Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Hintereinander allzu heterogener Anforde¬
rungen zurück. Sicher ist auf diesen Zustand
zum Teil zurückzuführen -- zum anderen
Teil ist sie selbst seine Ursache -- die weithin
herrschende Unsicherheit über den Begriff der
Bildung. Eine moderne mechanistische Denk¬
weise faßt als Bildung vielfach eine Summe
von koordinierten nutzbringenden Kenntnissen,
besonders solchen, die im späteren Beruf an¬
wendbar sind. Dies wird um so mehr der
Fall sein, wenn sie nach Möglichkeit un¬
mittelbar von fachmännischer Seite an den
Jungen herangebracht werden. Schon scheint
den Vertretern dieser Denkweise als Ideal
die Auflösung des Unterrichts in eine Reese
voneinander unabhängiger Vortragskurse vor¬
zuschweben, in denen nur Praktiker, Fachleute
zu Worte kämen, statt der Lehrer, die -- auch
bei weitgehender Wcltosfenheit -- doch schlie߬
lich nichts sind als armselige Dilettanten
(vgl. den Artikel von Prof. Süntel im Tag
vom 13. August d. I.). Erst wenn der Photo¬
graph und der Elektrotechniker die Physik
vortragen, der Generalstäbler Cäsars Kriege

[Spaltenumbruch]

und Xenophons Anabasis erklärt, der Bürger¬
meister und der Landrat die Bürgerkunde
lehren, dann wird die Bildung ungeahnte
Höhen erklimmen.

"Fehlt leider nur das geistige Band."
Das unverbildete jugendliche Gehirn sucht
nach einer Gemeinsamkeit, nach einem General¬
nenner für seine neuen Wissensstoffe, und es
ist unfähig, die vielen äisjeets membrs zu
einem Organismus zu verbinden; wird doch
die dazu nötige philosophische Erhebung
manchem Alten schwer. Und nicht jeder
jugendliche Geist ist auch gestimmt, die hete¬
rogenen Massen in sich solange zu bewahren,
bis der Fortschritt der Lebensreise jeder ihren
Platz im Gesamtanblick der Geisteswelt an¬
weist. Er gewöhnt sich, alles wegzuwerfen,
was ohne Gefahr vergessen werden kann, und
behält nur das Wenige, was seine Indivi¬
dualität sich augenblicklich assimilieren kann.
Und doch könnte auch die Quantität des
Gelernten den Vorteil davon haben, wenn
man sich entschließen könnte, in jeder Schul¬
gattung einen Schwerpunkt festzulegen, den

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Hintereinander allzu heterogener Anforde¬
rungen zurück. Sicher ist auf diesen Zustand
zum Teil zurückzuführen — zum anderen
Teil ist sie selbst seine Ursache — die weithin
herrschende Unsicherheit über den Begriff der
Bildung. Eine moderne mechanistische Denk¬
weise faßt als Bildung vielfach eine Summe
von koordinierten nutzbringenden Kenntnissen,
besonders solchen, die im späteren Beruf an¬
wendbar sind. Dies wird um so mehr der
Fall sein, wenn sie nach Möglichkeit un¬
mittelbar von fachmännischer Seite an den
Jungen herangebracht werden. Schon scheint
den Vertretern dieser Denkweise als Ideal
die Auflösung des Unterrichts in eine Reese
voneinander unabhängiger Vortragskurse vor¬
zuschweben, in denen nur Praktiker, Fachleute
zu Worte kämen, statt der Lehrer, die — auch
bei weitgehender Wcltosfenheit — doch schlie߬
lich nichts sind als armselige Dilettanten
(vgl. den Artikel von Prof. Süntel im Tag
vom 13. August d. I.). Erst wenn der Photo¬
graph und der Elektrotechniker die Physik
vortragen, der Generalstäbler Cäsars Kriege

[Spaltenumbruch]

und Xenophons Anabasis erklärt, der Bürger¬
meister und der Landrat die Bürgerkunde
lehren, dann wird die Bildung ungeahnte
Höhen erklimmen.

„Fehlt leider nur das geistige Band."
Das unverbildete jugendliche Gehirn sucht
nach einer Gemeinsamkeit, nach einem General¬
nenner für seine neuen Wissensstoffe, und es
ist unfähig, die vielen äisjeets membrs zu
einem Organismus zu verbinden; wird doch
die dazu nötige philosophische Erhebung
manchem Alten schwer. Und nicht jeder
jugendliche Geist ist auch gestimmt, die hete¬
rogenen Massen in sich solange zu bewahren,
bis der Fortschritt der Lebensreise jeder ihren
Platz im Gesamtanblick der Geisteswelt an¬
weist. Er gewöhnt sich, alles wegzuwerfen,
was ohne Gefahr vergessen werden kann, und
behält nur das Wenige, was seine Indivi¬
dualität sich augenblicklich assimilieren kann.
Und doch könnte auch die Quantität des
Gelernten den Vorteil davon haben, wenn
man sich entschließen könnte, in jeder Schul¬
gattung einen Schwerpunkt festzulegen, den

[Ende Spaltensatz]


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327014"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_754" prev="#ID_753" next="#ID_755"> Hintereinander allzu heterogener Anforde¬<lb/>
rungen zurück. Sicher ist auf diesen Zustand<lb/>
zum Teil zurückzuführen &#x2014; zum anderen<lb/>
Teil ist sie selbst seine Ursache &#x2014; die weithin<lb/>
herrschende Unsicherheit über den Begriff der<lb/>
Bildung. Eine moderne mechanistische Denk¬<lb/>
weise faßt als Bildung vielfach eine Summe<lb/>
von koordinierten nutzbringenden Kenntnissen,<lb/>
besonders solchen, die im späteren Beruf an¬<lb/>
wendbar sind. Dies wird um so mehr der<lb/>
Fall sein, wenn sie nach Möglichkeit un¬<lb/>
mittelbar von fachmännischer Seite an den<lb/>
Jungen herangebracht werden. Schon scheint<lb/>
den Vertretern dieser Denkweise als Ideal<lb/>
die Auflösung des Unterrichts in eine Reese<lb/>
voneinander unabhängiger Vortragskurse vor¬<lb/>
zuschweben, in denen nur Praktiker, Fachleute<lb/>
zu Worte kämen, statt der Lehrer, die &#x2014; auch<lb/>
bei weitgehender Wcltosfenheit &#x2014; doch schlie߬<lb/>
lich nichts sind als armselige Dilettanten<lb/>
(vgl. den Artikel von Prof. Süntel im Tag<lb/>
vom 13. August d. I.). Erst wenn der Photo¬<lb/>
graph und der Elektrotechniker die Physik<lb/>
vortragen, der Generalstäbler Cäsars Kriege</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_755" prev="#ID_754"> und Xenophons Anabasis erklärt, der Bürger¬<lb/>
meister und der Landrat die Bürgerkunde<lb/>
lehren, dann wird die Bildung ungeahnte<lb/>
Höhen erklimmen.</p>
            <p xml:id="ID_756" next="#ID_757"> &#x201E;Fehlt leider nur das geistige Band."<lb/>
Das unverbildete jugendliche Gehirn sucht<lb/>
nach einer Gemeinsamkeit, nach einem General¬<lb/>
nenner für seine neuen Wissensstoffe, und es<lb/>
ist unfähig, die vielen äisjeets membrs zu<lb/>
einem Organismus zu verbinden; wird doch<lb/>
die dazu nötige philosophische Erhebung<lb/>
manchem Alten schwer. Und nicht jeder<lb/>
jugendliche Geist ist auch gestimmt, die hete¬<lb/>
rogenen Massen in sich solange zu bewahren,<lb/>
bis der Fortschritt der Lebensreise jeder ihren<lb/>
Platz im Gesamtanblick der Geisteswelt an¬<lb/>
weist. Er gewöhnt sich, alles wegzuwerfen,<lb/>
was ohne Gefahr vergessen werden kann, und<lb/>
behält nur das Wenige, was seine Indivi¬<lb/>
dualität sich augenblicklich assimilieren kann.<lb/>
Und doch könnte auch die Quantität des<lb/>
Gelernten den Vorteil davon haben, wenn<lb/>
man sich entschließen könnte, in jeder Schul¬<lb/>
gattung einen Schwerpunkt festzulegen, den</p>
            <cb type="end"/><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0202] Maßgebliches und Unmaßgebliches Hintereinander allzu heterogener Anforde¬ rungen zurück. Sicher ist auf diesen Zustand zum Teil zurückzuführen — zum anderen Teil ist sie selbst seine Ursache — die weithin herrschende Unsicherheit über den Begriff der Bildung. Eine moderne mechanistische Denk¬ weise faßt als Bildung vielfach eine Summe von koordinierten nutzbringenden Kenntnissen, besonders solchen, die im späteren Beruf an¬ wendbar sind. Dies wird um so mehr der Fall sein, wenn sie nach Möglichkeit un¬ mittelbar von fachmännischer Seite an den Jungen herangebracht werden. Schon scheint den Vertretern dieser Denkweise als Ideal die Auflösung des Unterrichts in eine Reese voneinander unabhängiger Vortragskurse vor¬ zuschweben, in denen nur Praktiker, Fachleute zu Worte kämen, statt der Lehrer, die — auch bei weitgehender Wcltosfenheit — doch schlie߬ lich nichts sind als armselige Dilettanten (vgl. den Artikel von Prof. Süntel im Tag vom 13. August d. I.). Erst wenn der Photo¬ graph und der Elektrotechniker die Physik vortragen, der Generalstäbler Cäsars Kriege und Xenophons Anabasis erklärt, der Bürger¬ meister und der Landrat die Bürgerkunde lehren, dann wird die Bildung ungeahnte Höhen erklimmen. „Fehlt leider nur das geistige Band." Das unverbildete jugendliche Gehirn sucht nach einer Gemeinsamkeit, nach einem General¬ nenner für seine neuen Wissensstoffe, und es ist unfähig, die vielen äisjeets membrs zu einem Organismus zu verbinden; wird doch die dazu nötige philosophische Erhebung manchem Alten schwer. Und nicht jeder jugendliche Geist ist auch gestimmt, die hete¬ rogenen Massen in sich solange zu bewahren, bis der Fortschritt der Lebensreise jeder ihren Platz im Gesamtanblick der Geisteswelt an¬ weist. Er gewöhnt sich, alles wegzuwerfen, was ohne Gefahr vergessen werden kann, und behält nur das Wenige, was seine Indivi¬ dualität sich augenblicklich assimilieren kann. Und doch könnte auch die Quantität des Gelernten den Vorteil davon haben, wenn man sich entschließen könnte, in jeder Schul¬ gattung einen Schwerpunkt festzulegen, den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/202
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/202>, abgerufen am 02.10.2024.