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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ländliche Sozialpolitik in England

Bedürfnisse des landwirtschaftlichen Arbeiters unberücksichtigt. Die Handwerker¬
klasse und die gut bezahlten Industriearbeiter haben genügendes Einkommen für
diese Form des Landbesitzes. Dem ländlichen Arbeiter hingegen fehlt selbst das
geringe Kapital, das er für solch eine kleine Pacht anlegen müßte. Von der
landwirtschaftlichen Gewerkschaftsbewegung schließlich ist eine soziale Hebung des
Landarbeiterstandes auch nicht zu erwarten. Denn wenn auch in England keine
Einschränkung des Koalitionsrechtes der Landarbeiter besteht, so ist es diesen
doch finanziell unmöglich, den wöchentlichen Beitrag an die Gewerkschaftskasse zu
leisten. Zudem ist auch die Gewerkschaftspropaganda auf dem Lande wegen der
Entfernung schwierig und kostspielig.

Auf Grund all dieser Erwägungen kommt der Bericht zu dem Schluß, daß
nur die Intervention des Staates den Landarbeiterstand auf eine menschen¬
würdige soziale Stufe bringen kann. Daher wird die Einrichtung von land¬
wirtschaftlichen Verwaltungsgerichten (lana court^) empfohlen, denen je ein
Lohnamt (>vaM boarä) und ein Pachtamt (reut court) untergeordnet sein sollen.
Im übrigen wird folgende dreifache Anregung gegeben:

1. Die in den Grafschaften einzusetzenden Lohngerichtshöfe (wÄZe tribunal8)
bestimmen einen örtlich geltenden gesetzlichen Mindestlohn;

2. das Lohngericht wird durch Gesetz daran gebunden, daß bei der Lohn¬
bestimmung die festzusetzende Summe dem Arbeiter mindestens ein Einkommen
gewährt, mit dem er seine Familie angemessen unterhalten und aus dem baren
Entgelt die Miete für eine angemessene Wohnung zahlen kann;

3. der Pächter, dem durch die Einsetzung des Mindestlohns für seine Arbeiter
eine Mehrlast aufgebürdet wird, erhält auf seinen Antrag eine Neuregelung
seines Pachtvertrages mit dem Grundherrn durch das landwirtschaftliche Ver¬
waltungsgericht.

Die Erhebungen über die ländlichen Wohnungsverhältnisse in England
ergeben ein geradezu trostloses Bild. Die baupolizeilichen Vorschriften über
das Abreißen unbrauchbar gewordener Wohnstätten werden aus dem Grunde
nicht befolgt, weil man die Leute nicht zu Hunderttausenden auf die Straße
setzen kann. In England und in Wales allein müßten, wenn man dem unserm
Baupolizeigesetz entsprechenden "KousinZ act" Geltung verschaffen wollte, zum
mindestens 120 000 neue Wohnhäuser auf dem Lande errichtet werden. Die
Statistik für Schottland und Irland ergibt einen noch größeren Prozentsatz
unbewohnbarer Hütten. In der Wohnungsfrage soll dem Landarbeiter durch
eine staailiche finanzielle Unterstützung in der Weise geholfen werden, daß den
Ortsbehörden, den "rual äistriet eouriLils", ein Betrag für den Bau neuer
Heimstätten zur Verfügung gestellt wird. Bei den schon erwähnten an den
Dienstvertrag "gebundenen" Pachtwohnungen soll zudem zum besseren Schutz
des Arbeiters eine gesetzliche Kündigungsfrist von sechs Monaten eingeführt
werden. Weitere Vorschläge des Ausschusses haben eine Beschränkung des
Wildschadens im Auge. Auf den Schlußseiten des Berichtes wird nochmals auf


Ländliche Sozialpolitik in England

Bedürfnisse des landwirtschaftlichen Arbeiters unberücksichtigt. Die Handwerker¬
klasse und die gut bezahlten Industriearbeiter haben genügendes Einkommen für
diese Form des Landbesitzes. Dem ländlichen Arbeiter hingegen fehlt selbst das
geringe Kapital, das er für solch eine kleine Pacht anlegen müßte. Von der
landwirtschaftlichen Gewerkschaftsbewegung schließlich ist eine soziale Hebung des
Landarbeiterstandes auch nicht zu erwarten. Denn wenn auch in England keine
Einschränkung des Koalitionsrechtes der Landarbeiter besteht, so ist es diesen
doch finanziell unmöglich, den wöchentlichen Beitrag an die Gewerkschaftskasse zu
leisten. Zudem ist auch die Gewerkschaftspropaganda auf dem Lande wegen der
Entfernung schwierig und kostspielig.

Auf Grund all dieser Erwägungen kommt der Bericht zu dem Schluß, daß
nur die Intervention des Staates den Landarbeiterstand auf eine menschen¬
würdige soziale Stufe bringen kann. Daher wird die Einrichtung von land¬
wirtschaftlichen Verwaltungsgerichten (lana court^) empfohlen, denen je ein
Lohnamt (>vaM boarä) und ein Pachtamt (reut court) untergeordnet sein sollen.
Im übrigen wird folgende dreifache Anregung gegeben:

1. Die in den Grafschaften einzusetzenden Lohngerichtshöfe (wÄZe tribunal8)
bestimmen einen örtlich geltenden gesetzlichen Mindestlohn;

2. das Lohngericht wird durch Gesetz daran gebunden, daß bei der Lohn¬
bestimmung die festzusetzende Summe dem Arbeiter mindestens ein Einkommen
gewährt, mit dem er seine Familie angemessen unterhalten und aus dem baren
Entgelt die Miete für eine angemessene Wohnung zahlen kann;

3. der Pächter, dem durch die Einsetzung des Mindestlohns für seine Arbeiter
eine Mehrlast aufgebürdet wird, erhält auf seinen Antrag eine Neuregelung
seines Pachtvertrages mit dem Grundherrn durch das landwirtschaftliche Ver¬
waltungsgericht.

Die Erhebungen über die ländlichen Wohnungsverhältnisse in England
ergeben ein geradezu trostloses Bild. Die baupolizeilichen Vorschriften über
das Abreißen unbrauchbar gewordener Wohnstätten werden aus dem Grunde
nicht befolgt, weil man die Leute nicht zu Hunderttausenden auf die Straße
setzen kann. In England und in Wales allein müßten, wenn man dem unserm
Baupolizeigesetz entsprechenden „KousinZ act" Geltung verschaffen wollte, zum
mindestens 120 000 neue Wohnhäuser auf dem Lande errichtet werden. Die
Statistik für Schottland und Irland ergibt einen noch größeren Prozentsatz
unbewohnbarer Hütten. In der Wohnungsfrage soll dem Landarbeiter durch
eine staailiche finanzielle Unterstützung in der Weise geholfen werden, daß den
Ortsbehörden, den „rual äistriet eouriLils", ein Betrag für den Bau neuer
Heimstätten zur Verfügung gestellt wird. Bei den schon erwähnten an den
Dienstvertrag „gebundenen" Pachtwohnungen soll zudem zum besseren Schutz
des Arbeiters eine gesetzliche Kündigungsfrist von sechs Monaten eingeführt
werden. Weitere Vorschläge des Ausschusses haben eine Beschränkung des
Wildschadens im Auge. Auf den Schlußseiten des Berichtes wird nochmals auf


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[0212] Ländliche Sozialpolitik in England Bedürfnisse des landwirtschaftlichen Arbeiters unberücksichtigt. Die Handwerker¬ klasse und die gut bezahlten Industriearbeiter haben genügendes Einkommen für diese Form des Landbesitzes. Dem ländlichen Arbeiter hingegen fehlt selbst das geringe Kapital, das er für solch eine kleine Pacht anlegen müßte. Von der landwirtschaftlichen Gewerkschaftsbewegung schließlich ist eine soziale Hebung des Landarbeiterstandes auch nicht zu erwarten. Denn wenn auch in England keine Einschränkung des Koalitionsrechtes der Landarbeiter besteht, so ist es diesen doch finanziell unmöglich, den wöchentlichen Beitrag an die Gewerkschaftskasse zu leisten. Zudem ist auch die Gewerkschaftspropaganda auf dem Lande wegen der Entfernung schwierig und kostspielig. Auf Grund all dieser Erwägungen kommt der Bericht zu dem Schluß, daß nur die Intervention des Staates den Landarbeiterstand auf eine menschen¬ würdige soziale Stufe bringen kann. Daher wird die Einrichtung von land¬ wirtschaftlichen Verwaltungsgerichten (lana court^) empfohlen, denen je ein Lohnamt (>vaM boarä) und ein Pachtamt (reut court) untergeordnet sein sollen. Im übrigen wird folgende dreifache Anregung gegeben: 1. Die in den Grafschaften einzusetzenden Lohngerichtshöfe (wÄZe tribunal8) bestimmen einen örtlich geltenden gesetzlichen Mindestlohn; 2. das Lohngericht wird durch Gesetz daran gebunden, daß bei der Lohn¬ bestimmung die festzusetzende Summe dem Arbeiter mindestens ein Einkommen gewährt, mit dem er seine Familie angemessen unterhalten und aus dem baren Entgelt die Miete für eine angemessene Wohnung zahlen kann; 3. der Pächter, dem durch die Einsetzung des Mindestlohns für seine Arbeiter eine Mehrlast aufgebürdet wird, erhält auf seinen Antrag eine Neuregelung seines Pachtvertrages mit dem Grundherrn durch das landwirtschaftliche Ver¬ waltungsgericht. Die Erhebungen über die ländlichen Wohnungsverhältnisse in England ergeben ein geradezu trostloses Bild. Die baupolizeilichen Vorschriften über das Abreißen unbrauchbar gewordener Wohnstätten werden aus dem Grunde nicht befolgt, weil man die Leute nicht zu Hunderttausenden auf die Straße setzen kann. In England und in Wales allein müßten, wenn man dem unserm Baupolizeigesetz entsprechenden „KousinZ act" Geltung verschaffen wollte, zum mindestens 120 000 neue Wohnhäuser auf dem Lande errichtet werden. Die Statistik für Schottland und Irland ergibt einen noch größeren Prozentsatz unbewohnbarer Hütten. In der Wohnungsfrage soll dem Landarbeiter durch eine staailiche finanzielle Unterstützung in der Weise geholfen werden, daß den Ortsbehörden, den „rual äistriet eouriLils", ein Betrag für den Bau neuer Heimstätten zur Verfügung gestellt wird. Bei den schon erwähnten an den Dienstvertrag „gebundenen" Pachtwohnungen soll zudem zum besseren Schutz des Arbeiters eine gesetzliche Kündigungsfrist von sechs Monaten eingeführt werden. Weitere Vorschläge des Ausschusses haben eine Beschränkung des Wildschadens im Auge. Auf den Schlußseiten des Berichtes wird nochmals auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/212>, abgerufen am 23.06.2024.