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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ivie Lrmina L^alten über das große Wasser kam

Der Steuermann kam vorbei. Sie faßte ihn beim Ärmel und wandte ihm
in lächelnder Erwartung ihre Augen zu.

"New York?" fragte sie.

Er lachte und schlug sich auf die Schenkel.

"IM fisch New York!" brüllte er. "Das da?" -- Er schleuderte den Arm
mehrmals mit raschen Bewegungen, als schwinge er eine Peitsche, landeinwärts.
"Das da? Catania! Sicilia! Italia! Catania!" Dann war er plötzlich fort,
hinter dem Küchenjungen her, der vor ihm Reißaus nahm.

La Norma wartete geduldig. Als aber der Dampfer nachmittags am Hafen
von Messina anlegte und sie merkte, daß nun das Zrel erreicht sei, ging sie wie
die anderen ans Land. Und den ersten, dem sie begegnete, fragte sie nach
Simon. Er nickte und zeigte ohne ein Wort auf seine Stirn. Da ging sie
weiter, des Glaubens, daß sie auf dem richtigen Wege sei.

Aber schon einige Schritte hinter dem Hafen, gleich zu Anfang des breiten
Korsoweges, blieb sie erschreckt stehen. Hier gab es keine Menschen, von allen
Seiten starrten gespaltene und zertrümmerte Mauern mit leeren Fensteröffnungen
auf sie herab, und durch den dichten Kalkstaubnebel -- viel dichter als der
Wüstensand, den der Chamsin in schweren Wolken über Keile bläst -- erkannte
sie, daß hinter den Häuserfronten keine Mauergevierte waren, sondern bloß die
ungeheuren Trümmer der eingestürzten Stockwerke. So war es Straße um
Straße. Die Kirchen standen offen mit geborstenen Wänden, dachlos und
rauchgeschwärzt. Auf dem sich blätternden Mauerwerk der Chöre wuchs Gras.
Die eisernen Balkons an den Palästen der Hauptstraße waren wie von dem
Griff einer Riesenfaust zusammengedreht und von den Anhöhen hinter der
Stadt waren die Mauern über den Abhang gestürzt gleich einem Wasserfall
von Steintrümmern, aus denen die ausgespreizten Fächer der Fußbodenbalken
und Dachsparren ragten wie deutende Totenfinger. Gerade vor ihren Füßen
aber wuchsen Grasbüschel hoch aus einem kleinen frischgegrabenen Loch, das
durch Haufen von Kalk und Ziegelschutt tief in einen Keller hinabführte --
und hier lagen gelbe Knochenteile -- ja, wahrhaftig -- Knochen, Rippen und
Rückenwirbel eines Kindes!

Da setzte sie sich betäubt auf ein geborstenes Marmorbecken und Tränen
furchten sich ihren Weg durch den weißen Staub auf ihren Wangen. Denn
jetzt begriff sie: diese Stadt, in die sie gekommen war, war tot, getroffen von
Allahs Zorn! Und unter diesen Ruinen lagen jetzt all die vielen hundert
Menschen New Yorks -- und unter ihnen ihre Söhne! Lange, sehr lange
mußte es her sein! Denn schon wuchsen Tamarinthen- und Maulbeerbäume
zwischen den eingestürzten Mauern. Schwer sank ihr Haupt auf die Brust
herab und sie begann zu jammern, wie die Klageweiber daheim in Keile über
einen Toten jammern.

So fand sie der Steuermann des Dampfers. Er hatte sich ja vorge¬
nommen, ein Auge auf sie zu haben, und es war nicht schwer gewesen, ihr


Ivie Lrmina L^alten über das große Wasser kam

Der Steuermann kam vorbei. Sie faßte ihn beim Ärmel und wandte ihm
in lächelnder Erwartung ihre Augen zu.

„New York?" fragte sie.

Er lachte und schlug sich auf die Schenkel.

„IM fisch New York!" brüllte er. „Das da?" — Er schleuderte den Arm
mehrmals mit raschen Bewegungen, als schwinge er eine Peitsche, landeinwärts.
„Das da? Catania! Sicilia! Italia! Catania!" Dann war er plötzlich fort,
hinter dem Küchenjungen her, der vor ihm Reißaus nahm.

La Norma wartete geduldig. Als aber der Dampfer nachmittags am Hafen
von Messina anlegte und sie merkte, daß nun das Zrel erreicht sei, ging sie wie
die anderen ans Land. Und den ersten, dem sie begegnete, fragte sie nach
Simon. Er nickte und zeigte ohne ein Wort auf seine Stirn. Da ging sie
weiter, des Glaubens, daß sie auf dem richtigen Wege sei.

Aber schon einige Schritte hinter dem Hafen, gleich zu Anfang des breiten
Korsoweges, blieb sie erschreckt stehen. Hier gab es keine Menschen, von allen
Seiten starrten gespaltene und zertrümmerte Mauern mit leeren Fensteröffnungen
auf sie herab, und durch den dichten Kalkstaubnebel — viel dichter als der
Wüstensand, den der Chamsin in schweren Wolken über Keile bläst — erkannte
sie, daß hinter den Häuserfronten keine Mauergevierte waren, sondern bloß die
ungeheuren Trümmer der eingestürzten Stockwerke. So war es Straße um
Straße. Die Kirchen standen offen mit geborstenen Wänden, dachlos und
rauchgeschwärzt. Auf dem sich blätternden Mauerwerk der Chöre wuchs Gras.
Die eisernen Balkons an den Palästen der Hauptstraße waren wie von dem
Griff einer Riesenfaust zusammengedreht und von den Anhöhen hinter der
Stadt waren die Mauern über den Abhang gestürzt gleich einem Wasserfall
von Steintrümmern, aus denen die ausgespreizten Fächer der Fußbodenbalken
und Dachsparren ragten wie deutende Totenfinger. Gerade vor ihren Füßen
aber wuchsen Grasbüschel hoch aus einem kleinen frischgegrabenen Loch, das
durch Haufen von Kalk und Ziegelschutt tief in einen Keller hinabführte —
und hier lagen gelbe Knochenteile — ja, wahrhaftig — Knochen, Rippen und
Rückenwirbel eines Kindes!

Da setzte sie sich betäubt auf ein geborstenes Marmorbecken und Tränen
furchten sich ihren Weg durch den weißen Staub auf ihren Wangen. Denn
jetzt begriff sie: diese Stadt, in die sie gekommen war, war tot, getroffen von
Allahs Zorn! Und unter diesen Ruinen lagen jetzt all die vielen hundert
Menschen New Yorks — und unter ihnen ihre Söhne! Lange, sehr lange
mußte es her sein! Denn schon wuchsen Tamarinthen- und Maulbeerbäume
zwischen den eingestürzten Mauern. Schwer sank ihr Haupt auf die Brust
herab und sie begann zu jammern, wie die Klageweiber daheim in Keile über
einen Toten jammern.

So fand sie der Steuermann des Dampfers. Er hatte sich ja vorge¬
nommen, ein Auge auf sie zu haben, und es war nicht schwer gewesen, ihr


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[0619] Ivie Lrmina L^alten über das große Wasser kam Der Steuermann kam vorbei. Sie faßte ihn beim Ärmel und wandte ihm in lächelnder Erwartung ihre Augen zu. „New York?" fragte sie. Er lachte und schlug sich auf die Schenkel. „IM fisch New York!" brüllte er. „Das da?" — Er schleuderte den Arm mehrmals mit raschen Bewegungen, als schwinge er eine Peitsche, landeinwärts. „Das da? Catania! Sicilia! Italia! Catania!" Dann war er plötzlich fort, hinter dem Küchenjungen her, der vor ihm Reißaus nahm. La Norma wartete geduldig. Als aber der Dampfer nachmittags am Hafen von Messina anlegte und sie merkte, daß nun das Zrel erreicht sei, ging sie wie die anderen ans Land. Und den ersten, dem sie begegnete, fragte sie nach Simon. Er nickte und zeigte ohne ein Wort auf seine Stirn. Da ging sie weiter, des Glaubens, daß sie auf dem richtigen Wege sei. Aber schon einige Schritte hinter dem Hafen, gleich zu Anfang des breiten Korsoweges, blieb sie erschreckt stehen. Hier gab es keine Menschen, von allen Seiten starrten gespaltene und zertrümmerte Mauern mit leeren Fensteröffnungen auf sie herab, und durch den dichten Kalkstaubnebel — viel dichter als der Wüstensand, den der Chamsin in schweren Wolken über Keile bläst — erkannte sie, daß hinter den Häuserfronten keine Mauergevierte waren, sondern bloß die ungeheuren Trümmer der eingestürzten Stockwerke. So war es Straße um Straße. Die Kirchen standen offen mit geborstenen Wänden, dachlos und rauchgeschwärzt. Auf dem sich blätternden Mauerwerk der Chöre wuchs Gras. Die eisernen Balkons an den Palästen der Hauptstraße waren wie von dem Griff einer Riesenfaust zusammengedreht und von den Anhöhen hinter der Stadt waren die Mauern über den Abhang gestürzt gleich einem Wasserfall von Steintrümmern, aus denen die ausgespreizten Fächer der Fußbodenbalken und Dachsparren ragten wie deutende Totenfinger. Gerade vor ihren Füßen aber wuchsen Grasbüschel hoch aus einem kleinen frischgegrabenen Loch, das durch Haufen von Kalk und Ziegelschutt tief in einen Keller hinabführte — und hier lagen gelbe Knochenteile — ja, wahrhaftig — Knochen, Rippen und Rückenwirbel eines Kindes! Da setzte sie sich betäubt auf ein geborstenes Marmorbecken und Tränen furchten sich ihren Weg durch den weißen Staub auf ihren Wangen. Denn jetzt begriff sie: diese Stadt, in die sie gekommen war, war tot, getroffen von Allahs Zorn! Und unter diesen Ruinen lagen jetzt all die vielen hundert Menschen New Yorks — und unter ihnen ihre Söhne! Lange, sehr lange mußte es her sein! Denn schon wuchsen Tamarinthen- und Maulbeerbäume zwischen den eingestürzten Mauern. Schwer sank ihr Haupt auf die Brust herab und sie begann zu jammern, wie die Klageweiber daheim in Keile über einen Toten jammern. So fand sie der Steuermann des Dampfers. Er hatte sich ja vorge¬ nommen, ein Auge auf sie zu haben, und es war nicht schwer gewesen, ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/619>, abgerufen am 24.08.2024.