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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

ist vielfach ein Wandel des Rechtsgefühls in den Gang der Ereignisse verwebt.
Kohler ist in seinem lesenswerten Buche: "Shakespeare vor dem Forum der
Jurisprudenz" sogar soweit gegangen, daß er Hamlet als den Mann bezeichnet,
der als Moderner mit dem Gedanken der althergebrachten und noch geltenden
Blutrache sich immer wieder von neuem vergeblich abzufinden sucht. Mag Kohler
sich hierbei auch zu sehr von seiner Fachwissenschaft haben leiten lassen, mit
Recht weist er auf die Figur des Shylock im "Kaufmann von Venedig" hin.
Shylock hat dem Antonio 3000 Dukaten geliehen; er hat sich dabei ausbedungen:


"Wenn Ihr mir nicht auf den bestimmten Tag,
An dem bestimmten Ort, die und die Summe,
Wie der Vertrag nun lautet, wiederzahlt:
Laßt uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch
Zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe
Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will."

Dies Abkommen, auf welches Antonio sich einläßt, empört unser Empfinden
auf das äußerste; es erfüllt uns daher mit sittlicher Befriedigung, daß Shylock
letzten Endes weder das Pfund Fleisch noch seine 3000 Dukaten erhält. Würde
heutigen Tages ein solcher Vertrag abgeschlossen werden, so würde kein Gericht
Europas ihn als gültig anerkennen, er würde ohne weiteres als unsittlich für
nichtig erklärt werden. Und darum wird auch Shylock je nach unserer Ge¬
mütsart verachtet oder verlacht werden. So urteilt der Spätere. Wenn aber
damals, als Shakespeare die Figur des Shylock schuf, das allgemeine Empfinden
ebenso gewesen wäre, wenn man einen solchen Vertrag allgemein für unmöglich
gehalten hätte, so würde der Konflikt im Kaufmann von Venedig schon damals
als ein überaus lahmer empfunden worden sein; es wäre auch nicht zu verstehen,
warum Antonio, als er die 3000 Dukaten nicht zurückzahlen kann, in die größte
Sorge gerät und warum der Urteilsspruch der Porzia, welcher zugunsten Antonios
ausfällt, zu so verwunderlich rabulistischen Gedankengängen seine Zuflucht
nehmen muß.

Aber Shakespeare erklärt den Vertrag sogar ausdrücklich für gültig:


"Von wunderlicher Art ist euer Handel,
Doch in der Form, daß das Gesetz Venedigs
Euch nicht anfechten kann, wie ihr verfährt."

Und nachdem Porzia diesen Rechtsgrundsatz ausgesprochen und Antonio den
Schuldschein als echt anerkannt hat, bleibt ihr zunächst kein anderer Ausspruch
als der Rat:


"So muß der Jude Gnad' ergehen lassen."

Auf die Frage Shylocks:


"Wodurch genötigt, muß ich? Sagt mir das!"

erwidert Porzia:


"Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang."
Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

ist vielfach ein Wandel des Rechtsgefühls in den Gang der Ereignisse verwebt.
Kohler ist in seinem lesenswerten Buche: „Shakespeare vor dem Forum der
Jurisprudenz" sogar soweit gegangen, daß er Hamlet als den Mann bezeichnet,
der als Moderner mit dem Gedanken der althergebrachten und noch geltenden
Blutrache sich immer wieder von neuem vergeblich abzufinden sucht. Mag Kohler
sich hierbei auch zu sehr von seiner Fachwissenschaft haben leiten lassen, mit
Recht weist er auf die Figur des Shylock im „Kaufmann von Venedig" hin.
Shylock hat dem Antonio 3000 Dukaten geliehen; er hat sich dabei ausbedungen:


„Wenn Ihr mir nicht auf den bestimmten Tag,
An dem bestimmten Ort, die und die Summe,
Wie der Vertrag nun lautet, wiederzahlt:
Laßt uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch
Zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe
Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will."

Dies Abkommen, auf welches Antonio sich einläßt, empört unser Empfinden
auf das äußerste; es erfüllt uns daher mit sittlicher Befriedigung, daß Shylock
letzten Endes weder das Pfund Fleisch noch seine 3000 Dukaten erhält. Würde
heutigen Tages ein solcher Vertrag abgeschlossen werden, so würde kein Gericht
Europas ihn als gültig anerkennen, er würde ohne weiteres als unsittlich für
nichtig erklärt werden. Und darum wird auch Shylock je nach unserer Ge¬
mütsart verachtet oder verlacht werden. So urteilt der Spätere. Wenn aber
damals, als Shakespeare die Figur des Shylock schuf, das allgemeine Empfinden
ebenso gewesen wäre, wenn man einen solchen Vertrag allgemein für unmöglich
gehalten hätte, so würde der Konflikt im Kaufmann von Venedig schon damals
als ein überaus lahmer empfunden worden sein; es wäre auch nicht zu verstehen,
warum Antonio, als er die 3000 Dukaten nicht zurückzahlen kann, in die größte
Sorge gerät und warum der Urteilsspruch der Porzia, welcher zugunsten Antonios
ausfällt, zu so verwunderlich rabulistischen Gedankengängen seine Zuflucht
nehmen muß.

Aber Shakespeare erklärt den Vertrag sogar ausdrücklich für gültig:


„Von wunderlicher Art ist euer Handel,
Doch in der Form, daß das Gesetz Venedigs
Euch nicht anfechten kann, wie ihr verfährt."

Und nachdem Porzia diesen Rechtsgrundsatz ausgesprochen und Antonio den
Schuldschein als echt anerkannt hat, bleibt ihr zunächst kein anderer Ausspruch
als der Rat:


„So muß der Jude Gnad' ergehen lassen."

Auf die Frage Shylocks:


„Wodurch genötigt, muß ich? Sagt mir das!"

erwidert Porzia:


„Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang."
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[0027] Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten ist vielfach ein Wandel des Rechtsgefühls in den Gang der Ereignisse verwebt. Kohler ist in seinem lesenswerten Buche: „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz" sogar soweit gegangen, daß er Hamlet als den Mann bezeichnet, der als Moderner mit dem Gedanken der althergebrachten und noch geltenden Blutrache sich immer wieder von neuem vergeblich abzufinden sucht. Mag Kohler sich hierbei auch zu sehr von seiner Fachwissenschaft haben leiten lassen, mit Recht weist er auf die Figur des Shylock im „Kaufmann von Venedig" hin. Shylock hat dem Antonio 3000 Dukaten geliehen; er hat sich dabei ausbedungen: „Wenn Ihr mir nicht auf den bestimmten Tag, An dem bestimmten Ort, die und die Summe, Wie der Vertrag nun lautet, wiederzahlt: Laßt uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch Zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will." Dies Abkommen, auf welches Antonio sich einläßt, empört unser Empfinden auf das äußerste; es erfüllt uns daher mit sittlicher Befriedigung, daß Shylock letzten Endes weder das Pfund Fleisch noch seine 3000 Dukaten erhält. Würde heutigen Tages ein solcher Vertrag abgeschlossen werden, so würde kein Gericht Europas ihn als gültig anerkennen, er würde ohne weiteres als unsittlich für nichtig erklärt werden. Und darum wird auch Shylock je nach unserer Ge¬ mütsart verachtet oder verlacht werden. So urteilt der Spätere. Wenn aber damals, als Shakespeare die Figur des Shylock schuf, das allgemeine Empfinden ebenso gewesen wäre, wenn man einen solchen Vertrag allgemein für unmöglich gehalten hätte, so würde der Konflikt im Kaufmann von Venedig schon damals als ein überaus lahmer empfunden worden sein; es wäre auch nicht zu verstehen, warum Antonio, als er die 3000 Dukaten nicht zurückzahlen kann, in die größte Sorge gerät und warum der Urteilsspruch der Porzia, welcher zugunsten Antonios ausfällt, zu so verwunderlich rabulistischen Gedankengängen seine Zuflucht nehmen muß. Aber Shakespeare erklärt den Vertrag sogar ausdrücklich für gültig: „Von wunderlicher Art ist euer Handel, Doch in der Form, daß das Gesetz Venedigs Euch nicht anfechten kann, wie ihr verfährt." Und nachdem Porzia diesen Rechtsgrundsatz ausgesprochen und Antonio den Schuldschein als echt anerkannt hat, bleibt ihr zunächst kein anderer Ausspruch als der Rat: „So muß der Jude Gnad' ergehen lassen." Auf die Frage Shylocks: „Wodurch genötigt, muß ich? Sagt mir das!" erwidert Porzia: „Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/27>, abgerufen am 26.06.2024.