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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliche- und Unmaßgebliches

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schifftyp oder die Verhaftung eines gerade be¬
rühmten Lustmörders. Das Gemeinsame ist
lediglich das Ungewohnte, das Erregende.
Dazu musz aber die Handlung kommen, das
Leben. Das ausgestopfte Kamel in seinem
Glaskasten, die Zeichnung des Luftschiffes und
der Photographierte Verbrecher haben nur
noch einen Rest von Interesse. Wenn also
nun Scharen aus dem Theater bleiben und
ins Kino gehen, so ist vielfach der Grund
der, daß das Kino sachlich interessantes in
Handlung vorführt. Mag auch der Gegen¬
stand oft genug albern und die Handlung
auf ein stummes Schattenbild reduziert sein.
Auch diese Rudimente ziehen noch.

Daß das Theater stärker zieht, haben die
Schülerversuche in Hannover, über die kürz¬
lich berichtet wurde, bewiesen. Aber aller¬
dings wurde Schiller vorgeführt. Da ge¬
schieht etwas und man sieht Tell und den
Landvogt, Leute, denen man nicht vorher auf
der Georgstraße begegnet war.

Ein großer Teil unserer modernen Dra¬
matik verzichtet aber auf das Ungewöhnliche,
auf Tempel und Männer in Rüstungen, Ajax
und Wallenstein oder moderne Gardekürassiere
im Küraß. Derartiges ist nun aber einmal für
die Menschen interessanter als ein schnaps-
duftendcr Fuhrmann in einer Proletarier¬
wohnung. Dies Manko kann Wohl in Cliquen
(die gemeinten sagen Gemeinden) durch lite¬
rarische Werte auf einige Zeit ersetzt werden,
aber nicht auf die Dauer und nicht fürs Volk.
Anderseits ist "literarische Bedeutung" durch¬
aus kein Gegner einer Einkleidung in sehens¬
werte Formen. Diese Formen für die Ideen
zu finden ist auch Kunst. Sie ist czussi das
hochzeitliche Kleid, ohne das schon mancher
zurückgewiesen wurde, der zum Fest kam.
Wagner hätte die Philosophische Idee seines
Parsival ja auch in der Seele eines skrophu-
lösen modernen Proletariers vorführen können.
Es ist sehr zu bezweifeln, ob er damit eine
dauernde und starke Wirkung erzielt hätte.
Und ob die Gedichte unserer Klassiker so all¬
gemein und als Kunstwerke wirken würden,
wenn sie im Dialekt, "von eme alde Frank-
forder" oder im schwäbischen Dialekt ge¬
schrieben wären, ist wohl nicht zweifelhaft.

Mit der naturalistischen Periode, deren
Wert für die Entwicklung der Literatur und

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des Theaters damit durchaus nicht bestritten
werden soll, ist aber ein großer Teil des Pu¬
blikums aus dem Theater herausgespielt.

Den Gründlingen im Parkett (sie sollen
bisweilen auch in den Logen sitzen) kann man,
wenn man einmal für das Theater schreibt,
viele Konzessionen machen. Darunter leidet
der "literarische Wert" eines Stückes so wenig,
wie der moralische, vicZe Shakespeare. Und
mit diesen Konzessionen behält man die
Leute und kann ihnen auch das eingeben,
worauf es einem selber ankommt, notabsne,
wenn man ihnen etwas zu sagen hat. Vom
literarischen Wert allein lassen sich nur die
vom Handwerk locken. Das hat doch Wohl
die Thcatergeschichte erwiesen. Auch die Aus¬
stattung tut es nicht, besonders nicht ihre
Wahrheit. Das Kino beweist es. Es ist fast
immer nur schwarz und weiß und das wird
widerspruchslos angenommen. Und gar die
Wahrheit? In der Besprechung einer Auf¬
führung der Iphigenie wurde getadelt, daß
der Tempel jonisch, ich glaube sogar in
einer späteren Nuance dieses Stils gebant
war. Er hätte aber archaisch - dorisch sein
sollen mich Meinung des Kritikers.

Ich habe das Geburtsjahr der Iphigenie
längst vergessen und ähnlich ist es Wohl den
meisten anderen Zuschauern auch gegangen.
Und viele werden -- Iiorribile ciictu -- viel¬
leicht nicht einmal gewußt haben, in welchen
Jahrzehnten die ersten Tempel in entwickelten
jonischen Formen errichtet sind. Wenn eine
Geschichte so alt ist wie die der "Iphigenie",
dann kommt es eben für eine künstlerische
Darstellung auf ein Paar Jahrhunderte auch
nicht mehr an.

Die Regisseure und die zu ihrer Aufsicht
bestellten Kritiker denken freilich anders. Das
Resultat haben sie. Sie haben es aber noch
an einer anderen Stelle: in der Rechnung
über den Fundus. Eine Provinzialstadt von
einhundert- bis zweihunderttausenoEinwohnern
"braucht", wenn sie ein Theater baut und
dem Publikum alle Arten von Dramen vor¬
führen will, einen Fundus für 800 000 Mark.
Und dann noch jahrelang für Einstudierungen
aller möglichen Stücke jährlich 60- bis 100000
Mark. Götz und Wallenstein können natür¬
lich nicht in gleichen Rüstungen gespielt wer¬
den und Faust braucht wieder andere Kostüme.

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Maßgebliche- und Unmaßgebliches

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schifftyp oder die Verhaftung eines gerade be¬
rühmten Lustmörders. Das Gemeinsame ist
lediglich das Ungewohnte, das Erregende.
Dazu musz aber die Handlung kommen, das
Leben. Das ausgestopfte Kamel in seinem
Glaskasten, die Zeichnung des Luftschiffes und
der Photographierte Verbrecher haben nur
noch einen Rest von Interesse. Wenn also
nun Scharen aus dem Theater bleiben und
ins Kino gehen, so ist vielfach der Grund
der, daß das Kino sachlich interessantes in
Handlung vorführt. Mag auch der Gegen¬
stand oft genug albern und die Handlung
auf ein stummes Schattenbild reduziert sein.
Auch diese Rudimente ziehen noch.

Daß das Theater stärker zieht, haben die
Schülerversuche in Hannover, über die kürz¬
lich berichtet wurde, bewiesen. Aber aller¬
dings wurde Schiller vorgeführt. Da ge¬
schieht etwas und man sieht Tell und den
Landvogt, Leute, denen man nicht vorher auf
der Georgstraße begegnet war.

Ein großer Teil unserer modernen Dra¬
matik verzichtet aber auf das Ungewöhnliche,
auf Tempel und Männer in Rüstungen, Ajax
und Wallenstein oder moderne Gardekürassiere
im Küraß. Derartiges ist nun aber einmal für
die Menschen interessanter als ein schnaps-
duftendcr Fuhrmann in einer Proletarier¬
wohnung. Dies Manko kann Wohl in Cliquen
(die gemeinten sagen Gemeinden) durch lite¬
rarische Werte auf einige Zeit ersetzt werden,
aber nicht auf die Dauer und nicht fürs Volk.
Anderseits ist „literarische Bedeutung" durch¬
aus kein Gegner einer Einkleidung in sehens¬
werte Formen. Diese Formen für die Ideen
zu finden ist auch Kunst. Sie ist czussi das
hochzeitliche Kleid, ohne das schon mancher
zurückgewiesen wurde, der zum Fest kam.
Wagner hätte die Philosophische Idee seines
Parsival ja auch in der Seele eines skrophu-
lösen modernen Proletariers vorführen können.
Es ist sehr zu bezweifeln, ob er damit eine
dauernde und starke Wirkung erzielt hätte.
Und ob die Gedichte unserer Klassiker so all¬
gemein und als Kunstwerke wirken würden,
wenn sie im Dialekt, „von eme alde Frank-
forder" oder im schwäbischen Dialekt ge¬
schrieben wären, ist wohl nicht zweifelhaft.

Mit der naturalistischen Periode, deren
Wert für die Entwicklung der Literatur und

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des Theaters damit durchaus nicht bestritten
werden soll, ist aber ein großer Teil des Pu¬
blikums aus dem Theater herausgespielt.

Den Gründlingen im Parkett (sie sollen
bisweilen auch in den Logen sitzen) kann man,
wenn man einmal für das Theater schreibt,
viele Konzessionen machen. Darunter leidet
der „literarische Wert" eines Stückes so wenig,
wie der moralische, vicZe Shakespeare. Und
mit diesen Konzessionen behält man die
Leute und kann ihnen auch das eingeben,
worauf es einem selber ankommt, notabsne,
wenn man ihnen etwas zu sagen hat. Vom
literarischen Wert allein lassen sich nur die
vom Handwerk locken. Das hat doch Wohl
die Thcatergeschichte erwiesen. Auch die Aus¬
stattung tut es nicht, besonders nicht ihre
Wahrheit. Das Kino beweist es. Es ist fast
immer nur schwarz und weiß und das wird
widerspruchslos angenommen. Und gar die
Wahrheit? In der Besprechung einer Auf¬
führung der Iphigenie wurde getadelt, daß
der Tempel jonisch, ich glaube sogar in
einer späteren Nuance dieses Stils gebant
war. Er hätte aber archaisch - dorisch sein
sollen mich Meinung des Kritikers.

Ich habe das Geburtsjahr der Iphigenie
längst vergessen und ähnlich ist es Wohl den
meisten anderen Zuschauern auch gegangen.
Und viele werden — Iiorribile ciictu — viel¬
leicht nicht einmal gewußt haben, in welchen
Jahrzehnten die ersten Tempel in entwickelten
jonischen Formen errichtet sind. Wenn eine
Geschichte so alt ist wie die der „Iphigenie",
dann kommt es eben für eine künstlerische
Darstellung auf ein Paar Jahrhunderte auch
nicht mehr an.

Die Regisseure und die zu ihrer Aufsicht
bestellten Kritiker denken freilich anders. Das
Resultat haben sie. Sie haben es aber noch
an einer anderen Stelle: in der Rechnung
über den Fundus. Eine Provinzialstadt von
einhundert- bis zweihunderttausenoEinwohnern
„braucht", wenn sie ein Theater baut und
dem Publikum alle Arten von Dramen vor¬
führen will, einen Fundus für 800 000 Mark.
Und dann noch jahrelang für Einstudierungen
aller möglichen Stücke jährlich 60- bis 100000
Mark. Götz und Wallenstein können natür¬
lich nicht in gleichen Rüstungen gespielt wer¬
den und Faust braucht wieder andere Kostüme.

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[0298] Maßgebliche- und Unmaßgebliches schifftyp oder die Verhaftung eines gerade be¬ rühmten Lustmörders. Das Gemeinsame ist lediglich das Ungewohnte, das Erregende. Dazu musz aber die Handlung kommen, das Leben. Das ausgestopfte Kamel in seinem Glaskasten, die Zeichnung des Luftschiffes und der Photographierte Verbrecher haben nur noch einen Rest von Interesse. Wenn also nun Scharen aus dem Theater bleiben und ins Kino gehen, so ist vielfach der Grund der, daß das Kino sachlich interessantes in Handlung vorführt. Mag auch der Gegen¬ stand oft genug albern und die Handlung auf ein stummes Schattenbild reduziert sein. Auch diese Rudimente ziehen noch. Daß das Theater stärker zieht, haben die Schülerversuche in Hannover, über die kürz¬ lich berichtet wurde, bewiesen. Aber aller¬ dings wurde Schiller vorgeführt. Da ge¬ schieht etwas und man sieht Tell und den Landvogt, Leute, denen man nicht vorher auf der Georgstraße begegnet war. Ein großer Teil unserer modernen Dra¬ matik verzichtet aber auf das Ungewöhnliche, auf Tempel und Männer in Rüstungen, Ajax und Wallenstein oder moderne Gardekürassiere im Küraß. Derartiges ist nun aber einmal für die Menschen interessanter als ein schnaps- duftendcr Fuhrmann in einer Proletarier¬ wohnung. Dies Manko kann Wohl in Cliquen (die gemeinten sagen Gemeinden) durch lite¬ rarische Werte auf einige Zeit ersetzt werden, aber nicht auf die Dauer und nicht fürs Volk. Anderseits ist „literarische Bedeutung" durch¬ aus kein Gegner einer Einkleidung in sehens¬ werte Formen. Diese Formen für die Ideen zu finden ist auch Kunst. Sie ist czussi das hochzeitliche Kleid, ohne das schon mancher zurückgewiesen wurde, der zum Fest kam. Wagner hätte die Philosophische Idee seines Parsival ja auch in der Seele eines skrophu- lösen modernen Proletariers vorführen können. Es ist sehr zu bezweifeln, ob er damit eine dauernde und starke Wirkung erzielt hätte. Und ob die Gedichte unserer Klassiker so all¬ gemein und als Kunstwerke wirken würden, wenn sie im Dialekt, „von eme alde Frank- forder" oder im schwäbischen Dialekt ge¬ schrieben wären, ist wohl nicht zweifelhaft. Mit der naturalistischen Periode, deren Wert für die Entwicklung der Literatur und des Theaters damit durchaus nicht bestritten werden soll, ist aber ein großer Teil des Pu¬ blikums aus dem Theater herausgespielt. Den Gründlingen im Parkett (sie sollen bisweilen auch in den Logen sitzen) kann man, wenn man einmal für das Theater schreibt, viele Konzessionen machen. Darunter leidet der „literarische Wert" eines Stückes so wenig, wie der moralische, vicZe Shakespeare. Und mit diesen Konzessionen behält man die Leute und kann ihnen auch das eingeben, worauf es einem selber ankommt, notabsne, wenn man ihnen etwas zu sagen hat. Vom literarischen Wert allein lassen sich nur die vom Handwerk locken. Das hat doch Wohl die Thcatergeschichte erwiesen. Auch die Aus¬ stattung tut es nicht, besonders nicht ihre Wahrheit. Das Kino beweist es. Es ist fast immer nur schwarz und weiß und das wird widerspruchslos angenommen. Und gar die Wahrheit? In der Besprechung einer Auf¬ führung der Iphigenie wurde getadelt, daß der Tempel jonisch, ich glaube sogar in einer späteren Nuance dieses Stils gebant war. Er hätte aber archaisch - dorisch sein sollen mich Meinung des Kritikers. Ich habe das Geburtsjahr der Iphigenie längst vergessen und ähnlich ist es Wohl den meisten anderen Zuschauern auch gegangen. Und viele werden — Iiorribile ciictu — viel¬ leicht nicht einmal gewußt haben, in welchen Jahrzehnten die ersten Tempel in entwickelten jonischen Formen errichtet sind. Wenn eine Geschichte so alt ist wie die der „Iphigenie", dann kommt es eben für eine künstlerische Darstellung auf ein Paar Jahrhunderte auch nicht mehr an. Die Regisseure und die zu ihrer Aufsicht bestellten Kritiker denken freilich anders. Das Resultat haben sie. Sie haben es aber noch an einer anderen Stelle: in der Rechnung über den Fundus. Eine Provinzialstadt von einhundert- bis zweihunderttausenoEinwohnern „braucht", wenn sie ein Theater baut und dem Publikum alle Arten von Dramen vor¬ führen will, einen Fundus für 800 000 Mark. Und dann noch jahrelang für Einstudierungen aller möglichen Stücke jährlich 60- bis 100000 Mark. Götz und Wallenstein können natür¬ lich nicht in gleichen Rüstungen gespielt wer¬ den und Faust braucht wieder andere Kostüme.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/298>, abgerufen am 02.10.2024.