Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mr Indien den Preis I

für einander, und "alle Welt bestehet nur durch Frömmigkeit". Von den
philosophischen Stücken des Mahabharata ist das berühmteste und vollendetste
die Bhagavadgita (der Sang des Erhabenen). Sie ist vielfach übersetzt
worden; zuletzt von L. von Schröder, sehr korrekt, wie mir scheint, aber sprach¬
lich nicht immer glücklich (Diederichs, Jena 1912). Auch dieser Sang gipfelt
in der Forderung der "fruchtfreien Tat", in dem Ideal des "in Andacht Voll¬
endeten" . . . Bekanntlich hat die indische Literatur der späteren Zeit, nicht
nur im VolksepoL, sondern auch im Kunstepos Hervorragendes geleistet;
sie hat Lyrik, Spruch- und Fabeldichtung zu hoher Blüte gebracht, und
um auf die Größe und Eigenart ihres Dramas hinzudeuten, genügt es,
den Namen Kalidasa zu nennen. In einem gewissen Sinn bleibt alles Spätere
Nachklang und Abklang jener großen Anschauungs- und Gedankenwelt, die hier
nur flüchtig in Erinnerung gebracht werden konnte -- nicht als ob damit irgend
eine Herabminderung der weiteren Entwicklung ausgesprochen werden sollte;
vielmehr ist diese geheiligte Tradition gerade das, was der indischen Kultur
ihren Reiz und unvergänglichen Wert verleiht. Wer sich eingehender mit ihr
befassen will, sei, außer auf die Werke Deussens, auf die eines Leopold von
Schröder, Otterberg, Garbe verwiesen. Zu ihnen gesellt sich neuerdings die
gründliche und flüssig geschriebene "Geschichte der indischen Literatur" von
M. Winternitz (C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. 1904--1913). Eine an¬
ziehende, formgewandte Sammlung "Indische Lyrik" hat Joh. Hertel heraus¬
gegeben (Cotta 1900); eine Reihe von Dramen enthält die Reclamsche Uni¬
versalbibliothek.

"In Andacht fest tu deine Tat!" und "alle Welt besteht durch Frömmigkeit,"
so tönt es als Grundklang herüber aus altindischer Zeit. Von dem gleichen
Grundklang getragen sind die Lieder auch des indischen Dichters der Gegenwart,
des Rabindranath Tagore. Zu guter Stunde werden uns seine "Gitanjali"
(Hohe Lieder), die er selbst aus dem Bengali, seiner Muttersprache, ins Englische
übertrug, in einer geschmackvollen deutschen Nachdichtung (von Marie Luise
Gothein, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1914) vorgelegt. Eine weltbezwingende
und weltbeglückende Frömmigkeit atmet aus jedem dieser Lieder. Die innige
Nähe des unbekannten und doch so bekannten Gottes, die erhabene Gleichung
von Atman und Brahman wirkt in ihnen -- mit bezaubernder Einfachheit, mit
begeisternder Wärme. Es sind lauter Zwiegespräche mit der eigenen, mit der
Gottesseele. "Trunken von Freude des Singens vergess' ich mich ganz und
nenne dich Freund, der du mein Herr bist" und "Immer werd ich mich mühen,
von meinem Herzen die Übel zu treiben und meine Liebe in Blüte zu halten,
wissend: du thronest im Allerheiligsten meines Herzens. Und es soll immer
mein Streben sein: dich offenbaren in meinem Tun, wissend, daß deine Macht
mir Kraft gibt zum Handeln." Der Dichterhochmut stirbt in Scham vor dem
Meisterdichter. "Laß mich mein Leben grad und einfach machen, gleich einer
Flöte, die du sullst mit deinen Tönen." Nicht im Dunkel des Tempels, hinter


Grenzboten I 1914 2
Mr Indien den Preis I

für einander, und „alle Welt bestehet nur durch Frömmigkeit". Von den
philosophischen Stücken des Mahabharata ist das berühmteste und vollendetste
die Bhagavadgita (der Sang des Erhabenen). Sie ist vielfach übersetzt
worden; zuletzt von L. von Schröder, sehr korrekt, wie mir scheint, aber sprach¬
lich nicht immer glücklich (Diederichs, Jena 1912). Auch dieser Sang gipfelt
in der Forderung der „fruchtfreien Tat", in dem Ideal des „in Andacht Voll¬
endeten" . . . Bekanntlich hat die indische Literatur der späteren Zeit, nicht
nur im VolksepoL, sondern auch im Kunstepos Hervorragendes geleistet;
sie hat Lyrik, Spruch- und Fabeldichtung zu hoher Blüte gebracht, und
um auf die Größe und Eigenart ihres Dramas hinzudeuten, genügt es,
den Namen Kalidasa zu nennen. In einem gewissen Sinn bleibt alles Spätere
Nachklang und Abklang jener großen Anschauungs- und Gedankenwelt, die hier
nur flüchtig in Erinnerung gebracht werden konnte — nicht als ob damit irgend
eine Herabminderung der weiteren Entwicklung ausgesprochen werden sollte;
vielmehr ist diese geheiligte Tradition gerade das, was der indischen Kultur
ihren Reiz und unvergänglichen Wert verleiht. Wer sich eingehender mit ihr
befassen will, sei, außer auf die Werke Deussens, auf die eines Leopold von
Schröder, Otterberg, Garbe verwiesen. Zu ihnen gesellt sich neuerdings die
gründliche und flüssig geschriebene „Geschichte der indischen Literatur" von
M. Winternitz (C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. 1904—1913). Eine an¬
ziehende, formgewandte Sammlung „Indische Lyrik" hat Joh. Hertel heraus¬
gegeben (Cotta 1900); eine Reihe von Dramen enthält die Reclamsche Uni¬
versalbibliothek.

„In Andacht fest tu deine Tat!" und „alle Welt besteht durch Frömmigkeit,"
so tönt es als Grundklang herüber aus altindischer Zeit. Von dem gleichen
Grundklang getragen sind die Lieder auch des indischen Dichters der Gegenwart,
des Rabindranath Tagore. Zu guter Stunde werden uns seine „Gitanjali"
(Hohe Lieder), die er selbst aus dem Bengali, seiner Muttersprache, ins Englische
übertrug, in einer geschmackvollen deutschen Nachdichtung (von Marie Luise
Gothein, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1914) vorgelegt. Eine weltbezwingende
und weltbeglückende Frömmigkeit atmet aus jedem dieser Lieder. Die innige
Nähe des unbekannten und doch so bekannten Gottes, die erhabene Gleichung
von Atman und Brahman wirkt in ihnen — mit bezaubernder Einfachheit, mit
begeisternder Wärme. Es sind lauter Zwiegespräche mit der eigenen, mit der
Gottesseele. „Trunken von Freude des Singens vergess' ich mich ganz und
nenne dich Freund, der du mein Herr bist" und „Immer werd ich mich mühen,
von meinem Herzen die Übel zu treiben und meine Liebe in Blüte zu halten,
wissend: du thronest im Allerheiligsten meines Herzens. Und es soll immer
mein Streben sein: dich offenbaren in meinem Tun, wissend, daß deine Macht
mir Kraft gibt zum Handeln." Der Dichterhochmut stirbt in Scham vor dem
Meisterdichter. „Laß mich mein Leben grad und einfach machen, gleich einer
Flöte, die du sullst mit deinen Tönen." Nicht im Dunkel des Tempels, hinter


Grenzboten I 1914 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327495"/>
          <fw type="header" place="top"> Mr Indien den Preis I</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50"> für einander, und &#x201E;alle Welt bestehet nur durch Frömmigkeit". Von den<lb/>
philosophischen Stücken des Mahabharata ist das berühmteste und vollendetste<lb/>
die Bhagavadgita (der Sang des Erhabenen). Sie ist vielfach übersetzt<lb/>
worden; zuletzt von L. von Schröder, sehr korrekt, wie mir scheint, aber sprach¬<lb/>
lich nicht immer glücklich (Diederichs, Jena 1912). Auch dieser Sang gipfelt<lb/>
in der Forderung der &#x201E;fruchtfreien Tat", in dem Ideal des &#x201E;in Andacht Voll¬<lb/>
endeten" . . . Bekanntlich hat die indische Literatur der späteren Zeit, nicht<lb/>
nur im VolksepoL, sondern auch im Kunstepos Hervorragendes geleistet;<lb/>
sie hat Lyrik, Spruch- und Fabeldichtung zu hoher Blüte gebracht, und<lb/>
um auf die Größe und Eigenart ihres Dramas hinzudeuten, genügt es,<lb/>
den Namen Kalidasa zu nennen. In einem gewissen Sinn bleibt alles Spätere<lb/>
Nachklang und Abklang jener großen Anschauungs- und Gedankenwelt, die hier<lb/>
nur flüchtig in Erinnerung gebracht werden konnte &#x2014; nicht als ob damit irgend<lb/>
eine Herabminderung der weiteren Entwicklung ausgesprochen werden sollte;<lb/>
vielmehr ist diese geheiligte Tradition gerade das, was der indischen Kultur<lb/>
ihren Reiz und unvergänglichen Wert verleiht. Wer sich eingehender mit ihr<lb/>
befassen will, sei, außer auf die Werke Deussens, auf die eines Leopold von<lb/>
Schröder, Otterberg, Garbe verwiesen. Zu ihnen gesellt sich neuerdings die<lb/>
gründliche und flüssig geschriebene &#x201E;Geschichte der indischen Literatur" von<lb/>
M. Winternitz (C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. 1904&#x2014;1913). Eine an¬<lb/>
ziehende, formgewandte Sammlung &#x201E;Indische Lyrik" hat Joh. Hertel heraus¬<lb/>
gegeben (Cotta 1900); eine Reihe von Dramen enthält die Reclamsche Uni¬<lb/>
versalbibliothek.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_52" next="#ID_53"> &#x201E;In Andacht fest tu deine Tat!" und &#x201E;alle Welt besteht durch Frömmigkeit,"<lb/>
so tönt es als Grundklang herüber aus altindischer Zeit. Von dem gleichen<lb/>
Grundklang getragen sind die Lieder auch des indischen Dichters der Gegenwart,<lb/>
des Rabindranath Tagore. Zu guter Stunde werden uns seine &#x201E;Gitanjali"<lb/>
(Hohe Lieder), die er selbst aus dem Bengali, seiner Muttersprache, ins Englische<lb/>
übertrug, in einer geschmackvollen deutschen Nachdichtung (von Marie Luise<lb/>
Gothein, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1914) vorgelegt. Eine weltbezwingende<lb/>
und weltbeglückende Frömmigkeit atmet aus jedem dieser Lieder. Die innige<lb/>
Nähe des unbekannten und doch so bekannten Gottes, die erhabene Gleichung<lb/>
von Atman und Brahman wirkt in ihnen &#x2014; mit bezaubernder Einfachheit, mit<lb/>
begeisternder Wärme. Es sind lauter Zwiegespräche mit der eigenen, mit der<lb/>
Gottesseele. &#x201E;Trunken von Freude des Singens vergess' ich mich ganz und<lb/>
nenne dich Freund, der du mein Herr bist" und &#x201E;Immer werd ich mich mühen,<lb/>
von meinem Herzen die Übel zu treiben und meine Liebe in Blüte zu halten,<lb/>
wissend: du thronest im Allerheiligsten meines Herzens. Und es soll immer<lb/>
mein Streben sein: dich offenbaren in meinem Tun, wissend, daß deine Macht<lb/>
mir Kraft gibt zum Handeln." Der Dichterhochmut stirbt in Scham vor dem<lb/>
Meisterdichter. &#x201E;Laß mich mein Leben grad und einfach machen, gleich einer<lb/>
Flöte, die du sullst mit deinen Tönen." Nicht im Dunkel des Tempels, hinter</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1914 2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Mr Indien den Preis I für einander, und „alle Welt bestehet nur durch Frömmigkeit". Von den philosophischen Stücken des Mahabharata ist das berühmteste und vollendetste die Bhagavadgita (der Sang des Erhabenen). Sie ist vielfach übersetzt worden; zuletzt von L. von Schröder, sehr korrekt, wie mir scheint, aber sprach¬ lich nicht immer glücklich (Diederichs, Jena 1912). Auch dieser Sang gipfelt in der Forderung der „fruchtfreien Tat", in dem Ideal des „in Andacht Voll¬ endeten" . . . Bekanntlich hat die indische Literatur der späteren Zeit, nicht nur im VolksepoL, sondern auch im Kunstepos Hervorragendes geleistet; sie hat Lyrik, Spruch- und Fabeldichtung zu hoher Blüte gebracht, und um auf die Größe und Eigenart ihres Dramas hinzudeuten, genügt es, den Namen Kalidasa zu nennen. In einem gewissen Sinn bleibt alles Spätere Nachklang und Abklang jener großen Anschauungs- und Gedankenwelt, die hier nur flüchtig in Erinnerung gebracht werden konnte — nicht als ob damit irgend eine Herabminderung der weiteren Entwicklung ausgesprochen werden sollte; vielmehr ist diese geheiligte Tradition gerade das, was der indischen Kultur ihren Reiz und unvergänglichen Wert verleiht. Wer sich eingehender mit ihr befassen will, sei, außer auf die Werke Deussens, auf die eines Leopold von Schröder, Otterberg, Garbe verwiesen. Zu ihnen gesellt sich neuerdings die gründliche und flüssig geschriebene „Geschichte der indischen Literatur" von M. Winternitz (C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. 1904—1913). Eine an¬ ziehende, formgewandte Sammlung „Indische Lyrik" hat Joh. Hertel heraus¬ gegeben (Cotta 1900); eine Reihe von Dramen enthält die Reclamsche Uni¬ versalbibliothek. „In Andacht fest tu deine Tat!" und „alle Welt besteht durch Frömmigkeit," so tönt es als Grundklang herüber aus altindischer Zeit. Von dem gleichen Grundklang getragen sind die Lieder auch des indischen Dichters der Gegenwart, des Rabindranath Tagore. Zu guter Stunde werden uns seine „Gitanjali" (Hohe Lieder), die er selbst aus dem Bengali, seiner Muttersprache, ins Englische übertrug, in einer geschmackvollen deutschen Nachdichtung (von Marie Luise Gothein, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1914) vorgelegt. Eine weltbezwingende und weltbeglückende Frömmigkeit atmet aus jedem dieser Lieder. Die innige Nähe des unbekannten und doch so bekannten Gottes, die erhabene Gleichung von Atman und Brahman wirkt in ihnen — mit bezaubernder Einfachheit, mit begeisternder Wärme. Es sind lauter Zwiegespräche mit der eigenen, mit der Gottesseele. „Trunken von Freude des Singens vergess' ich mich ganz und nenne dich Freund, der du mein Herr bist" und „Immer werd ich mich mühen, von meinem Herzen die Übel zu treiben und meine Liebe in Blüte zu halten, wissend: du thronest im Allerheiligsten meines Herzens. Und es soll immer mein Streben sein: dich offenbaren in meinem Tun, wissend, daß deine Macht mir Kraft gibt zum Handeln." Der Dichterhochmut stirbt in Scham vor dem Meisterdichter. „Laß mich mein Leben grad und einfach machen, gleich einer Flöte, die du sullst mit deinen Tönen." Nicht im Dunkel des Tempels, hinter Grenzboten I 1914 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/29>, abgerufen am 29.12.2024.