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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Sozialismus

Menschen zu erblicken angibt; der dieses Ziel durch die Umstürzung aller bisher
bestehenden Staats-, Wirtschafts-, Rechtsformen erreichen will; der all die Be-
tätigungen des modernen Staates auf innerem und äußerem politischen, auf
militärischem Gebiete für die Äußerungen eines harten, ungerechten 'Klassen¬
staates hält; der die Grenzen der Nationen verwischen und sie alle mit einem
gemeinsamen Friedensband umschlingen möchte. Auf der anderen Seite der
Imperialismus: wehrhaft, stark, national; bestrebt, das nationale und wirt¬
schaftliche Leben des eigenen Volkes weiter zu entwickeln und für die Zukunft
M sichern; der Gedankenwelt des eigenen Volkes, seiner staatlichen Geltung,
seinem wirtschaftlichen Machtbereich möglichst weite Ausdehnung zu verschaffen.
Wie soll zwischen diesen beiden Gegenpolen ein Zusammenhang bestehen?

Und doch sind diese Zusammenhänge, wie mir scheint, vorhanden. Zu¬
nächst auf dem Gebiete, auf das die Sozialdemokraten stets das größte Gewicht
legen: auf dem wirtschaftlichen. Daß der Sozialismus sich mit der wirtschaft¬
lichen Seite des Imperialismus ganz besonders eingehend beschäftigt, ist um
so weniger verwunderlich, als selbst Befürworter imperialistischer Bestrebungen
in diesen nichts weiter sehen, als die wirtschaftliche Seite. Unglaublich, aber
wahr: Auch die Vertreter bürgerlicher Parteien, die sonst nie ihren Idea¬
lismus zu betonen verfehlen, erniedrigen den Imperialismus soweit, daß sie in
ihm nur eine Weiterentwicklung oder Neubildung der kapitalistischen Wirtschafts¬
ordnung sehen. Kein Wunder, daß der Sozialismus die ihm besonders unbe¬
queme geistige Seite des Imperialismus totschweigt und die materielle Seite
Zum ausschließlichen Gegenstand seiner Betrachtung erhebt.

Immerhin sind auch die wirtschaftlichen Ergebnisse, die die Befolgung einer
imperialistischen Politik mit sich bringen würde, für das sozialistische System
eingreifend und weittragend genug, um die eingehende Beachtung zu rechtfertigen,
die ihnen vom radikalen bis zum revisionistischen sozialdemokratischen Flügel
gezollt wird. Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Endziel imperialistischer
Wirtschaftspolitik: Festigung und Weiterentwicklung der eigenen Volkswirtschaft
in allen ihren Zweigen, sowohl landwirtschaftlichen wie industriellen, wenn not¬
wendig, durch eingreifende Maßnahmen der Staatsgewalt; Beschaffung der dem
eigenen Lande fehlenden Rohstoffe aus fremden Ländern, die -- um eine
ungestörte Zufuhr zu sichern -- in ihrer politischen und wirtschaftlichen Ent¬
wicklung gesichert sein müssen. Daher empfiehlt sich möglichst die Erwerbung
von Kolonien oder zum mindesten von Interessensphären. Diese dienen ander¬
seits wieder zur Schaffung von Anlagemöglichkeiten für das heimische Kapital
und Ansiedlungsmöglichkeiten für den heimischen -- schon vorhandenen oder zu
erwartenden -- Menschenüberschuß; Schutz der wirtschaftlich Schwachen zur
Erreichung einer möglichst intensiven und wirtschaftlichen Ausnutzung aller Kräfte
des eigenen Landes. Die Mittel zur Erreichung dieses Zieles richten sich nach
den besonderen Verhältnissen eines jeden Landes, daher gehört weder Freihandel,
noch Schutzzoll unbedingt in das Programm des Imperialisten; jedoch werden


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Imperialismus und Sozialismus

Menschen zu erblicken angibt; der dieses Ziel durch die Umstürzung aller bisher
bestehenden Staats-, Wirtschafts-, Rechtsformen erreichen will; der all die Be-
tätigungen des modernen Staates auf innerem und äußerem politischen, auf
militärischem Gebiete für die Äußerungen eines harten, ungerechten 'Klassen¬
staates hält; der die Grenzen der Nationen verwischen und sie alle mit einem
gemeinsamen Friedensband umschlingen möchte. Auf der anderen Seite der
Imperialismus: wehrhaft, stark, national; bestrebt, das nationale und wirt¬
schaftliche Leben des eigenen Volkes weiter zu entwickeln und für die Zukunft
M sichern; der Gedankenwelt des eigenen Volkes, seiner staatlichen Geltung,
seinem wirtschaftlichen Machtbereich möglichst weite Ausdehnung zu verschaffen.
Wie soll zwischen diesen beiden Gegenpolen ein Zusammenhang bestehen?

Und doch sind diese Zusammenhänge, wie mir scheint, vorhanden. Zu¬
nächst auf dem Gebiete, auf das die Sozialdemokraten stets das größte Gewicht
legen: auf dem wirtschaftlichen. Daß der Sozialismus sich mit der wirtschaft¬
lichen Seite des Imperialismus ganz besonders eingehend beschäftigt, ist um
so weniger verwunderlich, als selbst Befürworter imperialistischer Bestrebungen
in diesen nichts weiter sehen, als die wirtschaftliche Seite. Unglaublich, aber
wahr: Auch die Vertreter bürgerlicher Parteien, die sonst nie ihren Idea¬
lismus zu betonen verfehlen, erniedrigen den Imperialismus soweit, daß sie in
ihm nur eine Weiterentwicklung oder Neubildung der kapitalistischen Wirtschafts¬
ordnung sehen. Kein Wunder, daß der Sozialismus die ihm besonders unbe¬
queme geistige Seite des Imperialismus totschweigt und die materielle Seite
Zum ausschließlichen Gegenstand seiner Betrachtung erhebt.

Immerhin sind auch die wirtschaftlichen Ergebnisse, die die Befolgung einer
imperialistischen Politik mit sich bringen würde, für das sozialistische System
eingreifend und weittragend genug, um die eingehende Beachtung zu rechtfertigen,
die ihnen vom radikalen bis zum revisionistischen sozialdemokratischen Flügel
gezollt wird. Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Endziel imperialistischer
Wirtschaftspolitik: Festigung und Weiterentwicklung der eigenen Volkswirtschaft
in allen ihren Zweigen, sowohl landwirtschaftlichen wie industriellen, wenn not¬
wendig, durch eingreifende Maßnahmen der Staatsgewalt; Beschaffung der dem
eigenen Lande fehlenden Rohstoffe aus fremden Ländern, die — um eine
ungestörte Zufuhr zu sichern — in ihrer politischen und wirtschaftlichen Ent¬
wicklung gesichert sein müssen. Daher empfiehlt sich möglichst die Erwerbung
von Kolonien oder zum mindesten von Interessensphären. Diese dienen ander¬
seits wieder zur Schaffung von Anlagemöglichkeiten für das heimische Kapital
und Ansiedlungsmöglichkeiten für den heimischen — schon vorhandenen oder zu
erwartenden — Menschenüberschuß; Schutz der wirtschaftlich Schwachen zur
Erreichung einer möglichst intensiven und wirtschaftlichen Ausnutzung aller Kräfte
des eigenen Landes. Die Mittel zur Erreichung dieses Zieles richten sich nach
den besonderen Verhältnissen eines jeden Landes, daher gehört weder Freihandel,
noch Schutzzoll unbedingt in das Programm des Imperialisten; jedoch werden


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[0351] Imperialismus und Sozialismus Menschen zu erblicken angibt; der dieses Ziel durch die Umstürzung aller bisher bestehenden Staats-, Wirtschafts-, Rechtsformen erreichen will; der all die Be- tätigungen des modernen Staates auf innerem und äußerem politischen, auf militärischem Gebiete für die Äußerungen eines harten, ungerechten 'Klassen¬ staates hält; der die Grenzen der Nationen verwischen und sie alle mit einem gemeinsamen Friedensband umschlingen möchte. Auf der anderen Seite der Imperialismus: wehrhaft, stark, national; bestrebt, das nationale und wirt¬ schaftliche Leben des eigenen Volkes weiter zu entwickeln und für die Zukunft M sichern; der Gedankenwelt des eigenen Volkes, seiner staatlichen Geltung, seinem wirtschaftlichen Machtbereich möglichst weite Ausdehnung zu verschaffen. Wie soll zwischen diesen beiden Gegenpolen ein Zusammenhang bestehen? Und doch sind diese Zusammenhänge, wie mir scheint, vorhanden. Zu¬ nächst auf dem Gebiete, auf das die Sozialdemokraten stets das größte Gewicht legen: auf dem wirtschaftlichen. Daß der Sozialismus sich mit der wirtschaft¬ lichen Seite des Imperialismus ganz besonders eingehend beschäftigt, ist um so weniger verwunderlich, als selbst Befürworter imperialistischer Bestrebungen in diesen nichts weiter sehen, als die wirtschaftliche Seite. Unglaublich, aber wahr: Auch die Vertreter bürgerlicher Parteien, die sonst nie ihren Idea¬ lismus zu betonen verfehlen, erniedrigen den Imperialismus soweit, daß sie in ihm nur eine Weiterentwicklung oder Neubildung der kapitalistischen Wirtschafts¬ ordnung sehen. Kein Wunder, daß der Sozialismus die ihm besonders unbe¬ queme geistige Seite des Imperialismus totschweigt und die materielle Seite Zum ausschließlichen Gegenstand seiner Betrachtung erhebt. Immerhin sind auch die wirtschaftlichen Ergebnisse, die die Befolgung einer imperialistischen Politik mit sich bringen würde, für das sozialistische System eingreifend und weittragend genug, um die eingehende Beachtung zu rechtfertigen, die ihnen vom radikalen bis zum revisionistischen sozialdemokratischen Flügel gezollt wird. Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Endziel imperialistischer Wirtschaftspolitik: Festigung und Weiterentwicklung der eigenen Volkswirtschaft in allen ihren Zweigen, sowohl landwirtschaftlichen wie industriellen, wenn not¬ wendig, durch eingreifende Maßnahmen der Staatsgewalt; Beschaffung der dem eigenen Lande fehlenden Rohstoffe aus fremden Ländern, die — um eine ungestörte Zufuhr zu sichern — in ihrer politischen und wirtschaftlichen Ent¬ wicklung gesichert sein müssen. Daher empfiehlt sich möglichst die Erwerbung von Kolonien oder zum mindesten von Interessensphären. Diese dienen ander¬ seits wieder zur Schaffung von Anlagemöglichkeiten für das heimische Kapital und Ansiedlungsmöglichkeiten für den heimischen — schon vorhandenen oder zu erwartenden — Menschenüberschuß; Schutz der wirtschaftlich Schwachen zur Erreichung einer möglichst intensiven und wirtschaftlichen Ausnutzung aller Kräfte des eigenen Landes. Die Mittel zur Erreichung dieses Zieles richten sich nach den besonderen Verhältnissen eines jeden Landes, daher gehört weder Freihandel, noch Schutzzoll unbedingt in das Programm des Imperialisten; jedoch werden 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/351>, abgerufen am 24.08.2024.