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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

dafür nun eine andere zu erheben, die der "entwertenden Relativierung". Das
Historische, fürchtet man, werde gar leicht das Nur - noch - historische. Sei erst
eine große Leistung "an ihren Ort gestellt", wieder angekettet an die individuelle
Zeitlichkeit, der sie zuerst entsprang, so erscheine alsbald auch die Selbständigkeit
ihres Nachlebens in Frage gestellt und ihr Weiterwirkungsrecht bezweifelt. Tat¬
sächlich ist ja auch durch den übertriebenen Historizismus der letzten Jahrzehnte
in fast allen Wissenschaften fehr beträchtlicher Schade angerichtet worden, und
es bedeutet einen unverkennbaren Fortschritt unserer gesamten Geisteskultur, daß
man endlich wieder aufhört, bloß zu zählen, zu messen, festzustellen, und daß man
wieder beginnt zu wägen und zu werten. Diejenigen Humanisten sind daher
auf dem richtigen Wege, die die Wirkungen der antiken Kultur bis in die Ver¬
hältnisse der Gegenwart hinein nachzuweisen und diejenigen Seiten in ihr auf¬
zudecken bemüht sind, an die in voraussichtlich fruchtbarer Weise unsere eigene
heutige Entwicklung anknüpfen kann, die nach dem Ausdruck eines ihrer heutigen
Führer "das Altertum in der Gegenwart" spüren lassen.

So zu verfahren ist notwendig, und es ist, in vorsichtig abgemessenem
Umfange, auch möglich auf rein humanistischen Anstalten. Um aber ein gemein¬
sames Marschziel -- bei getrenntem Ausgang -- mit den realen Bildungs¬
anstalten zu gewinnen, wird doch folgendes zu beachten sein: so sehr zugegeben
werden muß, daß manche Züge unserer modernen Entwicklung im Altertum
bereits vorgebildet worden sind und der Gang ihrer Entfaltung also von dorther
entnommen werden könnte, so kennt doch die Antike eben eine Menge von Werten
und Problemen überhaupt gar nicht, die im modernen Leben die größte Rolle
spielen. Sobald nämlich die Frage erhoben wird, wieviel denn von den Ver¬
hältnissen der Gegenwart, für die unsere Jugend herangebildet werden soll, den
Wirkungen der antiken Kultur zuzuschreiben ist, beginnt auch der Kampf mit
den Germanisten. Daß seit der politischen Einigung unseres Volkes gemeinsame
nationale Wesenszüge immer deutlicher sichtbar geworden sind, daß mit ungleich
vollerem Bewußtsein an der Weiterentwicklung derjenigen völkischen Züge gearbeitet
wird, die im bisherigen Verlauf unserer Geschichte hervorgetreten sind, dagegen
kann sich heute wirklich niemand mehr verschließen.

Daß in der ersten Zeit nach den deutschen Einheitskriegen, gerade so wie
vor hundert Jahren nach den Befreiungskriegen, auch so manche geschmacklosen
Deutschtümeleien sich breit machten, soll man nicht leugnen wollen. Sie waren
aber, und wo sie heute noch vorkommen, sind sie noch der sehr begreifliche
Gegenstoß gegen die langanhaltende Wirkung des alten deutschen Erbfehlers,
den blendenden Erzeugnissen und dem selbstbewußten Auftreten des Auslandes
gegenüber "allzugerecht" zu sein. Ani nun das Auge für die deutschen Grund"
züge der Kultur unserer Gegenwart hell zu machen, um das Urteil für das,
was der bewußten Förderung wert und was -- als unserem Wesen fremd und
also nicht organisch mit ihm vereinbar anzusehen ist -- zu schärfen, fordern die
Germanisten eine viel stärkere, im Hinblick auf das Endziel zu gestaltende Ein-


Humanisten und Germanisten

dafür nun eine andere zu erheben, die der „entwertenden Relativierung". Das
Historische, fürchtet man, werde gar leicht das Nur - noch - historische. Sei erst
eine große Leistung „an ihren Ort gestellt", wieder angekettet an die individuelle
Zeitlichkeit, der sie zuerst entsprang, so erscheine alsbald auch die Selbständigkeit
ihres Nachlebens in Frage gestellt und ihr Weiterwirkungsrecht bezweifelt. Tat¬
sächlich ist ja auch durch den übertriebenen Historizismus der letzten Jahrzehnte
in fast allen Wissenschaften fehr beträchtlicher Schade angerichtet worden, und
es bedeutet einen unverkennbaren Fortschritt unserer gesamten Geisteskultur, daß
man endlich wieder aufhört, bloß zu zählen, zu messen, festzustellen, und daß man
wieder beginnt zu wägen und zu werten. Diejenigen Humanisten sind daher
auf dem richtigen Wege, die die Wirkungen der antiken Kultur bis in die Ver¬
hältnisse der Gegenwart hinein nachzuweisen und diejenigen Seiten in ihr auf¬
zudecken bemüht sind, an die in voraussichtlich fruchtbarer Weise unsere eigene
heutige Entwicklung anknüpfen kann, die nach dem Ausdruck eines ihrer heutigen
Führer „das Altertum in der Gegenwart" spüren lassen.

So zu verfahren ist notwendig, und es ist, in vorsichtig abgemessenem
Umfange, auch möglich auf rein humanistischen Anstalten. Um aber ein gemein¬
sames Marschziel — bei getrenntem Ausgang — mit den realen Bildungs¬
anstalten zu gewinnen, wird doch folgendes zu beachten sein: so sehr zugegeben
werden muß, daß manche Züge unserer modernen Entwicklung im Altertum
bereits vorgebildet worden sind und der Gang ihrer Entfaltung also von dorther
entnommen werden könnte, so kennt doch die Antike eben eine Menge von Werten
und Problemen überhaupt gar nicht, die im modernen Leben die größte Rolle
spielen. Sobald nämlich die Frage erhoben wird, wieviel denn von den Ver¬
hältnissen der Gegenwart, für die unsere Jugend herangebildet werden soll, den
Wirkungen der antiken Kultur zuzuschreiben ist, beginnt auch der Kampf mit
den Germanisten. Daß seit der politischen Einigung unseres Volkes gemeinsame
nationale Wesenszüge immer deutlicher sichtbar geworden sind, daß mit ungleich
vollerem Bewußtsein an der Weiterentwicklung derjenigen völkischen Züge gearbeitet
wird, die im bisherigen Verlauf unserer Geschichte hervorgetreten sind, dagegen
kann sich heute wirklich niemand mehr verschließen.

Daß in der ersten Zeit nach den deutschen Einheitskriegen, gerade so wie
vor hundert Jahren nach den Befreiungskriegen, auch so manche geschmacklosen
Deutschtümeleien sich breit machten, soll man nicht leugnen wollen. Sie waren
aber, und wo sie heute noch vorkommen, sind sie noch der sehr begreifliche
Gegenstoß gegen die langanhaltende Wirkung des alten deutschen Erbfehlers,
den blendenden Erzeugnissen und dem selbstbewußten Auftreten des Auslandes
gegenüber „allzugerecht" zu sein. Ani nun das Auge für die deutschen Grund«
züge der Kultur unserer Gegenwart hell zu machen, um das Urteil für das,
was der bewußten Förderung wert und was — als unserem Wesen fremd und
also nicht organisch mit ihm vereinbar anzusehen ist — zu schärfen, fordern die
Germanisten eine viel stärkere, im Hinblick auf das Endziel zu gestaltende Ein-


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[0604] Humanisten und Germanisten dafür nun eine andere zu erheben, die der „entwertenden Relativierung". Das Historische, fürchtet man, werde gar leicht das Nur - noch - historische. Sei erst eine große Leistung „an ihren Ort gestellt", wieder angekettet an die individuelle Zeitlichkeit, der sie zuerst entsprang, so erscheine alsbald auch die Selbständigkeit ihres Nachlebens in Frage gestellt und ihr Weiterwirkungsrecht bezweifelt. Tat¬ sächlich ist ja auch durch den übertriebenen Historizismus der letzten Jahrzehnte in fast allen Wissenschaften fehr beträchtlicher Schade angerichtet worden, und es bedeutet einen unverkennbaren Fortschritt unserer gesamten Geisteskultur, daß man endlich wieder aufhört, bloß zu zählen, zu messen, festzustellen, und daß man wieder beginnt zu wägen und zu werten. Diejenigen Humanisten sind daher auf dem richtigen Wege, die die Wirkungen der antiken Kultur bis in die Ver¬ hältnisse der Gegenwart hinein nachzuweisen und diejenigen Seiten in ihr auf¬ zudecken bemüht sind, an die in voraussichtlich fruchtbarer Weise unsere eigene heutige Entwicklung anknüpfen kann, die nach dem Ausdruck eines ihrer heutigen Führer „das Altertum in der Gegenwart" spüren lassen. So zu verfahren ist notwendig, und es ist, in vorsichtig abgemessenem Umfange, auch möglich auf rein humanistischen Anstalten. Um aber ein gemein¬ sames Marschziel — bei getrenntem Ausgang — mit den realen Bildungs¬ anstalten zu gewinnen, wird doch folgendes zu beachten sein: so sehr zugegeben werden muß, daß manche Züge unserer modernen Entwicklung im Altertum bereits vorgebildet worden sind und der Gang ihrer Entfaltung also von dorther entnommen werden könnte, so kennt doch die Antike eben eine Menge von Werten und Problemen überhaupt gar nicht, die im modernen Leben die größte Rolle spielen. Sobald nämlich die Frage erhoben wird, wieviel denn von den Ver¬ hältnissen der Gegenwart, für die unsere Jugend herangebildet werden soll, den Wirkungen der antiken Kultur zuzuschreiben ist, beginnt auch der Kampf mit den Germanisten. Daß seit der politischen Einigung unseres Volkes gemeinsame nationale Wesenszüge immer deutlicher sichtbar geworden sind, daß mit ungleich vollerem Bewußtsein an der Weiterentwicklung derjenigen völkischen Züge gearbeitet wird, die im bisherigen Verlauf unserer Geschichte hervorgetreten sind, dagegen kann sich heute wirklich niemand mehr verschließen. Daß in der ersten Zeit nach den deutschen Einheitskriegen, gerade so wie vor hundert Jahren nach den Befreiungskriegen, auch so manche geschmacklosen Deutschtümeleien sich breit machten, soll man nicht leugnen wollen. Sie waren aber, und wo sie heute noch vorkommen, sind sie noch der sehr begreifliche Gegenstoß gegen die langanhaltende Wirkung des alten deutschen Erbfehlers, den blendenden Erzeugnissen und dem selbstbewußten Auftreten des Auslandes gegenüber „allzugerecht" zu sein. Ani nun das Auge für die deutschen Grund« züge der Kultur unserer Gegenwart hell zu machen, um das Urteil für das, was der bewußten Förderung wert und was — als unserem Wesen fremd und also nicht organisch mit ihm vereinbar anzusehen ist — zu schärfen, fordern die Germanisten eine viel stärkere, im Hinblick auf das Endziel zu gestaltende Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/604>, abgerufen am 28.07.2024.