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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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zu schätzen und man bemerkt mit Staunen, daß die reglementierenden Re¬
gierungen selbst da, wo sie mit ungeheurer Schärfe eingegriffen haben, noch
lange nicht solche Gefahren gegen die persönlichen Freiheiten in sich tragen,
als wie die vollständig freie Demokratie. Der Russe von heute beginnt die
Wohltaten eines geordneten Staatswesens zu empfinden, und darum beginnt
er auch schon zwischen Deutschen und Franzosen kritisch zu vergleichen. Wer
die russische Presse ein wenig aufmerksam zu verfolgen Gelegenheit hat, wird
selbst in Blättern, wie in der Nowoje Wremja, im Feuilleton Besprechungen
über deutsche Einrichtungen finden, die von einer gewissen Achtung zunächst für
die staatliche Ordnung sprechen und von denen aus der Weg zur gerechten Be¬
urteilung auch der Menschen, die den Staat beleben, nämlich der Deutschen,
gefunden werden kann. Nun fällt mir ein Dokument in die Hände, auf das
hinzuweisen ich gerade unter den hier behandelten Gesichtspunkten nicht unter¬
lassen möchte, weil es mir ein Zeichen dafür ist, daß die Beurteilung der Fran¬
zosen auch durch ihre nächsten Freunde, die Russen, sich der unseligen zu nähern
beginnt. Es ist dies der russische Reiseführer durch Europa von P. P. Kusminski
(Se. Petersburg 1912, bei A. S. Ssuworin). Herr Kusminski ist übrigens Voll-
blutrusse, Friedensrichter a. D., Berliner Korrespondent des Odesski Listok, der
schon im November 1908 ein großes, durch mehrere Nummern laufendes
Feuilleton "Skizzen aus dem heutigen Deutschland" mit dem Wunsch beendete:
"Es würde uns (Russen), meine Herrschaften, nichts schaden, viel, sehr viel bei
den Deutschen zu lernen." Daß es Herrn P. P. Kusminski mit dieser
Wendung Ernst war, das geht hervor aus seinem "Russischen Reise¬
führer durch Europa". Wir finden auf Seite 275 folgende Ausführungen:
"Indem wir nun die Beschreibung Frankreichs beendigen, sei es ge¬
stattet, mit wenigen Worten auch die Eindrücke zu kennzeichnen, die wir
selbst von der letzten Reise in Frankreich heimgetragen haben. Nach dem wir
Frankreich lange Zeit nicht gesehen hatten, muß konstatiert werden, daß das
Land in allen Beziehungen zurückgeblieben ist ("re^resZirovalÄ"), daher erweist
sich auch eine Reise in Frankreich, besonders wenn man vorher in Deutschland
gewesen ist, als wenig anziehend: dieselben alten schmutzigen Eisenbahnwagen
mit Ausschluß der Expreßzüge, dieselben schmutzigen und schlechten Eisenbahn¬
büffets wie früher, dieselben mittelalterlichen Zollschranken, auf jeden Schritt
dieselben kleinlichen Nörgeleien der Zoll-, Eisenbahn- und Postbeamten; die¬
selben Unbequemlichkeiten infolge schlechter Verwaltung, dieselbe Vogelfreiheit
der Reisenden, mit einem Wort: was Annehmlichkeiten anbetrifft, überhaupt
nicht zu vergleichen mit Deutschland, daß außerordentlich vorangekommen ist.
Das einzige, was in Frankreich in den letzten Jahren Fortschritte
gemacht hat, ist die Teuerung und das "Apachentum". Und an anderer
Stelle, Seite 112, wo von Deutschland gesprochen wird, heißt es: "Deutsch¬
land ist ebenso wie Österreich reich an schönen Gegenden (Oberbayern, Elbe,
Rhein, Neckar), doch nimmt es sowohl nach der Zahl der Kurorte wie deren


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zu schätzen und man bemerkt mit Staunen, daß die reglementierenden Re¬
gierungen selbst da, wo sie mit ungeheurer Schärfe eingegriffen haben, noch
lange nicht solche Gefahren gegen die persönlichen Freiheiten in sich tragen,
als wie die vollständig freie Demokratie. Der Russe von heute beginnt die
Wohltaten eines geordneten Staatswesens zu empfinden, und darum beginnt
er auch schon zwischen Deutschen und Franzosen kritisch zu vergleichen. Wer
die russische Presse ein wenig aufmerksam zu verfolgen Gelegenheit hat, wird
selbst in Blättern, wie in der Nowoje Wremja, im Feuilleton Besprechungen
über deutsche Einrichtungen finden, die von einer gewissen Achtung zunächst für
die staatliche Ordnung sprechen und von denen aus der Weg zur gerechten Be¬
urteilung auch der Menschen, die den Staat beleben, nämlich der Deutschen,
gefunden werden kann. Nun fällt mir ein Dokument in die Hände, auf das
hinzuweisen ich gerade unter den hier behandelten Gesichtspunkten nicht unter¬
lassen möchte, weil es mir ein Zeichen dafür ist, daß die Beurteilung der Fran¬
zosen auch durch ihre nächsten Freunde, die Russen, sich der unseligen zu nähern
beginnt. Es ist dies der russische Reiseführer durch Europa von P. P. Kusminski
(Se. Petersburg 1912, bei A. S. Ssuworin). Herr Kusminski ist übrigens Voll-
blutrusse, Friedensrichter a. D., Berliner Korrespondent des Odesski Listok, der
schon im November 1908 ein großes, durch mehrere Nummern laufendes
Feuilleton „Skizzen aus dem heutigen Deutschland" mit dem Wunsch beendete:
„Es würde uns (Russen), meine Herrschaften, nichts schaden, viel, sehr viel bei
den Deutschen zu lernen." Daß es Herrn P. P. Kusminski mit dieser
Wendung Ernst war, das geht hervor aus seinem „Russischen Reise¬
führer durch Europa". Wir finden auf Seite 275 folgende Ausführungen:
„Indem wir nun die Beschreibung Frankreichs beendigen, sei es ge¬
stattet, mit wenigen Worten auch die Eindrücke zu kennzeichnen, die wir
selbst von der letzten Reise in Frankreich heimgetragen haben. Nach dem wir
Frankreich lange Zeit nicht gesehen hatten, muß konstatiert werden, daß das
Land in allen Beziehungen zurückgeblieben ist („re^resZirovalÄ"), daher erweist
sich auch eine Reise in Frankreich, besonders wenn man vorher in Deutschland
gewesen ist, als wenig anziehend: dieselben alten schmutzigen Eisenbahnwagen
mit Ausschluß der Expreßzüge, dieselben schmutzigen und schlechten Eisenbahn¬
büffets wie früher, dieselben mittelalterlichen Zollschranken, auf jeden Schritt
dieselben kleinlichen Nörgeleien der Zoll-, Eisenbahn- und Postbeamten; die¬
selben Unbequemlichkeiten infolge schlechter Verwaltung, dieselbe Vogelfreiheit
der Reisenden, mit einem Wort: was Annehmlichkeiten anbetrifft, überhaupt
nicht zu vergleichen mit Deutschland, daß außerordentlich vorangekommen ist.
Das einzige, was in Frankreich in den letzten Jahren Fortschritte
gemacht hat, ist die Teuerung und das „Apachentum". Und an anderer
Stelle, Seite 112, wo von Deutschland gesprochen wird, heißt es: „Deutsch¬
land ist ebenso wie Österreich reich an schönen Gegenden (Oberbayern, Elbe,
Rhein, Neckar), doch nimmt es sowohl nach der Zahl der Kurorte wie deren


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[0439] Rcichsspiegel zu schätzen und man bemerkt mit Staunen, daß die reglementierenden Re¬ gierungen selbst da, wo sie mit ungeheurer Schärfe eingegriffen haben, noch lange nicht solche Gefahren gegen die persönlichen Freiheiten in sich tragen, als wie die vollständig freie Demokratie. Der Russe von heute beginnt die Wohltaten eines geordneten Staatswesens zu empfinden, und darum beginnt er auch schon zwischen Deutschen und Franzosen kritisch zu vergleichen. Wer die russische Presse ein wenig aufmerksam zu verfolgen Gelegenheit hat, wird selbst in Blättern, wie in der Nowoje Wremja, im Feuilleton Besprechungen über deutsche Einrichtungen finden, die von einer gewissen Achtung zunächst für die staatliche Ordnung sprechen und von denen aus der Weg zur gerechten Be¬ urteilung auch der Menschen, die den Staat beleben, nämlich der Deutschen, gefunden werden kann. Nun fällt mir ein Dokument in die Hände, auf das hinzuweisen ich gerade unter den hier behandelten Gesichtspunkten nicht unter¬ lassen möchte, weil es mir ein Zeichen dafür ist, daß die Beurteilung der Fran¬ zosen auch durch ihre nächsten Freunde, die Russen, sich der unseligen zu nähern beginnt. Es ist dies der russische Reiseführer durch Europa von P. P. Kusminski (Se. Petersburg 1912, bei A. S. Ssuworin). Herr Kusminski ist übrigens Voll- blutrusse, Friedensrichter a. D., Berliner Korrespondent des Odesski Listok, der schon im November 1908 ein großes, durch mehrere Nummern laufendes Feuilleton „Skizzen aus dem heutigen Deutschland" mit dem Wunsch beendete: „Es würde uns (Russen), meine Herrschaften, nichts schaden, viel, sehr viel bei den Deutschen zu lernen." Daß es Herrn P. P. Kusminski mit dieser Wendung Ernst war, das geht hervor aus seinem „Russischen Reise¬ führer durch Europa". Wir finden auf Seite 275 folgende Ausführungen: „Indem wir nun die Beschreibung Frankreichs beendigen, sei es ge¬ stattet, mit wenigen Worten auch die Eindrücke zu kennzeichnen, die wir selbst von der letzten Reise in Frankreich heimgetragen haben. Nach dem wir Frankreich lange Zeit nicht gesehen hatten, muß konstatiert werden, daß das Land in allen Beziehungen zurückgeblieben ist („re^resZirovalÄ"), daher erweist sich auch eine Reise in Frankreich, besonders wenn man vorher in Deutschland gewesen ist, als wenig anziehend: dieselben alten schmutzigen Eisenbahnwagen mit Ausschluß der Expreßzüge, dieselben schmutzigen und schlechten Eisenbahn¬ büffets wie früher, dieselben mittelalterlichen Zollschranken, auf jeden Schritt dieselben kleinlichen Nörgeleien der Zoll-, Eisenbahn- und Postbeamten; die¬ selben Unbequemlichkeiten infolge schlechter Verwaltung, dieselbe Vogelfreiheit der Reisenden, mit einem Wort: was Annehmlichkeiten anbetrifft, überhaupt nicht zu vergleichen mit Deutschland, daß außerordentlich vorangekommen ist. Das einzige, was in Frankreich in den letzten Jahren Fortschritte gemacht hat, ist die Teuerung und das „Apachentum". Und an anderer Stelle, Seite 112, wo von Deutschland gesprochen wird, heißt es: „Deutsch¬ land ist ebenso wie Österreich reich an schönen Gegenden (Oberbayern, Elbe, Rhein, Neckar), doch nimmt es sowohl nach der Zahl der Kurorte wie deren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/439>, abgerufen am 24.08.2024.