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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Sozialismus

Ganz klar sieht Schippe! die theoretische Bedrängnis, des Sozialismus.
Er hat den Gedanken ganz durchgedacht: die bürgerliche Gesellschaft ist über
Cobden und das Manchestertum hinaus. Sie ist weiter fortgeschritten und hat
sich darüber hinausentwickelt. Der Imperialismus verwirft das Prinzip des
Laisser taire, der Nichtintervention der Staatsgewalt, er befürwortet sogar das
Hinübergreifen der "modernen, organisierten Staatsgewalt in überseeische, wirt¬
schaftskulturlose Zonen". Es handle sich also nicht um einen Rückfall, um eine
Verlegenheitsausflucht des Kapitals, sondern um ein "Weiteroorwärtsschreiten
zu einer historisch notwendigen, höheren kapitalistischen Entwicklungsstufe". Dem¬
gegenüber sei der Sozialismus, der früher immer ein Eingreifen der Staats¬
gewalt befürwortet habe, jetzt bei der Manchesterlehre stehen geblieben, indem
er die Weiterentwicklung, die der Imperialismus vertrete, nicht mitmachen wolle.
So wird "der Imperialismus zur ökonomisch vorwärtstreibenden, im Manschen
Sinn revolutionären Kraft, die Manchesterweltpolitik wird reaktionär".

So erkennt Schippe! das Paradoxe der Lage, daß der Sozialismus durch
das imperialistische Wirtschaftsprogramm in das reaktionäre Lager gedrängt ist,
während die bürgerlichen Parteien den Fortschritt verfechten, mit voller Klarheit.
Aber die logischen Schlüsse zu ziehen, um aus dieser paradoxen Klemme heraus¬
zukommen, dazu entschließt sich auch Schippe! nicht, oder wagt es wenigstens nicht.
Der Grund ist begreiflich. Denn der Sozialismus müßte, um aus diesem reaktio¬
nären Beharrungszustand herauszukommen, eine Entwicklung durchmachen, die
nur in der Richtung der imperialistischen liegen könnte. Und das ist, wenn
man vierzig Jahre Zusammenbruch und Verelendung gepredigt hat, nicht ganz
leicht; denn es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sich selbst act ab-
8uräum zu führen. Darum muß sich Schippe! mit der Rolle des Pastors in
der bekannten Anekdote begnügen, der vor dem Wegweiser am Kreuzweg vor
der Stadt höflich den Hut zog und auf eine erstaunte Frage erwiderte: "Es ist
ein Kollege von mir. Er weist den Weg und geht ihn nicht."

So liegt denn der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen Imperialismus
und Sozialismus klar genug zutage. Das wirtschaftliche System des Imperia¬
lismus hat das des Sozialismus weit überholt; die imperialistische Praxis straft
die sozialistische Theorie Lügen. ^

Daß der Sozialismus sich in der Praxis sehr wohl mit dem Imperialismus
abfinden kann, zeigt die Entwicklung des modernen Italiens. Die Politik
Italiens, sein Vorgehen in Erythräa und im Somaliland, besonders aber die
Eroberung von Tripolis hat nur deswegen unternommen werden können, weil
die breiten, zum großen Teil sozialistisch gesinnten Volksmassen diese Expan¬
sionspolitik befürworteten, ja vielleicht geradezu anregten. Professor Michels er¬
wähnt in seinen Untersuchungen über den italienischen Imperialismus"), daß



*) Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien im Archiv
für Sozinlwissenschaft und Sozialpolitik, Band 36, Heft 1, S. 111 bis 113.
Imperialismus und Sozialismus

Ganz klar sieht Schippe! die theoretische Bedrängnis, des Sozialismus.
Er hat den Gedanken ganz durchgedacht: die bürgerliche Gesellschaft ist über
Cobden und das Manchestertum hinaus. Sie ist weiter fortgeschritten und hat
sich darüber hinausentwickelt. Der Imperialismus verwirft das Prinzip des
Laisser taire, der Nichtintervention der Staatsgewalt, er befürwortet sogar das
Hinübergreifen der „modernen, organisierten Staatsgewalt in überseeische, wirt¬
schaftskulturlose Zonen". Es handle sich also nicht um einen Rückfall, um eine
Verlegenheitsausflucht des Kapitals, sondern um ein „Weiteroorwärtsschreiten
zu einer historisch notwendigen, höheren kapitalistischen Entwicklungsstufe". Dem¬
gegenüber sei der Sozialismus, der früher immer ein Eingreifen der Staats¬
gewalt befürwortet habe, jetzt bei der Manchesterlehre stehen geblieben, indem
er die Weiterentwicklung, die der Imperialismus vertrete, nicht mitmachen wolle.
So wird „der Imperialismus zur ökonomisch vorwärtstreibenden, im Manschen
Sinn revolutionären Kraft, die Manchesterweltpolitik wird reaktionär".

So erkennt Schippe! das Paradoxe der Lage, daß der Sozialismus durch
das imperialistische Wirtschaftsprogramm in das reaktionäre Lager gedrängt ist,
während die bürgerlichen Parteien den Fortschritt verfechten, mit voller Klarheit.
Aber die logischen Schlüsse zu ziehen, um aus dieser paradoxen Klemme heraus¬
zukommen, dazu entschließt sich auch Schippe! nicht, oder wagt es wenigstens nicht.
Der Grund ist begreiflich. Denn der Sozialismus müßte, um aus diesem reaktio¬
nären Beharrungszustand herauszukommen, eine Entwicklung durchmachen, die
nur in der Richtung der imperialistischen liegen könnte. Und das ist, wenn
man vierzig Jahre Zusammenbruch und Verelendung gepredigt hat, nicht ganz
leicht; denn es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sich selbst act ab-
8uräum zu führen. Darum muß sich Schippe! mit der Rolle des Pastors in
der bekannten Anekdote begnügen, der vor dem Wegweiser am Kreuzweg vor
der Stadt höflich den Hut zog und auf eine erstaunte Frage erwiderte: „Es ist
ein Kollege von mir. Er weist den Weg und geht ihn nicht."

So liegt denn der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen Imperialismus
und Sozialismus klar genug zutage. Das wirtschaftliche System des Imperia¬
lismus hat das des Sozialismus weit überholt; die imperialistische Praxis straft
die sozialistische Theorie Lügen. ^

Daß der Sozialismus sich in der Praxis sehr wohl mit dem Imperialismus
abfinden kann, zeigt die Entwicklung des modernen Italiens. Die Politik
Italiens, sein Vorgehen in Erythräa und im Somaliland, besonders aber die
Eroberung von Tripolis hat nur deswegen unternommen werden können, weil
die breiten, zum großen Teil sozialistisch gesinnten Volksmassen diese Expan¬
sionspolitik befürworteten, ja vielleicht geradezu anregten. Professor Michels er¬
wähnt in seinen Untersuchungen über den italienischen Imperialismus"), daß



*) Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien im Archiv
für Sozinlwissenschaft und Sozialpolitik, Band 36, Heft 1, S. 111 bis 113.
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[0354] Imperialismus und Sozialismus Ganz klar sieht Schippe! die theoretische Bedrängnis, des Sozialismus. Er hat den Gedanken ganz durchgedacht: die bürgerliche Gesellschaft ist über Cobden und das Manchestertum hinaus. Sie ist weiter fortgeschritten und hat sich darüber hinausentwickelt. Der Imperialismus verwirft das Prinzip des Laisser taire, der Nichtintervention der Staatsgewalt, er befürwortet sogar das Hinübergreifen der „modernen, organisierten Staatsgewalt in überseeische, wirt¬ schaftskulturlose Zonen". Es handle sich also nicht um einen Rückfall, um eine Verlegenheitsausflucht des Kapitals, sondern um ein „Weiteroorwärtsschreiten zu einer historisch notwendigen, höheren kapitalistischen Entwicklungsstufe". Dem¬ gegenüber sei der Sozialismus, der früher immer ein Eingreifen der Staats¬ gewalt befürwortet habe, jetzt bei der Manchesterlehre stehen geblieben, indem er die Weiterentwicklung, die der Imperialismus vertrete, nicht mitmachen wolle. So wird „der Imperialismus zur ökonomisch vorwärtstreibenden, im Manschen Sinn revolutionären Kraft, die Manchesterweltpolitik wird reaktionär". So erkennt Schippe! das Paradoxe der Lage, daß der Sozialismus durch das imperialistische Wirtschaftsprogramm in das reaktionäre Lager gedrängt ist, während die bürgerlichen Parteien den Fortschritt verfechten, mit voller Klarheit. Aber die logischen Schlüsse zu ziehen, um aus dieser paradoxen Klemme heraus¬ zukommen, dazu entschließt sich auch Schippe! nicht, oder wagt es wenigstens nicht. Der Grund ist begreiflich. Denn der Sozialismus müßte, um aus diesem reaktio¬ nären Beharrungszustand herauszukommen, eine Entwicklung durchmachen, die nur in der Richtung der imperialistischen liegen könnte. Und das ist, wenn man vierzig Jahre Zusammenbruch und Verelendung gepredigt hat, nicht ganz leicht; denn es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sich selbst act ab- 8uräum zu führen. Darum muß sich Schippe! mit der Rolle des Pastors in der bekannten Anekdote begnügen, der vor dem Wegweiser am Kreuzweg vor der Stadt höflich den Hut zog und auf eine erstaunte Frage erwiderte: „Es ist ein Kollege von mir. Er weist den Weg und geht ihn nicht." So liegt denn der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen Imperialismus und Sozialismus klar genug zutage. Das wirtschaftliche System des Imperia¬ lismus hat das des Sozialismus weit überholt; die imperialistische Praxis straft die sozialistische Theorie Lügen. ^ Daß der Sozialismus sich in der Praxis sehr wohl mit dem Imperialismus abfinden kann, zeigt die Entwicklung des modernen Italiens. Die Politik Italiens, sein Vorgehen in Erythräa und im Somaliland, besonders aber die Eroberung von Tripolis hat nur deswegen unternommen werden können, weil die breiten, zum großen Teil sozialistisch gesinnten Volksmassen diese Expan¬ sionspolitik befürworteten, ja vielleicht geradezu anregten. Professor Michels er¬ wähnt in seinen Untersuchungen über den italienischen Imperialismus"), daß *) Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien im Archiv für Sozinlwissenschaft und Sozialpolitik, Band 36, Heft 1, S. 111 bis 113.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/354>, abgerufen am 24.08.2024.