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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Philosophie als Runst

schränkung nicht halten. Es mag Zeiten geben, wo sie sich mit der ihr so
vorgeschriebenen Arbeit zufrieden gibt, aber früher oder später erweitert sie mit
innerer Notwendigkeit den Kreis ihrer Tätigkeit. Denn Philosophie entsprießt
in den letzten Wurzeln ihres Daseins einem der großen menschlichen Triebe,
die auf eine Erfassung des Ganzen der Welt und des Lebens ausgehen, und
sobald dieser Urtrieb sich wieder zu regen beginnt, holt sie zum Sprunge aus
und überfliegt mit Eigenwilligkeit alle ihr künstlich gesetzten Grenzen, um sich
nach ihrer eigensten Bestimmung frei zu ergehen. Da wird sie eine Schwester
der großen Kunst und der Religion. Da gestaltet sie freilich mit dem Material,
das ihr die Wissenschaften reichen, aber doch nach eigenen Prinzipren den Stoff
aller Einzelheiten zu einer umfassenden und einheitlichen Weltanschauung. Da
wird sie eine Kunst, weil ihre Zwecke dieselben sind wie die der Kunst, um mit
Nietzsche zu reden, oder weil sie auf einen verwandten Trieb zurückgeht, wie
die Kunst, was noch umfassender gesagt ist, da der Zweck nicht willkürlich ge¬
wählt ist, sondern sich aus dem Trieb des Menschen von selbst ergibt. Das
mag heute etwas unzeitgemäß klingen, vor zwanzig und dreißig Jahren war es
sicherlich unzeitgemäß, aber es scheint doch, als wenn das Verständnis dafür
heute viel eher wieder möglich ist, und kein Zweifel besteht darüber, daß die
in diesen Sätzen verborgene Wahrheit von Zeit zu Zeit immer wieder von neuem
sich durchsetzen wird.

Wenn in ihrem Grundtriebe, dann ist die Philosophie auch in ihrer Pro¬
duktion, in der Art ihres Schaffens und Bauens, mit der Kunst verwandt.
Wir wissen, daß das künstlerische Schaffen seine eigenen Gesetze hat. die Wissen¬
schaft von der Kunst begreift das auch mehr und mehr und fängt allmählich
an, diesen Gesetzen eifriger nachzuspüren. Nicht das reflektierende Denken ruft
die Gestalten im Geiste des Künstlers heraus, auch führt es ihm nicht die Hand
beim Hervorbringen seiner Werke, nur grenzbestimmend und regulierend wirkt
es dabei. Das Entscheidende muß die Intuition vollbringen. Wer wollte
leugnen, daß es bei dem großen Philosophen, dem Fröhner jenes menschlichen
Urtriebes, anders ist? Ihm erscheint das Bild seines Weltanschauungsgebäudes
gleichfalls in einer Intuition, blitzartig enthüllen sich ihm Überblicke und
grundlegende Gedanken, wie ein aufflammendes Transparent zeigt sich
ihm die Gestalt, zu der er das einzelne formen soll. Nicht minder treibt
ihn dieser aus dem Unbewußten stammende Formungsdrang bei der Aus¬
arbeitung und Entwicklung seiner Grundgedanken, nur daß hier natürlich
die Reflexion die treue Begleiterin und Grenzhüterin wird. Ihre Rolle ist
beim Philosophen selbstverständlich noch größer, ihr Mitbestimmungsrecht noch
weitergehend als bei der Kunst, ja, man kann sie schließlich als die Maschine
bezeichnen, die alle Arbeit tun muß; aber den Antrieb erhält diese Maschine
aus der Kraft der Intuition, aus der produktiven Gesamtfähigkeit des
schaffenden Menschen, nicht aus einem bewußt reflektierenden Teil, dem
Verstände.


Grenzboten IV 1913 gg
Philosophie als Runst

schränkung nicht halten. Es mag Zeiten geben, wo sie sich mit der ihr so
vorgeschriebenen Arbeit zufrieden gibt, aber früher oder später erweitert sie mit
innerer Notwendigkeit den Kreis ihrer Tätigkeit. Denn Philosophie entsprießt
in den letzten Wurzeln ihres Daseins einem der großen menschlichen Triebe,
die auf eine Erfassung des Ganzen der Welt und des Lebens ausgehen, und
sobald dieser Urtrieb sich wieder zu regen beginnt, holt sie zum Sprunge aus
und überfliegt mit Eigenwilligkeit alle ihr künstlich gesetzten Grenzen, um sich
nach ihrer eigensten Bestimmung frei zu ergehen. Da wird sie eine Schwester
der großen Kunst und der Religion. Da gestaltet sie freilich mit dem Material,
das ihr die Wissenschaften reichen, aber doch nach eigenen Prinzipren den Stoff
aller Einzelheiten zu einer umfassenden und einheitlichen Weltanschauung. Da
wird sie eine Kunst, weil ihre Zwecke dieselben sind wie die der Kunst, um mit
Nietzsche zu reden, oder weil sie auf einen verwandten Trieb zurückgeht, wie
die Kunst, was noch umfassender gesagt ist, da der Zweck nicht willkürlich ge¬
wählt ist, sondern sich aus dem Trieb des Menschen von selbst ergibt. Das
mag heute etwas unzeitgemäß klingen, vor zwanzig und dreißig Jahren war es
sicherlich unzeitgemäß, aber es scheint doch, als wenn das Verständnis dafür
heute viel eher wieder möglich ist, und kein Zweifel besteht darüber, daß die
in diesen Sätzen verborgene Wahrheit von Zeit zu Zeit immer wieder von neuem
sich durchsetzen wird.

Wenn in ihrem Grundtriebe, dann ist die Philosophie auch in ihrer Pro¬
duktion, in der Art ihres Schaffens und Bauens, mit der Kunst verwandt.
Wir wissen, daß das künstlerische Schaffen seine eigenen Gesetze hat. die Wissen¬
schaft von der Kunst begreift das auch mehr und mehr und fängt allmählich
an, diesen Gesetzen eifriger nachzuspüren. Nicht das reflektierende Denken ruft
die Gestalten im Geiste des Künstlers heraus, auch führt es ihm nicht die Hand
beim Hervorbringen seiner Werke, nur grenzbestimmend und regulierend wirkt
es dabei. Das Entscheidende muß die Intuition vollbringen. Wer wollte
leugnen, daß es bei dem großen Philosophen, dem Fröhner jenes menschlichen
Urtriebes, anders ist? Ihm erscheint das Bild seines Weltanschauungsgebäudes
gleichfalls in einer Intuition, blitzartig enthüllen sich ihm Überblicke und
grundlegende Gedanken, wie ein aufflammendes Transparent zeigt sich
ihm die Gestalt, zu der er das einzelne formen soll. Nicht minder treibt
ihn dieser aus dem Unbewußten stammende Formungsdrang bei der Aus¬
arbeitung und Entwicklung seiner Grundgedanken, nur daß hier natürlich
die Reflexion die treue Begleiterin und Grenzhüterin wird. Ihre Rolle ist
beim Philosophen selbstverständlich noch größer, ihr Mitbestimmungsrecht noch
weitergehend als bei der Kunst, ja, man kann sie schließlich als die Maschine
bezeichnen, die alle Arbeit tun muß; aber den Antrieb erhält diese Maschine
aus der Kraft der Intuition, aus der produktiven Gesamtfähigkeit des
schaffenden Menschen, nicht aus einem bewußt reflektierenden Teil, dem
Verstände.


Grenzboten IV 1913 gg
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[0565] Philosophie als Runst schränkung nicht halten. Es mag Zeiten geben, wo sie sich mit der ihr so vorgeschriebenen Arbeit zufrieden gibt, aber früher oder später erweitert sie mit innerer Notwendigkeit den Kreis ihrer Tätigkeit. Denn Philosophie entsprießt in den letzten Wurzeln ihres Daseins einem der großen menschlichen Triebe, die auf eine Erfassung des Ganzen der Welt und des Lebens ausgehen, und sobald dieser Urtrieb sich wieder zu regen beginnt, holt sie zum Sprunge aus und überfliegt mit Eigenwilligkeit alle ihr künstlich gesetzten Grenzen, um sich nach ihrer eigensten Bestimmung frei zu ergehen. Da wird sie eine Schwester der großen Kunst und der Religion. Da gestaltet sie freilich mit dem Material, das ihr die Wissenschaften reichen, aber doch nach eigenen Prinzipren den Stoff aller Einzelheiten zu einer umfassenden und einheitlichen Weltanschauung. Da wird sie eine Kunst, weil ihre Zwecke dieselben sind wie die der Kunst, um mit Nietzsche zu reden, oder weil sie auf einen verwandten Trieb zurückgeht, wie die Kunst, was noch umfassender gesagt ist, da der Zweck nicht willkürlich ge¬ wählt ist, sondern sich aus dem Trieb des Menschen von selbst ergibt. Das mag heute etwas unzeitgemäß klingen, vor zwanzig und dreißig Jahren war es sicherlich unzeitgemäß, aber es scheint doch, als wenn das Verständnis dafür heute viel eher wieder möglich ist, und kein Zweifel besteht darüber, daß die in diesen Sätzen verborgene Wahrheit von Zeit zu Zeit immer wieder von neuem sich durchsetzen wird. Wenn in ihrem Grundtriebe, dann ist die Philosophie auch in ihrer Pro¬ duktion, in der Art ihres Schaffens und Bauens, mit der Kunst verwandt. Wir wissen, daß das künstlerische Schaffen seine eigenen Gesetze hat. die Wissen¬ schaft von der Kunst begreift das auch mehr und mehr und fängt allmählich an, diesen Gesetzen eifriger nachzuspüren. Nicht das reflektierende Denken ruft die Gestalten im Geiste des Künstlers heraus, auch führt es ihm nicht die Hand beim Hervorbringen seiner Werke, nur grenzbestimmend und regulierend wirkt es dabei. Das Entscheidende muß die Intuition vollbringen. Wer wollte leugnen, daß es bei dem großen Philosophen, dem Fröhner jenes menschlichen Urtriebes, anders ist? Ihm erscheint das Bild seines Weltanschauungsgebäudes gleichfalls in einer Intuition, blitzartig enthüllen sich ihm Überblicke und grundlegende Gedanken, wie ein aufflammendes Transparent zeigt sich ihm die Gestalt, zu der er das einzelne formen soll. Nicht minder treibt ihn dieser aus dem Unbewußten stammende Formungsdrang bei der Aus¬ arbeitung und Entwicklung seiner Grundgedanken, nur daß hier natürlich die Reflexion die treue Begleiterin und Grenzhüterin wird. Ihre Rolle ist beim Philosophen selbstverständlich noch größer, ihr Mitbestimmungsrecht noch weitergehend als bei der Kunst, ja, man kann sie schließlich als die Maschine bezeichnen, die alle Arbeit tun muß; aber den Antrieb erhält diese Maschine aus der Kraft der Intuition, aus der produktiven Gesamtfähigkeit des schaffenden Menschen, nicht aus einem bewußt reflektierenden Teil, dem Verstände. Grenzboten IV 1913 gg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/565>, abgerufen am 27.07.2024.