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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Augustus

Leben hängen und den Tod überwinden zu sehen. Herrlich war es, in den
Zügen der Schwerkranken die Geduld und in den Augen der Genesenden die
helle Lebenslust gedeihen zu sehen, und schön waren auch die stillen würdigen
Gesichter der Gestorbenen, und schöner als dies alles war die Liebe und Geduld
der hübschen reinlichen Pflegerinnen. Aber auch diese Zeit ging zu Ende, der
Herbstwind blies und Augustus wanderte weiter, dem Winter entgegen, und
eine seltsame Ungeduld ergriff ihn, als er sah wie unendlich langsam er vor¬
wärts kam, da er doch noch überall hinkommen und noch so vielen, vielen
Menschen in die Augen sehen wollte. Sein Haar war grau geworden und
seine Augen lächelten blöde hinter roten kranken Lidern, und allmählich war
auch sein Gedächtnis trübe geworden, so daß ihm schien, er habe die Welt
niemals anders gesehen als heute; aber er war zufrieden und fand die Welt
durchaus herrlich und liebenswert.

So kam er mit dem Einbruch des Winters in eine Stadt; der Schnee
trieb durch die dunkeln Straßen und ein paar späte Gassenbuben warfen dem
Wanderer Schneeballen nach, sonst aber war alles schon abendlich still. Augustus
war sehr müde, da kam er in eine schmale Gasse, die schien ihm wohlbekannt,
und wieder in eine, und da stand seiner Mutter Haus und das Haus des
Paten Binßwanger klein und alt im kalten Schneetreiben, und beim Paten war
ein Fenster hell, das schimmerte rot und friedlich durch die weiße Winternacht.

Augustus ging hinein und pochte an die Stubentür, und der kleine alte
Mann kam ihm entgegen und führte ihn schweigend in seine Stube, da war
es warm und still und ein kleines Helles Feuer brannte im Kamin.

"Bist du hungrig?" fragte der Pate. Aber Augustus war nicht hungrig,
er lächelte nur und schüttelte den Kopf.

"Aber müde wirst du sein?" fragte der Pate wieder, und er breitete sein
altes Fell auf dem Boden aus und da kauerten die beiden alten Leute neben¬
einander und sahen ins Feuer.

"Du hast einen weiten Weg gehabt," sagte der Pate.

"O, es war sehr schön, ich bin nur ein wenig müde geworden. Darf ich
bei dir schlafen? Dann will ich morgen weitergehen."

"Ja, das kannst du. Und willst du nicht auch die Engel wieder tanzen sehen?"

"Die Engel? O ja, das will ich wohl, wenn ich einmal wieder ein Kind
sein werde."

"Wir haben uns lange nicht mehr gesehen," fing der Pate wieder an. "Du
bist so hübsch geworden, deine Augen sind ja wieder so gut und sanft wie in
der alten Zeit, wo deine Mutter noch am Leben war. Es war freundlich von
dir, mich zu besuchen."

Der Wanderer in seinen zerrissenen Kleidern saß zusammengesunken neben
seinem Freunde. Er war noch nie so müde gewesen und die schöne Wärme
und der Feuerschein machte ihn verwirrt, so daß er zwischen heute und damals
nicht mehr deutlich unterscheiden konnte.


Augustus

Leben hängen und den Tod überwinden zu sehen. Herrlich war es, in den
Zügen der Schwerkranken die Geduld und in den Augen der Genesenden die
helle Lebenslust gedeihen zu sehen, und schön waren auch die stillen würdigen
Gesichter der Gestorbenen, und schöner als dies alles war die Liebe und Geduld
der hübschen reinlichen Pflegerinnen. Aber auch diese Zeit ging zu Ende, der
Herbstwind blies und Augustus wanderte weiter, dem Winter entgegen, und
eine seltsame Ungeduld ergriff ihn, als er sah wie unendlich langsam er vor¬
wärts kam, da er doch noch überall hinkommen und noch so vielen, vielen
Menschen in die Augen sehen wollte. Sein Haar war grau geworden und
seine Augen lächelten blöde hinter roten kranken Lidern, und allmählich war
auch sein Gedächtnis trübe geworden, so daß ihm schien, er habe die Welt
niemals anders gesehen als heute; aber er war zufrieden und fand die Welt
durchaus herrlich und liebenswert.

So kam er mit dem Einbruch des Winters in eine Stadt; der Schnee
trieb durch die dunkeln Straßen und ein paar späte Gassenbuben warfen dem
Wanderer Schneeballen nach, sonst aber war alles schon abendlich still. Augustus
war sehr müde, da kam er in eine schmale Gasse, die schien ihm wohlbekannt,
und wieder in eine, und da stand seiner Mutter Haus und das Haus des
Paten Binßwanger klein und alt im kalten Schneetreiben, und beim Paten war
ein Fenster hell, das schimmerte rot und friedlich durch die weiße Winternacht.

Augustus ging hinein und pochte an die Stubentür, und der kleine alte
Mann kam ihm entgegen und führte ihn schweigend in seine Stube, da war
es warm und still und ein kleines Helles Feuer brannte im Kamin.

„Bist du hungrig?" fragte der Pate. Aber Augustus war nicht hungrig,
er lächelte nur und schüttelte den Kopf.

„Aber müde wirst du sein?" fragte der Pate wieder, und er breitete sein
altes Fell auf dem Boden aus und da kauerten die beiden alten Leute neben¬
einander und sahen ins Feuer.

„Du hast einen weiten Weg gehabt," sagte der Pate.

„O, es war sehr schön, ich bin nur ein wenig müde geworden. Darf ich
bei dir schlafen? Dann will ich morgen weitergehen."

„Ja, das kannst du. Und willst du nicht auch die Engel wieder tanzen sehen?"

„Die Engel? O ja, das will ich wohl, wenn ich einmal wieder ein Kind
sein werde."

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen," fing der Pate wieder an. „Du
bist so hübsch geworden, deine Augen sind ja wieder so gut und sanft wie in
der alten Zeit, wo deine Mutter noch am Leben war. Es war freundlich von
dir, mich zu besuchen."

Der Wanderer in seinen zerrissenen Kleidern saß zusammengesunken neben
seinem Freunde. Er war noch nie so müde gewesen und die schöne Wärme
und der Feuerschein machte ihn verwirrt, so daß er zwischen heute und damals
nicht mehr deutlich unterscheiden konnte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/584>, abgerufen am 22.07.2024.