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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Eigenart der Geschlechter

Feststellung, die Stern selbstverständlich nicht als Werturteil aufgefast haben
will; solche Differenzen könne man z. B. aus dem ganz verschiedenen Interesse
der Geschlechter für bestimmte Unterrichtsfächer (Knaben: Geschichte, Mädchen:
Religion) ableiten, ferner aus der stärkeren Vorliebe der Mädchen für bestimmte
Lehrpersönlichkeiten, vor allem aber auf dem moralischen Gebiet aus dem mehr
weiblichen sympathischen Mitfühlen mit den Mitmenschen und aus dem mehr
männlichen abstrakt sozialen Fühlen mit der Allgenieinheit. Als Gesamtergebnis
stellt Stern fest, daß die Differenzen der Geschlechter keinen Gradunterschied im
Werte bedeuten, daß aber die Unterschiede in der Einstellungsweise und in dem
Entwicklungstempo bei beiden Geschlechtern so wesentlich seien, daß die Form
der Darbietung der Gegenstände für Knaben und für Mädchen verschieden
sein müsse.

In dem sich anschließenden Vortrage über die Verschiedenheit der Geschlechter
nach Erfahrungen beim gemeinsamen Unterricht stellte Professor Cohn°Frei¬
burg i. B. auf Grund eigener Untersuchungen die Erfahrungen zusammen, die
man mit der Zulassung von Mädchen an den höheren Knabenschulen in Baden
gemacht hat. Hinsichtlich der Verschiedenheit der Interessen ließen sich im all¬
gemeinen keine wesentlichen Resultate feststellen, hervorheben könnte man vielleicht
nur das besondere Interesse der Mädchen für Biologie und ihre Überlegenheit
in der sprachlichen Gewandtheit. Im ganzen zeigen die Knaben ein stärkeres
Gefühl für das Logische und Konstruktiv-Abstrakte, die Mädchen eine stärkere
Anteilnahme am Anschaulichem und an allem, was dem Leben zugewandt ist.

Die Frage der erotischen Beziehungen ist nach Cohn mit Ruhe zu be¬
urteilen, im Gegenteil würde hier die gemeinsame Erziehung vielleicht die
Spannung sogar vermindern. Seine Eindrücke über den badischen Versuch,
den er lediglich als eine Art psychologisches Experiment verwertet wissen will,
faßte Cohn dahin zusammen, daß im allgemeinen der getrennte Unterricht vor¬
zuziehen sei, vor allem wegen der Verschiedenheit der Interessen und wegen der
größeren Ermüdbarkeit der Mädchen in der Pubertätszeit, daß aber anderseits
die Bedenken gegen die Koedukation nicht so groß seien, daß man sie dort ver-
bieten solle, wo sie aus sozialen Gründen notwendig sei.

Aus sachliche" Gründen müssen wir die beiden Vorträge des letzten Tages
bereits an dieser Stelle einfügen, da sich beide mit den psychologischen Voraus¬
setzungen der Gemeinschaftserziehung beschäftigten.

Frau Dr. Lucy Hochab-Ernst hatte ihren Untersuchungen an amerikanischen
Volksschulkindern die Jdealfrage zugrunde gelegt, weil diese nach ihrer Meinung
am geeignetsten sei die durchschnittlich emotionelle Richtung der Kinder fest¬
zustellen. Von den Resultaten sei an dieser Stelle vor allem das starke Hervor-
treten des elterlichen Ideals erwähnt (64 Prozent bei den Knaben. 55.9 Pro¬
zent bei den Mädchen) und besonders die außerordentlich große Betonung des
Mutterideals (33.3 Prozent bei den Knaben, 34 Prozent bei den Mädchen,
gegen 5.8 Prozent bzw. 4.3 Prozent Vaterideal). Bei den übrigen Idealen


Die Eigenart der Geschlechter

Feststellung, die Stern selbstverständlich nicht als Werturteil aufgefast haben
will; solche Differenzen könne man z. B. aus dem ganz verschiedenen Interesse
der Geschlechter für bestimmte Unterrichtsfächer (Knaben: Geschichte, Mädchen:
Religion) ableiten, ferner aus der stärkeren Vorliebe der Mädchen für bestimmte
Lehrpersönlichkeiten, vor allem aber auf dem moralischen Gebiet aus dem mehr
weiblichen sympathischen Mitfühlen mit den Mitmenschen und aus dem mehr
männlichen abstrakt sozialen Fühlen mit der Allgenieinheit. Als Gesamtergebnis
stellt Stern fest, daß die Differenzen der Geschlechter keinen Gradunterschied im
Werte bedeuten, daß aber die Unterschiede in der Einstellungsweise und in dem
Entwicklungstempo bei beiden Geschlechtern so wesentlich seien, daß die Form
der Darbietung der Gegenstände für Knaben und für Mädchen verschieden
sein müsse.

In dem sich anschließenden Vortrage über die Verschiedenheit der Geschlechter
nach Erfahrungen beim gemeinsamen Unterricht stellte Professor Cohn°Frei¬
burg i. B. auf Grund eigener Untersuchungen die Erfahrungen zusammen, die
man mit der Zulassung von Mädchen an den höheren Knabenschulen in Baden
gemacht hat. Hinsichtlich der Verschiedenheit der Interessen ließen sich im all¬
gemeinen keine wesentlichen Resultate feststellen, hervorheben könnte man vielleicht
nur das besondere Interesse der Mädchen für Biologie und ihre Überlegenheit
in der sprachlichen Gewandtheit. Im ganzen zeigen die Knaben ein stärkeres
Gefühl für das Logische und Konstruktiv-Abstrakte, die Mädchen eine stärkere
Anteilnahme am Anschaulichem und an allem, was dem Leben zugewandt ist.

Die Frage der erotischen Beziehungen ist nach Cohn mit Ruhe zu be¬
urteilen, im Gegenteil würde hier die gemeinsame Erziehung vielleicht die
Spannung sogar vermindern. Seine Eindrücke über den badischen Versuch,
den er lediglich als eine Art psychologisches Experiment verwertet wissen will,
faßte Cohn dahin zusammen, daß im allgemeinen der getrennte Unterricht vor¬
zuziehen sei, vor allem wegen der Verschiedenheit der Interessen und wegen der
größeren Ermüdbarkeit der Mädchen in der Pubertätszeit, daß aber anderseits
die Bedenken gegen die Koedukation nicht so groß seien, daß man sie dort ver-
bieten solle, wo sie aus sozialen Gründen notwendig sei.

Aus sachliche» Gründen müssen wir die beiden Vorträge des letzten Tages
bereits an dieser Stelle einfügen, da sich beide mit den psychologischen Voraus¬
setzungen der Gemeinschaftserziehung beschäftigten.

Frau Dr. Lucy Hochab-Ernst hatte ihren Untersuchungen an amerikanischen
Volksschulkindern die Jdealfrage zugrunde gelegt, weil diese nach ihrer Meinung
am geeignetsten sei die durchschnittlich emotionelle Richtung der Kinder fest¬
zustellen. Von den Resultaten sei an dieser Stelle vor allem das starke Hervor-
treten des elterlichen Ideals erwähnt (64 Prozent bei den Knaben. 55.9 Pro¬
zent bei den Mädchen) und besonders die außerordentlich große Betonung des
Mutterideals (33.3 Prozent bei den Knaben, 34 Prozent bei den Mädchen,
gegen 5.8 Prozent bzw. 4.3 Prozent Vaterideal). Bei den übrigen Idealen


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[0379] Die Eigenart der Geschlechter Feststellung, die Stern selbstverständlich nicht als Werturteil aufgefast haben will; solche Differenzen könne man z. B. aus dem ganz verschiedenen Interesse der Geschlechter für bestimmte Unterrichtsfächer (Knaben: Geschichte, Mädchen: Religion) ableiten, ferner aus der stärkeren Vorliebe der Mädchen für bestimmte Lehrpersönlichkeiten, vor allem aber auf dem moralischen Gebiet aus dem mehr weiblichen sympathischen Mitfühlen mit den Mitmenschen und aus dem mehr männlichen abstrakt sozialen Fühlen mit der Allgenieinheit. Als Gesamtergebnis stellt Stern fest, daß die Differenzen der Geschlechter keinen Gradunterschied im Werte bedeuten, daß aber die Unterschiede in der Einstellungsweise und in dem Entwicklungstempo bei beiden Geschlechtern so wesentlich seien, daß die Form der Darbietung der Gegenstände für Knaben und für Mädchen verschieden sein müsse. In dem sich anschließenden Vortrage über die Verschiedenheit der Geschlechter nach Erfahrungen beim gemeinsamen Unterricht stellte Professor Cohn°Frei¬ burg i. B. auf Grund eigener Untersuchungen die Erfahrungen zusammen, die man mit der Zulassung von Mädchen an den höheren Knabenschulen in Baden gemacht hat. Hinsichtlich der Verschiedenheit der Interessen ließen sich im all¬ gemeinen keine wesentlichen Resultate feststellen, hervorheben könnte man vielleicht nur das besondere Interesse der Mädchen für Biologie und ihre Überlegenheit in der sprachlichen Gewandtheit. Im ganzen zeigen die Knaben ein stärkeres Gefühl für das Logische und Konstruktiv-Abstrakte, die Mädchen eine stärkere Anteilnahme am Anschaulichem und an allem, was dem Leben zugewandt ist. Die Frage der erotischen Beziehungen ist nach Cohn mit Ruhe zu be¬ urteilen, im Gegenteil würde hier die gemeinsame Erziehung vielleicht die Spannung sogar vermindern. Seine Eindrücke über den badischen Versuch, den er lediglich als eine Art psychologisches Experiment verwertet wissen will, faßte Cohn dahin zusammen, daß im allgemeinen der getrennte Unterricht vor¬ zuziehen sei, vor allem wegen der Verschiedenheit der Interessen und wegen der größeren Ermüdbarkeit der Mädchen in der Pubertätszeit, daß aber anderseits die Bedenken gegen die Koedukation nicht so groß seien, daß man sie dort ver- bieten solle, wo sie aus sozialen Gründen notwendig sei. Aus sachliche» Gründen müssen wir die beiden Vorträge des letzten Tages bereits an dieser Stelle einfügen, da sich beide mit den psychologischen Voraus¬ setzungen der Gemeinschaftserziehung beschäftigten. Frau Dr. Lucy Hochab-Ernst hatte ihren Untersuchungen an amerikanischen Volksschulkindern die Jdealfrage zugrunde gelegt, weil diese nach ihrer Meinung am geeignetsten sei die durchschnittlich emotionelle Richtung der Kinder fest¬ zustellen. Von den Resultaten sei an dieser Stelle vor allem das starke Hervor- treten des elterlichen Ideals erwähnt (64 Prozent bei den Knaben. 55.9 Pro¬ zent bei den Mädchen) und besonders die außerordentlich große Betonung des Mutterideals (33.3 Prozent bei den Knaben, 34 Prozent bei den Mädchen, gegen 5.8 Prozent bzw. 4.3 Prozent Vaterideal). Bei den übrigen Idealen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/379>, abgerufen am 24.08.2024.