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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

liebes Ziel und einen unbedingten Sinn des
menschlichen Daseins und Trachtens zu finden
-- ein Bedürfnis, das wie ein unbersiegbarer
Quell, nur zuweilen unsichtbar oder gehemmt,
immer von neuen? aus den Tiefen der mensch¬
lichen Seele mit Macht hervorbricht. Von
ganz anderer, in Vergleichung mit jenem
gefühlskräftigen Triebe recht nüchterner Natur,
zudem weniger allgemein und bekannt, ist
hingegen ein zweiter wichtiger Ausgangspunkt
des Philosophischen Strebens unserer Tage:
das zunächst rein verstandesmäszige Verlangen
nach Klarheit und Tiefe der Erkenntnis, das
in seiner reinsten Form sich darstellt als das
Interesse -- des wissenschaftlichen Forschers
sowohl als des "kritischen" Philosophen --,
die logischen Grundlagen der Wissenschaften,
der empirischen wie der rationalen, aufzu¬
decken und zu begreifen.

Gemeinsam ist diesen beiden Antrieben
der philosophischen Bewegung, daß sie auf
unbedingte, letzte, dem Schicksale der vergäng¬
lichen Dinge entrückte Ziele gerichtet sind --
denn auch die Grundlagen der Wissenschaften
werden, wie Kants Erkenntnistheorie zum
ersten Male systematisch zu beweisen unter¬
nahm, als unwandelbar und vom Wechsel
der einzelnen Erfahrungen unabhängig ge¬
fordert, nämlich zunächst als unerschütterliche
theoretische Grundsätze, welche selbst die not¬
wendigen, unerläßlichen Bedingungen aller
Erfahrung darstellen. Dabei' bleibt nun
aber die von der Wissenschaft ausgehende
Philosophie nicht stehen. Indem sie die Vor¬
aussetzungen der Wissenschaften in ihrer
ganzen Weite und mit allen Mitteln verfolgt,
unterwirft sie die Prinzipien aller der wissen¬
schaftlichen Behandlung fähigen Gegenstände
^ der Natur wie der Kultur -- ihrer Be¬
trachtung; wiederum nach dem Vorbilde
Kants, untersucht sie nun nicht nur die Natur¬
wissenschaften und die Mathematik, sondern
auch das sittliche Leben des einzelnen und
der Gemeinschaft (Recht und Staat), die
Kunst, die Religion, zuletzt sich selbst, das
Philosophische Bewußtsein, auf ihre tiefsten
Bedingungen. Und so erblickt man denn auch
von der an der Wissenschaft orientierten
Philosophie aus Richtpunkte, die, wie die¬
jenigen der Metaphysik, ganz außerhalb des
Kreises der theoretischen Vernunft liegen;

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wissenschaftliche und metaphysische Philosophie
scheinen dadurch noch mehr in verwandtschaft¬
liche Nähe zueinander zu rücken.

Gewiß ist hiernach jedenfalls dies, daß
die auf Erkenntnistheorie gegründete wissen¬
schaftliche oder kritische Philosophie, indem sie
daran arbeitet, ein über die gesamte Kultur
der Menschheit sich ausbreitendes System her¬
vorzutreiben, nicht getroffen wird von dem
Vorwurf der Eingeschränktheit, der von meta¬
physischer Seite gegen sie erhoben zu werden
pflegt. Ja, sie gewinnt nun ihrerseits, auf
Grund ihres wissenschaftlichen Ausgangs¬
punktes und Fortschrittes, der Metaphysik
gegenüber einen Vorsprung, nämlich die Über¬
legenheit, die ein aus logischen Grundlagen
errichtetes Gebäude, nach seinem Wahrheits¬
wert betrachtet, im Verhältnis zu einer ge¬
fühlsmäßig oder durch Ausgestaltung eines
geistvollen Einfalls begründeten Weltan¬
schauung besitzt. -- Indessen gereicht diese
theoretisch so wertvolle Eigenschaft nicht zum
Vorteil, wenn es sich darum handelt, der
Philosophie Eingang in die Herzen der
Menschen zu verschaffen. Denn eben die
Exaktheit in der logischen Grundlegung, die
von ganz eigentümlicher Natur ist, bedingt
Schwierigkeiten und Umständlichkeiten, die
man zwar bei dem Studium mancher anderer
Wissenschaften, nicht aber bei demjenigen der
Philosophie mit in den Kauf zu nehmen be¬
reit ist. Daraus ist es zum Teil zu erklären,
daß in jener noch nicht lange überwundenen
Epoche, da man die Philosophie als überlebt
ansah, statt philosophischer Wissenschaft selbst
die groben Vorstellungen des Materialismus
starken Anklang fanden -- in Wahrheit selbst
eine Art der Metaphysik, obwohl sie als natur¬
wissenschaftliche Lehre ausgegeben wurde. --
Vor allem jedoch ist es sehr verstündlich,
wenn eine unvergleichlich feinere und tiefere,
dein Materialismus entgegengesetzte und der
wissenschaftlichen Philosophie in mancher Hin¬
sicht sympathische Bestrebungen verfolgende
Metaphysik, wie die Philosophie Bergsons, in
unseren Tagen bei hochkultivierten Menschen
begeisterten Widerhall hervorruft; bestrickt sie
doch gerade durch nichtwissenschaftliche, künst¬
lerische Mittel: durch den Reiz ihrer Poetischen
Gleichnisse und Bilder -- vermittelst deren
allein sie die Aufgabe der Philosophie lösen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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liebes Ziel und einen unbedingten Sinn des
menschlichen Daseins und Trachtens zu finden
— ein Bedürfnis, das wie ein unbersiegbarer
Quell, nur zuweilen unsichtbar oder gehemmt,
immer von neuen? aus den Tiefen der mensch¬
lichen Seele mit Macht hervorbricht. Von
ganz anderer, in Vergleichung mit jenem
gefühlskräftigen Triebe recht nüchterner Natur,
zudem weniger allgemein und bekannt, ist
hingegen ein zweiter wichtiger Ausgangspunkt
des Philosophischen Strebens unserer Tage:
das zunächst rein verstandesmäszige Verlangen
nach Klarheit und Tiefe der Erkenntnis, das
in seiner reinsten Form sich darstellt als das
Interesse — des wissenschaftlichen Forschers
sowohl als des „kritischen" Philosophen —,
die logischen Grundlagen der Wissenschaften,
der empirischen wie der rationalen, aufzu¬
decken und zu begreifen.

Gemeinsam ist diesen beiden Antrieben
der philosophischen Bewegung, daß sie auf
unbedingte, letzte, dem Schicksale der vergäng¬
lichen Dinge entrückte Ziele gerichtet sind —
denn auch die Grundlagen der Wissenschaften
werden, wie Kants Erkenntnistheorie zum
ersten Male systematisch zu beweisen unter¬
nahm, als unwandelbar und vom Wechsel
der einzelnen Erfahrungen unabhängig ge¬
fordert, nämlich zunächst als unerschütterliche
theoretische Grundsätze, welche selbst die not¬
wendigen, unerläßlichen Bedingungen aller
Erfahrung darstellen. Dabei' bleibt nun
aber die von der Wissenschaft ausgehende
Philosophie nicht stehen. Indem sie die Vor¬
aussetzungen der Wissenschaften in ihrer
ganzen Weite und mit allen Mitteln verfolgt,
unterwirft sie die Prinzipien aller der wissen¬
schaftlichen Behandlung fähigen Gegenstände
^ der Natur wie der Kultur — ihrer Be¬
trachtung; wiederum nach dem Vorbilde
Kants, untersucht sie nun nicht nur die Natur¬
wissenschaften und die Mathematik, sondern
auch das sittliche Leben des einzelnen und
der Gemeinschaft (Recht und Staat), die
Kunst, die Religion, zuletzt sich selbst, das
Philosophische Bewußtsein, auf ihre tiefsten
Bedingungen. Und so erblickt man denn auch
von der an der Wissenschaft orientierten
Philosophie aus Richtpunkte, die, wie die¬
jenigen der Metaphysik, ganz außerhalb des
Kreises der theoretischen Vernunft liegen;

[Spaltenumbruch]

wissenschaftliche und metaphysische Philosophie
scheinen dadurch noch mehr in verwandtschaft¬
liche Nähe zueinander zu rücken.

Gewiß ist hiernach jedenfalls dies, daß
die auf Erkenntnistheorie gegründete wissen¬
schaftliche oder kritische Philosophie, indem sie
daran arbeitet, ein über die gesamte Kultur
der Menschheit sich ausbreitendes System her¬
vorzutreiben, nicht getroffen wird von dem
Vorwurf der Eingeschränktheit, der von meta¬
physischer Seite gegen sie erhoben zu werden
pflegt. Ja, sie gewinnt nun ihrerseits, auf
Grund ihres wissenschaftlichen Ausgangs¬
punktes und Fortschrittes, der Metaphysik
gegenüber einen Vorsprung, nämlich die Über¬
legenheit, die ein aus logischen Grundlagen
errichtetes Gebäude, nach seinem Wahrheits¬
wert betrachtet, im Verhältnis zu einer ge¬
fühlsmäßig oder durch Ausgestaltung eines
geistvollen Einfalls begründeten Weltan¬
schauung besitzt. — Indessen gereicht diese
theoretisch so wertvolle Eigenschaft nicht zum
Vorteil, wenn es sich darum handelt, der
Philosophie Eingang in die Herzen der
Menschen zu verschaffen. Denn eben die
Exaktheit in der logischen Grundlegung, die
von ganz eigentümlicher Natur ist, bedingt
Schwierigkeiten und Umständlichkeiten, die
man zwar bei dem Studium mancher anderer
Wissenschaften, nicht aber bei demjenigen der
Philosophie mit in den Kauf zu nehmen be¬
reit ist. Daraus ist es zum Teil zu erklären,
daß in jener noch nicht lange überwundenen
Epoche, da man die Philosophie als überlebt
ansah, statt philosophischer Wissenschaft selbst
die groben Vorstellungen des Materialismus
starken Anklang fanden — in Wahrheit selbst
eine Art der Metaphysik, obwohl sie als natur¬
wissenschaftliche Lehre ausgegeben wurde. —
Vor allem jedoch ist es sehr verstündlich,
wenn eine unvergleichlich feinere und tiefere,
dein Materialismus entgegengesetzte und der
wissenschaftlichen Philosophie in mancher Hin¬
sicht sympathische Bestrebungen verfolgende
Metaphysik, wie die Philosophie Bergsons, in
unseren Tagen bei hochkultivierten Menschen
begeisterten Widerhall hervorruft; bestrickt sie
doch gerade durch nichtwissenschaftliche, künst¬
lerische Mittel: durch den Reiz ihrer Poetischen
Gleichnisse und Bilder — vermittelst deren
allein sie die Aufgabe der Philosophie lösen

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[0485] Maßgebliches und Unmaßgebliches liebes Ziel und einen unbedingten Sinn des menschlichen Daseins und Trachtens zu finden — ein Bedürfnis, das wie ein unbersiegbarer Quell, nur zuweilen unsichtbar oder gehemmt, immer von neuen? aus den Tiefen der mensch¬ lichen Seele mit Macht hervorbricht. Von ganz anderer, in Vergleichung mit jenem gefühlskräftigen Triebe recht nüchterner Natur, zudem weniger allgemein und bekannt, ist hingegen ein zweiter wichtiger Ausgangspunkt des Philosophischen Strebens unserer Tage: das zunächst rein verstandesmäszige Verlangen nach Klarheit und Tiefe der Erkenntnis, das in seiner reinsten Form sich darstellt als das Interesse — des wissenschaftlichen Forschers sowohl als des „kritischen" Philosophen —, die logischen Grundlagen der Wissenschaften, der empirischen wie der rationalen, aufzu¬ decken und zu begreifen. Gemeinsam ist diesen beiden Antrieben der philosophischen Bewegung, daß sie auf unbedingte, letzte, dem Schicksale der vergäng¬ lichen Dinge entrückte Ziele gerichtet sind — denn auch die Grundlagen der Wissenschaften werden, wie Kants Erkenntnistheorie zum ersten Male systematisch zu beweisen unter¬ nahm, als unwandelbar und vom Wechsel der einzelnen Erfahrungen unabhängig ge¬ fordert, nämlich zunächst als unerschütterliche theoretische Grundsätze, welche selbst die not¬ wendigen, unerläßlichen Bedingungen aller Erfahrung darstellen. Dabei' bleibt nun aber die von der Wissenschaft ausgehende Philosophie nicht stehen. Indem sie die Vor¬ aussetzungen der Wissenschaften in ihrer ganzen Weite und mit allen Mitteln verfolgt, unterwirft sie die Prinzipien aller der wissen¬ schaftlichen Behandlung fähigen Gegenstände ^ der Natur wie der Kultur — ihrer Be¬ trachtung; wiederum nach dem Vorbilde Kants, untersucht sie nun nicht nur die Natur¬ wissenschaften und die Mathematik, sondern auch das sittliche Leben des einzelnen und der Gemeinschaft (Recht und Staat), die Kunst, die Religion, zuletzt sich selbst, das Philosophische Bewußtsein, auf ihre tiefsten Bedingungen. Und so erblickt man denn auch von der an der Wissenschaft orientierten Philosophie aus Richtpunkte, die, wie die¬ jenigen der Metaphysik, ganz außerhalb des Kreises der theoretischen Vernunft liegen; wissenschaftliche und metaphysische Philosophie scheinen dadurch noch mehr in verwandtschaft¬ liche Nähe zueinander zu rücken. Gewiß ist hiernach jedenfalls dies, daß die auf Erkenntnistheorie gegründete wissen¬ schaftliche oder kritische Philosophie, indem sie daran arbeitet, ein über die gesamte Kultur der Menschheit sich ausbreitendes System her¬ vorzutreiben, nicht getroffen wird von dem Vorwurf der Eingeschränktheit, der von meta¬ physischer Seite gegen sie erhoben zu werden pflegt. Ja, sie gewinnt nun ihrerseits, auf Grund ihres wissenschaftlichen Ausgangs¬ punktes und Fortschrittes, der Metaphysik gegenüber einen Vorsprung, nämlich die Über¬ legenheit, die ein aus logischen Grundlagen errichtetes Gebäude, nach seinem Wahrheits¬ wert betrachtet, im Verhältnis zu einer ge¬ fühlsmäßig oder durch Ausgestaltung eines geistvollen Einfalls begründeten Weltan¬ schauung besitzt. — Indessen gereicht diese theoretisch so wertvolle Eigenschaft nicht zum Vorteil, wenn es sich darum handelt, der Philosophie Eingang in die Herzen der Menschen zu verschaffen. Denn eben die Exaktheit in der logischen Grundlegung, die von ganz eigentümlicher Natur ist, bedingt Schwierigkeiten und Umständlichkeiten, die man zwar bei dem Studium mancher anderer Wissenschaften, nicht aber bei demjenigen der Philosophie mit in den Kauf zu nehmen be¬ reit ist. Daraus ist es zum Teil zu erklären, daß in jener noch nicht lange überwundenen Epoche, da man die Philosophie als überlebt ansah, statt philosophischer Wissenschaft selbst die groben Vorstellungen des Materialismus starken Anklang fanden — in Wahrheit selbst eine Art der Metaphysik, obwohl sie als natur¬ wissenschaftliche Lehre ausgegeben wurde. — Vor allem jedoch ist es sehr verstündlich, wenn eine unvergleichlich feinere und tiefere, dein Materialismus entgegengesetzte und der wissenschaftlichen Philosophie in mancher Hin¬ sicht sympathische Bestrebungen verfolgende Metaphysik, wie die Philosophie Bergsons, in unseren Tagen bei hochkultivierten Menschen begeisterten Widerhall hervorruft; bestrickt sie doch gerade durch nichtwissenschaftliche, künst¬ lerische Mittel: durch den Reiz ihrer Poetischen Gleichnisse und Bilder — vermittelst deren allein sie die Aufgabe der Philosophie lösen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/485>, abgerufen am 24.08.2024.