht, im Falle eines späteren Anerkenntnisses
oder Vergleiches keine Gebühren zu berechnen. Dagegen ist für die Ent¬
scheidung des Rechtsstreits durch kontradiktorisches Urteil selbst zweifellos eine
höhere Gebühr als für einen Vergleich oder ein Anerkenntnisurteil am Platze.
Was die dem Vergleich oder Anerkenntnis vorausgegangenen Prozeßakte anlangt,
so brächte übrigens selbst eine bloße Ermäßigung der Kosten die Gefahr mit
sich, daß böswillige und schikanöse Schuldner erst in letzter Minute einem Ver¬
gleich sich zugänglich zeigen oder ein Anerkenntnis abgeben, da sie ja der ganze
Prozeß nur wenig, bei Streichung aller Gerichtsgebühren sogar, abgesehen von
Zeugengebühren und dergleichen, fast nichts kosten würde. Daß die Einführung
der von Lobe vorgeschlagenen Bestimmung freilich auch ihre guten Folgen haben
würde, ist schon oben erwähnt.

Bei einer ausschließlichen Berücksichtigung der staatlichen Interessen würden
naturgemäß die Kosten des einzelnen Prozesses eine Höhe erreichen, welche eine
unverhältnismäßig starke Belastung der Rechtsuchenden mit sich bringen würde.
Es darf nicht vergessen werden, daß die Kosten des Prozesses auch im Einklang
mit den Vorteilen stehen müssen, welche der Kläger erstrebt, wie auch der
Schuldner, wenigstens der sich vermeintlich im Recht befindende Schuldner,
geschont werden muß. Deshalb bedarf der Grundsatz, daß die Rechtsuchenden
für die Kosten der Rechtspflege auszukommen haben, einer Einschränkung. Die
Tatsache, daß der Gesamtheit der Volksgenossen die Möglichkeit gegeben ist,
die Autorität des Staates zur Durchführung von Ansprüchen anzugehen, führt
daher zu der Forderung, daß alle Volksgenossen zur Bestreitung der Aus¬
gaben für die Organe der Rechtspflege und die erforderlichen Hilfsmittel heran¬
gezogen werden und so mittelbar die Lasten jedes einzelnen Prozesses tragen
helfen.

Die gerichtlichen Kosten eines Prozesses sind grundsätzlich erst nach dessen
Beendigung zu zahlen. Denn es läßt sich mit dem Zweck des Prozesses nicht
gut in Einklang bringen, wenn das Gericht nur unter der Bedingung vorschu߬
weiser Zahlung tätig zu werden braucht. Da die Rechtsordnung nur durch
Erforschung der objektiven Wahrheit verwirklicht werden kann, so muß das Ge¬
richt vielmehr in der Lage und verpflichtet sein, alle Mittel, welche der Erforschung
der Wahrheit zu dienen vermögen, anzuwenden. Die Frage der Kostendeckung darf
dabei keine Rolle spielen, selbst auf die Gefahr hin, daß der Staat möglicher¬
weise sich später keine Befriedigung verschaffen kann. Übrigens tritt, wenn man


Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

Inanspruchnahme einer Mehrzahl von Richtern statt eines Richters vorgebeugt.
Daß ein Verfahren, welches durch Anerkenntnis- oder Versäumnisurteil, durch
Klagerücknahme oder schließlich durch Vergleich seine Erledigung findet, an sich
billiger sein müßte als ein durch kontradiktorisches Urteil abgeschlossenes Ver¬
fahren, ist jedoch nicht ohne weiteres anzuerkennen. Denn einem Anerkenntnis-
urteil zum Beispiel geht vielfach eine ebenso schwierige Ermittelung der Wahrheit
voraus wie einem kontradiktorischen Urteil. Von diesem Gesichtspunkte aus ist
auch der Vorschlag Lobes nicht gerecht, im Falle eines späteren Anerkenntnisses
oder Vergleiches keine Gebühren zu berechnen. Dagegen ist für die Ent¬
scheidung des Rechtsstreits durch kontradiktorisches Urteil selbst zweifellos eine
höhere Gebühr als für einen Vergleich oder ein Anerkenntnisurteil am Platze.
Was die dem Vergleich oder Anerkenntnis vorausgegangenen Prozeßakte anlangt,
so brächte übrigens selbst eine bloße Ermäßigung der Kosten die Gefahr mit
sich, daß böswillige und schikanöse Schuldner erst in letzter Minute einem Ver¬
gleich sich zugänglich zeigen oder ein Anerkenntnis abgeben, da sie ja der ganze
Prozeß nur wenig, bei Streichung aller Gerichtsgebühren sogar, abgesehen von
Zeugengebühren und dergleichen, fast nichts kosten würde. Daß die Einführung
der von Lobe vorgeschlagenen Bestimmung freilich auch ihre guten Folgen haben
würde, ist schon oben erwähnt.

Bei einer ausschließlichen Berücksichtigung der staatlichen Interessen würden
naturgemäß die Kosten des einzelnen Prozesses eine Höhe erreichen, welche eine
unverhältnismäßig starke Belastung der Rechtsuchenden mit sich bringen würde.
Es darf nicht vergessen werden, daß die Kosten des Prozesses auch im Einklang
mit den Vorteilen stehen müssen, welche der Kläger erstrebt, wie auch der
Schuldner, wenigstens der sich vermeintlich im Recht befindende Schuldner,
geschont werden muß. Deshalb bedarf der Grundsatz, daß die Rechtsuchenden
für die Kosten der Rechtspflege auszukommen haben, einer Einschränkung. Die
Tatsache, daß der Gesamtheit der Volksgenossen die Möglichkeit gegeben ist,
die Autorität des Staates zur Durchführung von Ansprüchen anzugehen, führt
daher zu der Forderung, daß alle Volksgenossen zur Bestreitung der Aus¬
gaben für die Organe der Rechtspflege und die erforderlichen Hilfsmittel heran¬
gezogen werden und so mittelbar die Lasten jedes einzelnen Prozesses tragen
helfen.

Die gerichtlichen Kosten eines Prozesses sind grundsätzlich erst nach dessen
Beendigung zu zahlen. Denn es läßt sich mit dem Zweck des Prozesses nicht
gut in Einklang bringen, wenn das Gericht nur unter der Bedingung vorschu߬
weiser Zahlung tätig zu werden braucht. Da die Rechtsordnung nur durch
Erforschung der objektiven Wahrheit verwirklicht werden kann, so muß das Ge¬
richt vielmehr in der Lage und verpflichtet sein, alle Mittel, welche der Erforschung
der Wahrheit zu dienen vermögen, anzuwenden. Die Frage der Kostendeckung darf
dabei keine Rolle spielen, selbst auf die Gefahr hin, daß der Staat möglicher¬
weise sich später keine Befriedigung verschaffen kann. Übrigens tritt, wenn man


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[0327] Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses Inanspruchnahme einer Mehrzahl von Richtern statt eines Richters vorgebeugt. Daß ein Verfahren, welches durch Anerkenntnis- oder Versäumnisurteil, durch Klagerücknahme oder schließlich durch Vergleich seine Erledigung findet, an sich billiger sein müßte als ein durch kontradiktorisches Urteil abgeschlossenes Ver¬ fahren, ist jedoch nicht ohne weiteres anzuerkennen. Denn einem Anerkenntnis- urteil zum Beispiel geht vielfach eine ebenso schwierige Ermittelung der Wahrheit voraus wie einem kontradiktorischen Urteil. Von diesem Gesichtspunkte aus ist auch der Vorschlag Lobes nicht gerecht, im Falle eines späteren Anerkenntnisses oder Vergleiches keine Gebühren zu berechnen. Dagegen ist für die Ent¬ scheidung des Rechtsstreits durch kontradiktorisches Urteil selbst zweifellos eine höhere Gebühr als für einen Vergleich oder ein Anerkenntnisurteil am Platze. Was die dem Vergleich oder Anerkenntnis vorausgegangenen Prozeßakte anlangt, so brächte übrigens selbst eine bloße Ermäßigung der Kosten die Gefahr mit sich, daß böswillige und schikanöse Schuldner erst in letzter Minute einem Ver¬ gleich sich zugänglich zeigen oder ein Anerkenntnis abgeben, da sie ja der ganze Prozeß nur wenig, bei Streichung aller Gerichtsgebühren sogar, abgesehen von Zeugengebühren und dergleichen, fast nichts kosten würde. Daß die Einführung der von Lobe vorgeschlagenen Bestimmung freilich auch ihre guten Folgen haben würde, ist schon oben erwähnt. Bei einer ausschließlichen Berücksichtigung der staatlichen Interessen würden naturgemäß die Kosten des einzelnen Prozesses eine Höhe erreichen, welche eine unverhältnismäßig starke Belastung der Rechtsuchenden mit sich bringen würde. Es darf nicht vergessen werden, daß die Kosten des Prozesses auch im Einklang mit den Vorteilen stehen müssen, welche der Kläger erstrebt, wie auch der Schuldner, wenigstens der sich vermeintlich im Recht befindende Schuldner, geschont werden muß. Deshalb bedarf der Grundsatz, daß die Rechtsuchenden für die Kosten der Rechtspflege auszukommen haben, einer Einschränkung. Die Tatsache, daß der Gesamtheit der Volksgenossen die Möglichkeit gegeben ist, die Autorität des Staates zur Durchführung von Ansprüchen anzugehen, führt daher zu der Forderung, daß alle Volksgenossen zur Bestreitung der Aus¬ gaben für die Organe der Rechtspflege und die erforderlichen Hilfsmittel heran¬ gezogen werden und so mittelbar die Lasten jedes einzelnen Prozesses tragen helfen. Die gerichtlichen Kosten eines Prozesses sind grundsätzlich erst nach dessen Beendigung zu zahlen. Denn es läßt sich mit dem Zweck des Prozesses nicht gut in Einklang bringen, wenn das Gericht nur unter der Bedingung vorschu߬ weiser Zahlung tätig zu werden braucht. Da die Rechtsordnung nur durch Erforschung der objektiven Wahrheit verwirklicht werden kann, so muß das Ge¬ richt vielmehr in der Lage und verpflichtet sein, alle Mittel, welche der Erforschung der Wahrheit zu dienen vermögen, anzuwenden. Die Frage der Kostendeckung darf dabei keine Rolle spielen, selbst auf die Gefahr hin, daß der Staat möglicher¬ weise sich später keine Befriedigung verschaffen kann. Übrigens tritt, wenn man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/327>, abgerufen am 01.01.2025.