Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.Der literarische Roman kommt ein aparter, aber durch und durch lebensfremder Ton in die Novellen-, ein Auf Stendhahls Italienische Novellen, die der Verlag Gustav Der literarische Roman kommt ein aparter, aber durch und durch lebensfremder Ton in die Novellen-, ein Auf Stendhahls Italienische Novellen, die der Verlag Gustav <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327445"/> <fw type="header" place="top"> Der literarische Roman</fw><lb/> <p xml:id="ID_2526" prev="#ID_2525"> kommt ein aparter, aber durch und durch lebensfremder Ton in die Novellen-, ein<lb/> Ton, den man um so mehr bedauern muß, als Kolbenheyer wie Binding nach<lb/> diesen Talentproben entschieden zu besseren Dingen berufen scheinen. Einen weitaus<lb/> persönlicheren und deshalb lebendigeren Ton findet Aage Madelung in seinem<lb/> Novellenbande „Der Sterlett" (S. Fischers Verlag, Berlin), von dessen aus¬<lb/> gesprochen russischer Atmosphäre ein eigener Reiz ausgeht und der ganz und gar<lb/> wie ein glückhaftes Zukunftsversprechen anmutet. Tiefe und feine Dinge weiß<lb/> auch Anna Behnisch - Kappstein in ihren Erzählungen „Der lichte lange<lb/> Tag" (Märkische Verlagsanstalt Berlin) zu sagen, und eine andere Frau, Mite<lb/> Kremnitz, gibt in ihrem Buche „Das Geheimnis der Weiche B. M."<lb/> (Morawe u. Scheffel, Berlin) einen neuen Beweis ihrer seit Jahrzehnten erprobten<lb/> novellistischen Kunst. Das Schönste und Leuchtendste aber, was im letzten Jahre<lb/> an Frauenbüchern in die Welt gegangen ist, sind unstreitig die „Bekenntnisse<lb/> einer glücklichen Frau" (Erich Reiß, Berlin), die die Amerikanerin M. van<lb/> Vorst zur Verfasserin haben. Ich möchte diese Übersicht um keinen Preis schließen<lb/> ohne jeden, der noch Freude an der großen Echtheit und Ungeschminktheit des<lb/> Gefühls hat, mit allem Nachdruck auf dies prachtvolle Buch zu verweisen, daS<lb/> wie kein zweites den Adel, die Schönheit und den ganzen köstlichen Reichtum einer<lb/> unverbildeten Frauenseele enthüllt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2527"> Auf Stendhahls Italienische Novellen, die der Verlag Gustav<lb/> Kiepenhauer, Weimar, von Ernst Ludwig Schellenberg übersetzt, in einem<lb/> hübschen Bändchen herausgibt, sei im Vorübergehen aufmerksam gemacht.<lb/> Und daß Karl Schönherr, der Dichter von „Glaube und Heimat" und<lb/> „Erde", in dem Buche „Schuldbuch" (L. Staackmann, Leipzig) eine<lb/> Handvoll nicht sehr beträchtlicher Erzählungen gesammelt hat, braucht auch<lb/> nur flüchtig notiert zu werden. Bücher dieser Art bedürfen keiner besonderen<lb/> Einführung. Sie empfehlen sich selber am besten durch den Namen ihres Ver°<lb/> fassers. Nur das erfolgreichste Buch des Jahres, der „Tunnel" von Bernhard<lb/> Kellermann (S. Fischer, Berlin), mag noch zuguderletzt eine leichte Etikettierung<lb/> erhalten. Denn hier gilt es vor allen Dingen die irrtümliche Auffassung zu zer¬<lb/> stören, als verdanke der „Tunnel" seinen hemmungslos fortschreitenden Siegeszug<lb/> einzig und allein seinen künstlerisch - literarischen Qualitäten. Das ist ganz und<lb/> gar nicht der Fall. Das Kellermannsche Buch, das auf dem Gedanken eines<lb/> Europa - Amerika - Tunnels eine waghalsige Zukunftsphantasie aufbaut, trägt die<lb/> Gründe seines Erfolges ausschließlich in der Sensation, die im Stofflichen liegt.<lb/> Literarisch ist der Roman, wenn wir ehrlich sein wollen, nichts weiter als eine<lb/> große Enttäuschung, nichts weiter als ein mit kralligen Wirkungen arbeitendes<lb/> Virtuosenstück. Als Virtuosenstück wird der „Tunnel" seinen Weg auch weiter<lb/> machen. Daran ist wohl kein Zweifel möglich. Aber in die Genugtuung, daß es<lb/> einem deutschen Buche der Jetztzeit gelang, sich in märchenhaft raschem Siegeszug<lb/> bei allen Kulturnationen durchzusetzen, mischt sich ein leises Bedauern darüber,<lb/> daß Bernhard Kellermann, von dem wir Besseres, Leuchtenderes, Echteres gewohnt<lb/> sind, in einer anderen Stunde vor dem Altar des göttlichen Momus zu knien sich<lb/> bereit gefunden hat.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0633]
Der literarische Roman
kommt ein aparter, aber durch und durch lebensfremder Ton in die Novellen-, ein
Ton, den man um so mehr bedauern muß, als Kolbenheyer wie Binding nach
diesen Talentproben entschieden zu besseren Dingen berufen scheinen. Einen weitaus
persönlicheren und deshalb lebendigeren Ton findet Aage Madelung in seinem
Novellenbande „Der Sterlett" (S. Fischers Verlag, Berlin), von dessen aus¬
gesprochen russischer Atmosphäre ein eigener Reiz ausgeht und der ganz und gar
wie ein glückhaftes Zukunftsversprechen anmutet. Tiefe und feine Dinge weiß
auch Anna Behnisch - Kappstein in ihren Erzählungen „Der lichte lange
Tag" (Märkische Verlagsanstalt Berlin) zu sagen, und eine andere Frau, Mite
Kremnitz, gibt in ihrem Buche „Das Geheimnis der Weiche B. M."
(Morawe u. Scheffel, Berlin) einen neuen Beweis ihrer seit Jahrzehnten erprobten
novellistischen Kunst. Das Schönste und Leuchtendste aber, was im letzten Jahre
an Frauenbüchern in die Welt gegangen ist, sind unstreitig die „Bekenntnisse
einer glücklichen Frau" (Erich Reiß, Berlin), die die Amerikanerin M. van
Vorst zur Verfasserin haben. Ich möchte diese Übersicht um keinen Preis schließen
ohne jeden, der noch Freude an der großen Echtheit und Ungeschminktheit des
Gefühls hat, mit allem Nachdruck auf dies prachtvolle Buch zu verweisen, daS
wie kein zweites den Adel, die Schönheit und den ganzen köstlichen Reichtum einer
unverbildeten Frauenseele enthüllt.
Auf Stendhahls Italienische Novellen, die der Verlag Gustav
Kiepenhauer, Weimar, von Ernst Ludwig Schellenberg übersetzt, in einem
hübschen Bändchen herausgibt, sei im Vorübergehen aufmerksam gemacht.
Und daß Karl Schönherr, der Dichter von „Glaube und Heimat" und
„Erde", in dem Buche „Schuldbuch" (L. Staackmann, Leipzig) eine
Handvoll nicht sehr beträchtlicher Erzählungen gesammelt hat, braucht auch
nur flüchtig notiert zu werden. Bücher dieser Art bedürfen keiner besonderen
Einführung. Sie empfehlen sich selber am besten durch den Namen ihres Ver°
fassers. Nur das erfolgreichste Buch des Jahres, der „Tunnel" von Bernhard
Kellermann (S. Fischer, Berlin), mag noch zuguderletzt eine leichte Etikettierung
erhalten. Denn hier gilt es vor allen Dingen die irrtümliche Auffassung zu zer¬
stören, als verdanke der „Tunnel" seinen hemmungslos fortschreitenden Siegeszug
einzig und allein seinen künstlerisch - literarischen Qualitäten. Das ist ganz und
gar nicht der Fall. Das Kellermannsche Buch, das auf dem Gedanken eines
Europa - Amerika - Tunnels eine waghalsige Zukunftsphantasie aufbaut, trägt die
Gründe seines Erfolges ausschließlich in der Sensation, die im Stofflichen liegt.
Literarisch ist der Roman, wenn wir ehrlich sein wollen, nichts weiter als eine
große Enttäuschung, nichts weiter als ein mit kralligen Wirkungen arbeitendes
Virtuosenstück. Als Virtuosenstück wird der „Tunnel" seinen Weg auch weiter
machen. Daran ist wohl kein Zweifel möglich. Aber in die Genugtuung, daß es
einem deutschen Buche der Jetztzeit gelang, sich in märchenhaft raschem Siegeszug
bei allen Kulturnationen durchzusetzen, mischt sich ein leises Bedauern darüber,
daß Bernhard Kellermann, von dem wir Besseres, Leuchtenderes, Echteres gewohnt
sind, in einer anderen Stunde vor dem Altar des göttlichen Momus zu knien sich
bereit gefunden hat.
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