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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

charakteristische Merkmale zukommen oder nicht (vgl. Kapitel 3). Auch sonst
geht die Verfasserin nicht genügend in die Tiefe, indem sie das, was man als
die psychologische Grundlegung der Musikästhetik bezeichnen kann, also die Fragen
nach der Art der Beziehungen der Tone aufeinander, nach dem Wesen von
Konsonanz und Dissonanz, nach dem Wesen des Rhythmus usw., zu sehr außer
acht läßt. Trotz alledem ist das Buch geeignet, den Laien über den Stoffkreis
der Musikästhetik und über die Weise, in welcher derselbe heute hauptsächlich
behandelt wird, wenigstens einigermaßen zu orientieren. Darum möge der
Inhalt durch die Kapitelüberschriften angedeutet werden: 1. Begriff und Wesen
der modernen Ästhetik; 2. Stellung der Musik im Kreise der Künste; 3. Ton
und Harmonie' 4. Rhythmus, Dynamik, Melodie; 5. Charakter der Tonkunst
(hier werden die für die Kunst im allgemeinen aufgestellten sogenannten ästhe¬
tischen Kategorien, wie das Schöne, das Erhabene usw., auf die Musik an¬
gewendet); 6. Inhalt der Tonkunst (die Musik entspricht mittels Tonfolge,
Harmonie und Rhythmus dem Ablauf unserer Gemütsbewegungen, d. h. der
Affekte und Stimmungen. Daher erzeugt sie in uns solche oder, wie die Ver¬
fasserin hätte sagen sollen, analoge Gemütsbewegungen und die mit ihnen ver¬
bundenen Gefühle. Sie spricht das Unaussprechliche aus. Dieses Kapitel ist
wohl das beste des Buches, obgleich auch hier größere Vertiefung wünschens¬
wert gewesen wäre); 7. Programmusik; 8. Musik mit Text; 9. Das Schaffen
der Musik; 10. Nachschaffen und Genießen; 11. Zweck der Tonkunst.

In diesem Schlußartikel wird auch die Frage berührt, ob es Musik gebe,
welche fähig sei, entsittlichend, innerlich verderbend zu wirken. Sie wird bejaht
und zwar, wie mir scheint, durchaus mit Recht. Man sollte meinen, näheren
Aufschluß über diesen Punkt in einem Buch zu finden, das sich "Die Moral der
Musik" betitelt(RudolfKaßner, "Die Moral der Musik, aus den Briefen an
einen Musiker"; zweite umgearbeitete Auflage; Leipzig, Inselverlag, 1912). Aber
wer dasselbe in dieser Erwartung in die Hand nimmt, wird sich enttäuscht
fühlen. Vielmehr sucht der Verfasser aus dem Wesen der Musik das Wesen
des Musikers abzuleiten, wobei er aber unter dem Musiker offenbar nicht nur
den Tonkünstler, sondern alle diejenigen versteht, deren Seelenleben so beschaffen
ist wie das des eigentlichen Musikers. Übrigens hat das Buch die unerfreuliche
Eigenschaft, durch seine mystische Ausdrucksweise den Inhalt zum Teil mehr zu
verschleiern als klar zu machen. Ich versuche, das, was mir als der Kern
erscheint, kurz wiederzugeben. Der Verfasser unterscheidet scharf zwischen
der Allegorie oder der Welt von außen und dem Symbol oder der Welt von
innen. Allegorisch ist alles das, was etwas anderes bedeuten soll als es aus¬
sagt oder ist. Diesen alten Begriff hat Kaßner, wie mir scheint, glücklich er¬
weitert. So führt er als Beispiel einer Allegorie folgendes an: der römische
Schauspieler Paulus, der einen um den Tod seines Sohnes trauernden Vater
darzustellen hatte, brachte in seiner Urne die Asche seines eigenen, soeben ver¬
storbenen Sohnes ans die Bühne, um dadurch einen desto größeren Eindruck


Neue Bücher über Musik

charakteristische Merkmale zukommen oder nicht (vgl. Kapitel 3). Auch sonst
geht die Verfasserin nicht genügend in die Tiefe, indem sie das, was man als
die psychologische Grundlegung der Musikästhetik bezeichnen kann, also die Fragen
nach der Art der Beziehungen der Tone aufeinander, nach dem Wesen von
Konsonanz und Dissonanz, nach dem Wesen des Rhythmus usw., zu sehr außer
acht läßt. Trotz alledem ist das Buch geeignet, den Laien über den Stoffkreis
der Musikästhetik und über die Weise, in welcher derselbe heute hauptsächlich
behandelt wird, wenigstens einigermaßen zu orientieren. Darum möge der
Inhalt durch die Kapitelüberschriften angedeutet werden: 1. Begriff und Wesen
der modernen Ästhetik; 2. Stellung der Musik im Kreise der Künste; 3. Ton
und Harmonie' 4. Rhythmus, Dynamik, Melodie; 5. Charakter der Tonkunst
(hier werden die für die Kunst im allgemeinen aufgestellten sogenannten ästhe¬
tischen Kategorien, wie das Schöne, das Erhabene usw., auf die Musik an¬
gewendet); 6. Inhalt der Tonkunst (die Musik entspricht mittels Tonfolge,
Harmonie und Rhythmus dem Ablauf unserer Gemütsbewegungen, d. h. der
Affekte und Stimmungen. Daher erzeugt sie in uns solche oder, wie die Ver¬
fasserin hätte sagen sollen, analoge Gemütsbewegungen und die mit ihnen ver¬
bundenen Gefühle. Sie spricht das Unaussprechliche aus. Dieses Kapitel ist
wohl das beste des Buches, obgleich auch hier größere Vertiefung wünschens¬
wert gewesen wäre); 7. Programmusik; 8. Musik mit Text; 9. Das Schaffen
der Musik; 10. Nachschaffen und Genießen; 11. Zweck der Tonkunst.

In diesem Schlußartikel wird auch die Frage berührt, ob es Musik gebe,
welche fähig sei, entsittlichend, innerlich verderbend zu wirken. Sie wird bejaht
und zwar, wie mir scheint, durchaus mit Recht. Man sollte meinen, näheren
Aufschluß über diesen Punkt in einem Buch zu finden, das sich „Die Moral der
Musik" betitelt(RudolfKaßner, „Die Moral der Musik, aus den Briefen an
einen Musiker"; zweite umgearbeitete Auflage; Leipzig, Inselverlag, 1912). Aber
wer dasselbe in dieser Erwartung in die Hand nimmt, wird sich enttäuscht
fühlen. Vielmehr sucht der Verfasser aus dem Wesen der Musik das Wesen
des Musikers abzuleiten, wobei er aber unter dem Musiker offenbar nicht nur
den Tonkünstler, sondern alle diejenigen versteht, deren Seelenleben so beschaffen
ist wie das des eigentlichen Musikers. Übrigens hat das Buch die unerfreuliche
Eigenschaft, durch seine mystische Ausdrucksweise den Inhalt zum Teil mehr zu
verschleiern als klar zu machen. Ich versuche, das, was mir als der Kern
erscheint, kurz wiederzugeben. Der Verfasser unterscheidet scharf zwischen
der Allegorie oder der Welt von außen und dem Symbol oder der Welt von
innen. Allegorisch ist alles das, was etwas anderes bedeuten soll als es aus¬
sagt oder ist. Diesen alten Begriff hat Kaßner, wie mir scheint, glücklich er¬
weitert. So führt er als Beispiel einer Allegorie folgendes an: der römische
Schauspieler Paulus, der einen um den Tod seines Sohnes trauernden Vater
darzustellen hatte, brachte in seiner Urne die Asche seines eigenen, soeben ver¬
storbenen Sohnes ans die Bühne, um dadurch einen desto größeren Eindruck


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[0336] Neue Bücher über Musik charakteristische Merkmale zukommen oder nicht (vgl. Kapitel 3). Auch sonst geht die Verfasserin nicht genügend in die Tiefe, indem sie das, was man als die psychologische Grundlegung der Musikästhetik bezeichnen kann, also die Fragen nach der Art der Beziehungen der Tone aufeinander, nach dem Wesen von Konsonanz und Dissonanz, nach dem Wesen des Rhythmus usw., zu sehr außer acht läßt. Trotz alledem ist das Buch geeignet, den Laien über den Stoffkreis der Musikästhetik und über die Weise, in welcher derselbe heute hauptsächlich behandelt wird, wenigstens einigermaßen zu orientieren. Darum möge der Inhalt durch die Kapitelüberschriften angedeutet werden: 1. Begriff und Wesen der modernen Ästhetik; 2. Stellung der Musik im Kreise der Künste; 3. Ton und Harmonie' 4. Rhythmus, Dynamik, Melodie; 5. Charakter der Tonkunst (hier werden die für die Kunst im allgemeinen aufgestellten sogenannten ästhe¬ tischen Kategorien, wie das Schöne, das Erhabene usw., auf die Musik an¬ gewendet); 6. Inhalt der Tonkunst (die Musik entspricht mittels Tonfolge, Harmonie und Rhythmus dem Ablauf unserer Gemütsbewegungen, d. h. der Affekte und Stimmungen. Daher erzeugt sie in uns solche oder, wie die Ver¬ fasserin hätte sagen sollen, analoge Gemütsbewegungen und die mit ihnen ver¬ bundenen Gefühle. Sie spricht das Unaussprechliche aus. Dieses Kapitel ist wohl das beste des Buches, obgleich auch hier größere Vertiefung wünschens¬ wert gewesen wäre); 7. Programmusik; 8. Musik mit Text; 9. Das Schaffen der Musik; 10. Nachschaffen und Genießen; 11. Zweck der Tonkunst. In diesem Schlußartikel wird auch die Frage berührt, ob es Musik gebe, welche fähig sei, entsittlichend, innerlich verderbend zu wirken. Sie wird bejaht und zwar, wie mir scheint, durchaus mit Recht. Man sollte meinen, näheren Aufschluß über diesen Punkt in einem Buch zu finden, das sich „Die Moral der Musik" betitelt(RudolfKaßner, „Die Moral der Musik, aus den Briefen an einen Musiker"; zweite umgearbeitete Auflage; Leipzig, Inselverlag, 1912). Aber wer dasselbe in dieser Erwartung in die Hand nimmt, wird sich enttäuscht fühlen. Vielmehr sucht der Verfasser aus dem Wesen der Musik das Wesen des Musikers abzuleiten, wobei er aber unter dem Musiker offenbar nicht nur den Tonkünstler, sondern alle diejenigen versteht, deren Seelenleben so beschaffen ist wie das des eigentlichen Musikers. Übrigens hat das Buch die unerfreuliche Eigenschaft, durch seine mystische Ausdrucksweise den Inhalt zum Teil mehr zu verschleiern als klar zu machen. Ich versuche, das, was mir als der Kern erscheint, kurz wiederzugeben. Der Verfasser unterscheidet scharf zwischen der Allegorie oder der Welt von außen und dem Symbol oder der Welt von innen. Allegorisch ist alles das, was etwas anderes bedeuten soll als es aus¬ sagt oder ist. Diesen alten Begriff hat Kaßner, wie mir scheint, glücklich er¬ weitert. So führt er als Beispiel einer Allegorie folgendes an: der römische Schauspieler Paulus, der einen um den Tod seines Sohnes trauernden Vater darzustellen hatte, brachte in seiner Urne die Asche seines eigenen, soeben ver¬ storbenen Sohnes ans die Bühne, um dadurch einen desto größeren Eindruck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/336>, abgerufen am 22.07.2024.