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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Einzelpersönlichkeit, wird man von dieser einheitlichen großen Masse einzelne sich
losreißen sehen, die sich ihrer Persönlichkeit bewußt werden und sie durch das
Wissen und die Gelehrsamkeit auszubauen sich bestrebten. Von einer geistigen
Quelle, der Antike gespeist, von einem Wunsche beseelt, die geistige Entwicklung
die sie durchgemacht hatten, der dumpfen, einheitlichen, schlafenden Masse ihrer
Volksgenossen mitzuteilen -- war es nur eine natürliche Folge der Entwicklung,
daß diese einzelnen geistigen Führer, die Humanisten, sich in ihren gemeinsamen
Bestrebungen zusammenschlossen. So arbeiteten sie gemeinsam an dem Werk
der Aufklärung, ohne die trennenden Unterschiede von Rasse und Religion zu
beachten. Als ihr Werk vollendet und die Masse der einzelnen Völker zum
geistigen und politischen Denken erwacht war, entstand, gleichzeitig mit dieser
intellektuellen Selbständigkeit, auch das Bewußtsein des Unterschieds von anderen,
das Bewußtsein der eigenen Eigenschaften, des eigenen Wertes -- mit einem
Wort das Selbstbewußtsein, die Individualität. Hatte das Mittelalter das
Genossenschaftliche, Typische. Konventionelle -- um mit Lamprecht zu reden --
octout. hatte die Aufklärung die geistige Gemeinschaft gefördert, so legte der
Individualismus den Hauptnachdruck auf die Ausbildung der Persönlichkeit,
ihre Abgrenzung, ihre Trennung. Diese überstarke Betonung, ja Verherrlichung
der Persönlichkeit fand ihren philosophischen Ausdruck in Nietzsche, ihren wirt¬
schaftlichen Ausdruck in der Lehre Cobdens: das Beste für den Fortschritt der
Menschheit sei die Ausbildung einzelner starker Persönlichkeiten, die sich im
Kampf herausbildeten, und denen als Siegespreis die Herrschaft über die Masse
der Besiegten -- denen keine weitere Beachtung zu schenken war -- zufalle.
Und auf das Rassenpolitische übertragen hatte der Individualismus die Bildung
von Nationalstaaten zur Folge.

Soweit war die Entwicklung gekommen, bevor der Imperialismus in die
Erscheinung trat. Seine innere Notwendigkeit ergab sich aus der Lüge, die
durch die individualistische Entwicklung geschaffen war: in politischer Beziehung
mar eine Reihe von national geeinten Staaten entstanden oder in der Ent¬
stehung begriffen; von kräftigem Selbstbewußtsein erfüllt und beseelt von dem
Wunsche nach einer Erweiterung ihres nationalen und kulturellen Wirkungs¬
kreises. Auch wirtschaftlich waren sie geeint und von starken Ausdehnungs-
tcndenzen geleitet. Aber diese wirtschaftliche Stärke war in sozialpolitischer Be¬
ziehung durch große Opfer erkauft worden. Der rücksichtslose Konkurrenzkampf,
die Enthaltung von staatlichen Eingriffen in diesem Kampf, die den Anschauungen
jener Zeit entsprach, hatte die schutzlosen und wirtschaftlich schwächeren Be^
völkerungskreise in schwere Bedrängnis gebracht. Diese Mißstände stellten schlie߬
lich den Staat vor die Frage, entweder schützend einzugreifen, oder die Mit¬
arbeit dieser wirtschaftlich Schwachen -- dadurch, daß sie ganz leistungsunfähig
wurden -- zu verlieren.

Die weitere Entwicklung der sozialpolitischen Anschauungen führte eine
Entschndung in ersterem Sinne herbei; der Staat griff in den Kampf ein.


Einzelpersönlichkeit, wird man von dieser einheitlichen großen Masse einzelne sich
losreißen sehen, die sich ihrer Persönlichkeit bewußt werden und sie durch das
Wissen und die Gelehrsamkeit auszubauen sich bestrebten. Von einer geistigen
Quelle, der Antike gespeist, von einem Wunsche beseelt, die geistige Entwicklung
die sie durchgemacht hatten, der dumpfen, einheitlichen, schlafenden Masse ihrer
Volksgenossen mitzuteilen — war es nur eine natürliche Folge der Entwicklung,
daß diese einzelnen geistigen Führer, die Humanisten, sich in ihren gemeinsamen
Bestrebungen zusammenschlossen. So arbeiteten sie gemeinsam an dem Werk
der Aufklärung, ohne die trennenden Unterschiede von Rasse und Religion zu
beachten. Als ihr Werk vollendet und die Masse der einzelnen Völker zum
geistigen und politischen Denken erwacht war, entstand, gleichzeitig mit dieser
intellektuellen Selbständigkeit, auch das Bewußtsein des Unterschieds von anderen,
das Bewußtsein der eigenen Eigenschaften, des eigenen Wertes — mit einem
Wort das Selbstbewußtsein, die Individualität. Hatte das Mittelalter das
Genossenschaftliche, Typische. Konventionelle — um mit Lamprecht zu reden —
octout. hatte die Aufklärung die geistige Gemeinschaft gefördert, so legte der
Individualismus den Hauptnachdruck auf die Ausbildung der Persönlichkeit,
ihre Abgrenzung, ihre Trennung. Diese überstarke Betonung, ja Verherrlichung
der Persönlichkeit fand ihren philosophischen Ausdruck in Nietzsche, ihren wirt¬
schaftlichen Ausdruck in der Lehre Cobdens: das Beste für den Fortschritt der
Menschheit sei die Ausbildung einzelner starker Persönlichkeiten, die sich im
Kampf herausbildeten, und denen als Siegespreis die Herrschaft über die Masse
der Besiegten — denen keine weitere Beachtung zu schenken war — zufalle.
Und auf das Rassenpolitische übertragen hatte der Individualismus die Bildung
von Nationalstaaten zur Folge.

Soweit war die Entwicklung gekommen, bevor der Imperialismus in die
Erscheinung trat. Seine innere Notwendigkeit ergab sich aus der Lüge, die
durch die individualistische Entwicklung geschaffen war: in politischer Beziehung
mar eine Reihe von national geeinten Staaten entstanden oder in der Ent¬
stehung begriffen; von kräftigem Selbstbewußtsein erfüllt und beseelt von dem
Wunsche nach einer Erweiterung ihres nationalen und kulturellen Wirkungs¬
kreises. Auch wirtschaftlich waren sie geeint und von starken Ausdehnungs-
tcndenzen geleitet. Aber diese wirtschaftliche Stärke war in sozialpolitischer Be¬
ziehung durch große Opfer erkauft worden. Der rücksichtslose Konkurrenzkampf,
die Enthaltung von staatlichen Eingriffen in diesem Kampf, die den Anschauungen
jener Zeit entsprach, hatte die schutzlosen und wirtschaftlich schwächeren Be^
völkerungskreise in schwere Bedrängnis gebracht. Diese Mißstände stellten schlie߬
lich den Staat vor die Frage, entweder schützend einzugreifen, oder die Mit¬
arbeit dieser wirtschaftlich Schwachen — dadurch, daß sie ganz leistungsunfähig
wurden — zu verlieren.

Die weitere Entwicklung der sozialpolitischen Anschauungen führte eine
Entschndung in ersterem Sinne herbei; der Staat griff in den Kampf ein.


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[0356] Einzelpersönlichkeit, wird man von dieser einheitlichen großen Masse einzelne sich losreißen sehen, die sich ihrer Persönlichkeit bewußt werden und sie durch das Wissen und die Gelehrsamkeit auszubauen sich bestrebten. Von einer geistigen Quelle, der Antike gespeist, von einem Wunsche beseelt, die geistige Entwicklung die sie durchgemacht hatten, der dumpfen, einheitlichen, schlafenden Masse ihrer Volksgenossen mitzuteilen — war es nur eine natürliche Folge der Entwicklung, daß diese einzelnen geistigen Führer, die Humanisten, sich in ihren gemeinsamen Bestrebungen zusammenschlossen. So arbeiteten sie gemeinsam an dem Werk der Aufklärung, ohne die trennenden Unterschiede von Rasse und Religion zu beachten. Als ihr Werk vollendet und die Masse der einzelnen Völker zum geistigen und politischen Denken erwacht war, entstand, gleichzeitig mit dieser intellektuellen Selbständigkeit, auch das Bewußtsein des Unterschieds von anderen, das Bewußtsein der eigenen Eigenschaften, des eigenen Wertes — mit einem Wort das Selbstbewußtsein, die Individualität. Hatte das Mittelalter das Genossenschaftliche, Typische. Konventionelle — um mit Lamprecht zu reden — octout. hatte die Aufklärung die geistige Gemeinschaft gefördert, so legte der Individualismus den Hauptnachdruck auf die Ausbildung der Persönlichkeit, ihre Abgrenzung, ihre Trennung. Diese überstarke Betonung, ja Verherrlichung der Persönlichkeit fand ihren philosophischen Ausdruck in Nietzsche, ihren wirt¬ schaftlichen Ausdruck in der Lehre Cobdens: das Beste für den Fortschritt der Menschheit sei die Ausbildung einzelner starker Persönlichkeiten, die sich im Kampf herausbildeten, und denen als Siegespreis die Herrschaft über die Masse der Besiegten — denen keine weitere Beachtung zu schenken war — zufalle. Und auf das Rassenpolitische übertragen hatte der Individualismus die Bildung von Nationalstaaten zur Folge. Soweit war die Entwicklung gekommen, bevor der Imperialismus in die Erscheinung trat. Seine innere Notwendigkeit ergab sich aus der Lüge, die durch die individualistische Entwicklung geschaffen war: in politischer Beziehung mar eine Reihe von national geeinten Staaten entstanden oder in der Ent¬ stehung begriffen; von kräftigem Selbstbewußtsein erfüllt und beseelt von dem Wunsche nach einer Erweiterung ihres nationalen und kulturellen Wirkungs¬ kreises. Auch wirtschaftlich waren sie geeint und von starken Ausdehnungs- tcndenzen geleitet. Aber diese wirtschaftliche Stärke war in sozialpolitischer Be¬ ziehung durch große Opfer erkauft worden. Der rücksichtslose Konkurrenzkampf, die Enthaltung von staatlichen Eingriffen in diesem Kampf, die den Anschauungen jener Zeit entsprach, hatte die schutzlosen und wirtschaftlich schwächeren Be^ völkerungskreise in schwere Bedrängnis gebracht. Diese Mißstände stellten schlie߬ lich den Staat vor die Frage, entweder schützend einzugreifen, oder die Mit¬ arbeit dieser wirtschaftlich Schwachen — dadurch, daß sie ganz leistungsunfähig wurden — zu verlieren. Die weitere Entwicklung der sozialpolitischen Anschauungen führte eine Entschndung in ersterem Sinne herbei; der Staat griff in den Kampf ein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/356>, abgerufen am 24.08.2024.