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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Volksleistung und Volkswille

Nun ist es eigentümlich beobachten zu müssen, daß sich trotz dieser doch
im ganzen erfreulichen Ergebnisse der Reichspolitik im Innern des Reichs eine
Streitsucht offenbart, daß sich zwischen den bürgerlichen Parteien im Reiche
Gegensätze geöffnet haben, als stünden wir vor einer Ära innerer Konflikte.
Seit dem Mißlingen der Bülowschen Finanzreform von 1909 haben sich die
Beziehungen der bürgerlichen Parteien zueinander in nichts gebessert. Die
Behandlung der Vorgänge in Zubern zeigt uns eine entsetzliche Zerrissenheit. Viele
theoretische und praktische Politiker haben sich den Kopf darüber zerbrochen,
woher diese Zerrissenheit wohl käme. Wilhelm von Massow hat in einem
höchst beachtenswerten Werke*), das wegen der Sachlichkeit und ansprechenden
Art der Darstellung verdiente, als Volksausgabe in Hunderttausenden von
Exemplaren in der Nation verbreitet zu werden, versucht, diese heutige Partei¬
zerrissenheit zurückzuführen auf den deutschen Volkscharakter, auf die alte, im
Schoße der Jahrhunderte gewachsene Zersplitterung, auf den Partikularismus
unter den deutschen Stämmen, auf den Bruch, der uns in kirchlicher Beziehung
durchzieht. Ich glaube, daß Massow, der sich selbst als ein Anhänger der
Reichspartei bezeichnet, in seinen Auffassungen doch zu sehr im Historischen
wurzelt. Er berücksichtigt die Einflüsse der jüngsten Entwicklung zu wenig.

Die heutige Zerrissenheit im deutschen Volk hat nach meiner Auffassung neben
den von Massow herangezogenen Gründen einen erheblich stärkeren Grund, der
letzten Endes in dem liegt, worauf wir so stolz sein können; in dem wachsenden
Reichtum der Gesamtheit, zu der jeder einzelne Staatsbürger sein gerüttelt
Maß tüchtiger Arbeit beigetragen hat. Der Streit, an dem sich nur eine ganz
dünne Schicht vornehm zurückhaltender Akademiker, Beamten und Offiziere nicht
beteiligt, -- die Aerzte z. B. sind schon in ihn hineingezwungen worden --
geht aus nicht von den Weltanschauungen, sondern von dem gesunden Begehren,
das jeder in sich trägt, von dem gemeinsam erzielten Gewinn, so viel wie möglich
persönlich einzuheimsen. Hieraus erklärt sich die Macht der wirtschaftlichen Verbände,
Arbeiter, Industrielle, Landwirte, Angestellte, alle, in sich wieder vielfach ge¬
spalten, kämpfen um das Futter in der Krippe. Hierauf basieren die Kämpfe
um die Macht zwischen den sogenannten Liberalen, Demokraten und Kon¬
servativen. Die Parteiführer selbst wollen solches natürlich nicht zugeben und
so entsteht innerhalb der einzelnen Parteien eine Atmosphäre des gegenseitigen



*) W. von Massow: "Die deutsche innere Politik unter Kaiser Wilhelm II," Sechster
Band des Jubiläumswerks "Das Weltbild der Gegenwart". Deutsche Verlagsanstalt Stutt¬
gart und Berlin 1913. IX und 342 S.
Volksleistung und Volkswille

Nun ist es eigentümlich beobachten zu müssen, daß sich trotz dieser doch
im ganzen erfreulichen Ergebnisse der Reichspolitik im Innern des Reichs eine
Streitsucht offenbart, daß sich zwischen den bürgerlichen Parteien im Reiche
Gegensätze geöffnet haben, als stünden wir vor einer Ära innerer Konflikte.
Seit dem Mißlingen der Bülowschen Finanzreform von 1909 haben sich die
Beziehungen der bürgerlichen Parteien zueinander in nichts gebessert. Die
Behandlung der Vorgänge in Zubern zeigt uns eine entsetzliche Zerrissenheit. Viele
theoretische und praktische Politiker haben sich den Kopf darüber zerbrochen,
woher diese Zerrissenheit wohl käme. Wilhelm von Massow hat in einem
höchst beachtenswerten Werke*), das wegen der Sachlichkeit und ansprechenden
Art der Darstellung verdiente, als Volksausgabe in Hunderttausenden von
Exemplaren in der Nation verbreitet zu werden, versucht, diese heutige Partei¬
zerrissenheit zurückzuführen auf den deutschen Volkscharakter, auf die alte, im
Schoße der Jahrhunderte gewachsene Zersplitterung, auf den Partikularismus
unter den deutschen Stämmen, auf den Bruch, der uns in kirchlicher Beziehung
durchzieht. Ich glaube, daß Massow, der sich selbst als ein Anhänger der
Reichspartei bezeichnet, in seinen Auffassungen doch zu sehr im Historischen
wurzelt. Er berücksichtigt die Einflüsse der jüngsten Entwicklung zu wenig.

Die heutige Zerrissenheit im deutschen Volk hat nach meiner Auffassung neben
den von Massow herangezogenen Gründen einen erheblich stärkeren Grund, der
letzten Endes in dem liegt, worauf wir so stolz sein können; in dem wachsenden
Reichtum der Gesamtheit, zu der jeder einzelne Staatsbürger sein gerüttelt
Maß tüchtiger Arbeit beigetragen hat. Der Streit, an dem sich nur eine ganz
dünne Schicht vornehm zurückhaltender Akademiker, Beamten und Offiziere nicht
beteiligt, — die Aerzte z. B. sind schon in ihn hineingezwungen worden —
geht aus nicht von den Weltanschauungen, sondern von dem gesunden Begehren,
das jeder in sich trägt, von dem gemeinsam erzielten Gewinn, so viel wie möglich
persönlich einzuheimsen. Hieraus erklärt sich die Macht der wirtschaftlichen Verbände,
Arbeiter, Industrielle, Landwirte, Angestellte, alle, in sich wieder vielfach ge¬
spalten, kämpfen um das Futter in der Krippe. Hierauf basieren die Kämpfe
um die Macht zwischen den sogenannten Liberalen, Demokraten und Kon¬
servativen. Die Parteiführer selbst wollen solches natürlich nicht zugeben und
so entsteht innerhalb der einzelnen Parteien eine Atmosphäre des gegenseitigen



*) W. von Massow: „Die deutsche innere Politik unter Kaiser Wilhelm II," Sechster
Band des Jubiläumswerks „Das Weltbild der Gegenwart". Deutsche Verlagsanstalt Stutt¬
gart und Berlin 1913. IX und 342 S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/16>, abgerufen am 29.12.2024.