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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

bundesfürstlichen Kreisen spielte man mit der Anschauung, als ob das preußische
Königshaus eine Art von moralischer Verpflichtung habe, das angebliche "Unrecht
von 1866" zu sühnen. Unter solchen Umständen hatte der damalige Reichs¬
kanzler Fürst Bülow durchaus recht, sich scharf und fest auf den Boden des
Bundesratsbeschlusses von 1885 zu stellen und ihn dahin zu ergänzen, daß,
solange der Herzog von Cumberland nicht für sich und sein ganzes Haus für
alle Zeiten auf Hannover verzichtet habe, auch ein anderer Prinz dieses Hauses
nicht in Braunschweig regieren könne.

Die Motive, die im Jahre 1907 eine etwas schärfere Stellung gegenüber
den Wünschen des Welfenhauses herbeiführten, sind zweifellos jetzt nicht mehr
vorhanden. Daß der Herzog von Cumberland nach seiner ganzen Vergangenheit
Bedenken tragen muß, durch einen förmlichen Verzicht auf seine Ansprüche einen
vernichtenden Schlag gegen Leute zu führen, die seinem Vater und ihm fast
durch ein halbes Jahrhundert Treue gehalten haben, wird allgemein verstanden.
Während er aber früher sorgfältig jede Zusicherung vermied, die ihn in der
Geltendmachung seiner Ansprüche hätte hindern können, überdies persön¬
lich in seinem Verhalten dem Kaiser gegenüber eine Form wählte, die
vielleicht bei Würdigung seiner besonderen Lage nicht so ungünstig ausgelegt zu
werden brauchte, aber doch zunächst den Eindruck der Feindseligkeit machte, so
ist das jetzt anders geworden. Wir haben nicht nur mit der Tatsache der
persönlichen Aussöhnung zu rechnen, die bei dem Charakter des Herzogs jeden¬
falls feindselige Schritt efortan ausschließt, sondern wir wissen jetzt auch, daß der
Herzog die Ansprüche, auf die er freilich nicht förmlich verzichtet hat, keinesfalls
geltend machen will. Dies läuft in der Praxis für seine Person auf einen
Verzicht hinaus. Prinz Ernst August ist jetzt der einzige Erbe seiner Ansprüche.
Auch für ihn liegen Erklärungen vor, die einem Verzicht insofern gleichkommen,
als sie ihn persönlich für alle Zeit zur Nichtgeltendmachung der Ansprüche ver¬
pflichten. Die Gründe also, die in dem grundlegenden Bundesratsbeschluß
von 1885 als Hindernisse für die Thronbesteigung in Braunschweig bezeichnet
wurden, sind wenigstens für die Praxis insofern beseitigt, als die Rechte des
Welfenhauses zwar theoretisch festgehalten, aber in Wirklichkeit nicht geltend
gemacht werden. Das genügt aber, um dem Bundesrat ohne Verlassen des
1885 festgestellten Standpunktes die Möglichkeit zu geben, daß er die Be¬
hinderung der Thronbesteigung als nicht mehr vorhanden ansieht.

Mehrfach ist der Einwand erhoben worden,, daß, solange der förmliche
Verzicht nicht ausgesprochen worden sei. die Ansprüche der Welsen jederzeit
wieder aufgenommen werden können. Das ist richtig, aber daran würde auch
ein Verzicht nichts ändern. Die Geschichte bietet unzählige Beispiele, daß ein
späteres Geschlecht erklärt, sich durch den Verzicht eines Vorfahren nicht gebunden
zu fühlen. Auf diesem Gebiet werden alle Rechtsfragen am letzten Ende zu
Machtfragen. Was wir vernünftigerweise verhindern müssen, das ist nur, daß
ein Anspruch, den wir im Interesse des Staates ablehnen und zurückweisen


Reichsspiegel

bundesfürstlichen Kreisen spielte man mit der Anschauung, als ob das preußische
Königshaus eine Art von moralischer Verpflichtung habe, das angebliche „Unrecht
von 1866" zu sühnen. Unter solchen Umständen hatte der damalige Reichs¬
kanzler Fürst Bülow durchaus recht, sich scharf und fest auf den Boden des
Bundesratsbeschlusses von 1885 zu stellen und ihn dahin zu ergänzen, daß,
solange der Herzog von Cumberland nicht für sich und sein ganzes Haus für
alle Zeiten auf Hannover verzichtet habe, auch ein anderer Prinz dieses Hauses
nicht in Braunschweig regieren könne.

Die Motive, die im Jahre 1907 eine etwas schärfere Stellung gegenüber
den Wünschen des Welfenhauses herbeiführten, sind zweifellos jetzt nicht mehr
vorhanden. Daß der Herzog von Cumberland nach seiner ganzen Vergangenheit
Bedenken tragen muß, durch einen förmlichen Verzicht auf seine Ansprüche einen
vernichtenden Schlag gegen Leute zu führen, die seinem Vater und ihm fast
durch ein halbes Jahrhundert Treue gehalten haben, wird allgemein verstanden.
Während er aber früher sorgfältig jede Zusicherung vermied, die ihn in der
Geltendmachung seiner Ansprüche hätte hindern können, überdies persön¬
lich in seinem Verhalten dem Kaiser gegenüber eine Form wählte, die
vielleicht bei Würdigung seiner besonderen Lage nicht so ungünstig ausgelegt zu
werden brauchte, aber doch zunächst den Eindruck der Feindseligkeit machte, so
ist das jetzt anders geworden. Wir haben nicht nur mit der Tatsache der
persönlichen Aussöhnung zu rechnen, die bei dem Charakter des Herzogs jeden¬
falls feindselige Schritt efortan ausschließt, sondern wir wissen jetzt auch, daß der
Herzog die Ansprüche, auf die er freilich nicht förmlich verzichtet hat, keinesfalls
geltend machen will. Dies läuft in der Praxis für seine Person auf einen
Verzicht hinaus. Prinz Ernst August ist jetzt der einzige Erbe seiner Ansprüche.
Auch für ihn liegen Erklärungen vor, die einem Verzicht insofern gleichkommen,
als sie ihn persönlich für alle Zeit zur Nichtgeltendmachung der Ansprüche ver¬
pflichten. Die Gründe also, die in dem grundlegenden Bundesratsbeschluß
von 1885 als Hindernisse für die Thronbesteigung in Braunschweig bezeichnet
wurden, sind wenigstens für die Praxis insofern beseitigt, als die Rechte des
Welfenhauses zwar theoretisch festgehalten, aber in Wirklichkeit nicht geltend
gemacht werden. Das genügt aber, um dem Bundesrat ohne Verlassen des
1885 festgestellten Standpunktes die Möglichkeit zu geben, daß er die Be¬
hinderung der Thronbesteigung als nicht mehr vorhanden ansieht.

Mehrfach ist der Einwand erhoben worden,, daß, solange der förmliche
Verzicht nicht ausgesprochen worden sei. die Ansprüche der Welsen jederzeit
wieder aufgenommen werden können. Das ist richtig, aber daran würde auch
ein Verzicht nichts ändern. Die Geschichte bietet unzählige Beispiele, daß ein
späteres Geschlecht erklärt, sich durch den Verzicht eines Vorfahren nicht gebunden
zu fühlen. Auf diesem Gebiet werden alle Rechtsfragen am letzten Ende zu
Machtfragen. Was wir vernünftigerweise verhindern müssen, das ist nur, daß
ein Anspruch, den wir im Interesse des Staates ablehnen und zurückweisen


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[0149] Reichsspiegel bundesfürstlichen Kreisen spielte man mit der Anschauung, als ob das preußische Königshaus eine Art von moralischer Verpflichtung habe, das angebliche „Unrecht von 1866" zu sühnen. Unter solchen Umständen hatte der damalige Reichs¬ kanzler Fürst Bülow durchaus recht, sich scharf und fest auf den Boden des Bundesratsbeschlusses von 1885 zu stellen und ihn dahin zu ergänzen, daß, solange der Herzog von Cumberland nicht für sich und sein ganzes Haus für alle Zeiten auf Hannover verzichtet habe, auch ein anderer Prinz dieses Hauses nicht in Braunschweig regieren könne. Die Motive, die im Jahre 1907 eine etwas schärfere Stellung gegenüber den Wünschen des Welfenhauses herbeiführten, sind zweifellos jetzt nicht mehr vorhanden. Daß der Herzog von Cumberland nach seiner ganzen Vergangenheit Bedenken tragen muß, durch einen förmlichen Verzicht auf seine Ansprüche einen vernichtenden Schlag gegen Leute zu führen, die seinem Vater und ihm fast durch ein halbes Jahrhundert Treue gehalten haben, wird allgemein verstanden. Während er aber früher sorgfältig jede Zusicherung vermied, die ihn in der Geltendmachung seiner Ansprüche hätte hindern können, überdies persön¬ lich in seinem Verhalten dem Kaiser gegenüber eine Form wählte, die vielleicht bei Würdigung seiner besonderen Lage nicht so ungünstig ausgelegt zu werden brauchte, aber doch zunächst den Eindruck der Feindseligkeit machte, so ist das jetzt anders geworden. Wir haben nicht nur mit der Tatsache der persönlichen Aussöhnung zu rechnen, die bei dem Charakter des Herzogs jeden¬ falls feindselige Schritt efortan ausschließt, sondern wir wissen jetzt auch, daß der Herzog die Ansprüche, auf die er freilich nicht förmlich verzichtet hat, keinesfalls geltend machen will. Dies läuft in der Praxis für seine Person auf einen Verzicht hinaus. Prinz Ernst August ist jetzt der einzige Erbe seiner Ansprüche. Auch für ihn liegen Erklärungen vor, die einem Verzicht insofern gleichkommen, als sie ihn persönlich für alle Zeit zur Nichtgeltendmachung der Ansprüche ver¬ pflichten. Die Gründe also, die in dem grundlegenden Bundesratsbeschluß von 1885 als Hindernisse für die Thronbesteigung in Braunschweig bezeichnet wurden, sind wenigstens für die Praxis insofern beseitigt, als die Rechte des Welfenhauses zwar theoretisch festgehalten, aber in Wirklichkeit nicht geltend gemacht werden. Das genügt aber, um dem Bundesrat ohne Verlassen des 1885 festgestellten Standpunktes die Möglichkeit zu geben, daß er die Be¬ hinderung der Thronbesteigung als nicht mehr vorhanden ansieht. Mehrfach ist der Einwand erhoben worden,, daß, solange der förmliche Verzicht nicht ausgesprochen worden sei. die Ansprüche der Welsen jederzeit wieder aufgenommen werden können. Das ist richtig, aber daran würde auch ein Verzicht nichts ändern. Die Geschichte bietet unzählige Beispiele, daß ein späteres Geschlecht erklärt, sich durch den Verzicht eines Vorfahren nicht gebunden zu fühlen. Auf diesem Gebiet werden alle Rechtsfragen am letzten Ende zu Machtfragen. Was wir vernünftigerweise verhindern müssen, das ist nur, daß ein Anspruch, den wir im Interesse des Staates ablehnen und zurückweisen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/149>, abgerufen am 27.07.2024.