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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Weltbürgertum und> Staatsbürgerinn!

reiche steht und das Erstarken freiheitsliebender Völker, die Kraft genug besaßen,
um sich der Völkervereinigung und Völkervermengung zu entziehen. Aber das
triebhafte Gefühl, das früher die Völker unter ihren Fürsten in die männer¬
mordenden Schlachten trieb zum Kampf für Leben und Freiheit, ist mit dem
Erwachen des politischen Denkens in größeren Volksschichten und mit dem
wachsenden Anteil der Bürger am Staate etwa seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts mehr und mehr zu einem klarbewußter, überlegender Mithandeln
geworden. Die Untertanen werden zu denkenden und urteilenden Staatsbürgern.
Mit Naturnotwendigkeit und Stetigkeit ist im Laufe des letzten Jahrhunderts
der staatsbürgerliche Sinn gewachsen. Und weil mit dem Wachsen der staats-
bürgerlichen Erkenntnis immer mehr die Notwendigkeit bestimmter staatlicher
Güter wie der Einheit, Freiheit und Macht erkannt wird, ist die Ansicht auch
immer klarer und stärker geworden, daß man internationale Friedensbestrebungen
und weltbürgerliche Interessen nur pflegen darf, soweit es der Nutzen des
eigenen Staates fordert.

Und je enger Staat und Volk miteinander verwachsen, je mehr die
Bürger ihren Staat ihren Lebensbedingungen anpassen, je mehr alle notwendigen
Lebensgüter vom eigenen Staate gewährt werden, um so weniger geraten staats¬
bürgerliche Interessen in Konflikt mit weltbürgerlichen. Erst wenn der eigene
Staat berechtigten Ansprüchen gegenüber versagt, erst wenn sozialen, religiösen
oder irgend welchen anderen kulturellen Bedürfnissen nur außerhalb des Staates
Gerechtigkeit widerfährt, kann es zum Widerspruch zwischen Staatsbürgertum
und Weltbürgertum kommen. Wenn Kultnrnation und Staatsnation zusammen¬
fallen, wenn der Staat ein Volk umfaßt, das wenigstens im Großen einig ist
in der Verfolgung kultureller und politischer Ziele, dann braucht jeder Staats¬
bürger nur dem Wohle seines Staates zu dienen, um zugleich dem Wohle der
Menschheit zu dienen. Gerade weil alle Staaten wie alle Menschen in den
Kampf ums Dasein gestellt sind, der durch ihren Selbsterhaltungstrieb und ihre
Verschiedenheit naturnotwendig ist, der das Tüchtige erhält und das Untüchtige
vernichtet, gerade darum dient der, der die materielle und geistige Kraft seines
Staates heben hilft, daß er zu den Tüchtigen, den Überlebenden gehört im
Kampf ums Dasein, in seinem kleinen Kreise dem Fortschritt der Menschheit.

Daß der Kampf ums Dasein zwischen den staatlichen Individuen ebenso¬
wenig aufhören wird wie zwischen den menschlichen, und daß dadurch das
Untüchtige immer wieder zugrunde geht, das ist keine Frage. Nur die Form
dieses Kampfes ändert sich. Es ist ein großer Fortschritt, daß das natürliche
Verhältnis zwischen den Staaten heute Friede ist, daß die Greuel des Krieges
gemildert werden, daß man nur im Notfall, wenn alle die vielen anderen fried¬
lichen Mittel versagen, zum Kriege greifen darf. Wirtschaftliche und politische,
ethische und religiöse Motive treiben hier gemeinsam dem Ideale zu, mehr Milde
und Gerechtigkeit in den mühseligen Kampf ums Dasein zu bringen. Wie weit
dieses Ideal erreicht werden kann, will ich hier nicht untersuchen.


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Weltbürgertum und> Staatsbürgerinn!

reiche steht und das Erstarken freiheitsliebender Völker, die Kraft genug besaßen,
um sich der Völkervereinigung und Völkervermengung zu entziehen. Aber das
triebhafte Gefühl, das früher die Völker unter ihren Fürsten in die männer¬
mordenden Schlachten trieb zum Kampf für Leben und Freiheit, ist mit dem
Erwachen des politischen Denkens in größeren Volksschichten und mit dem
wachsenden Anteil der Bürger am Staate etwa seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts mehr und mehr zu einem klarbewußter, überlegender Mithandeln
geworden. Die Untertanen werden zu denkenden und urteilenden Staatsbürgern.
Mit Naturnotwendigkeit und Stetigkeit ist im Laufe des letzten Jahrhunderts
der staatsbürgerliche Sinn gewachsen. Und weil mit dem Wachsen der staats-
bürgerlichen Erkenntnis immer mehr die Notwendigkeit bestimmter staatlicher
Güter wie der Einheit, Freiheit und Macht erkannt wird, ist die Ansicht auch
immer klarer und stärker geworden, daß man internationale Friedensbestrebungen
und weltbürgerliche Interessen nur pflegen darf, soweit es der Nutzen des
eigenen Staates fordert.

Und je enger Staat und Volk miteinander verwachsen, je mehr die
Bürger ihren Staat ihren Lebensbedingungen anpassen, je mehr alle notwendigen
Lebensgüter vom eigenen Staate gewährt werden, um so weniger geraten staats¬
bürgerliche Interessen in Konflikt mit weltbürgerlichen. Erst wenn der eigene
Staat berechtigten Ansprüchen gegenüber versagt, erst wenn sozialen, religiösen
oder irgend welchen anderen kulturellen Bedürfnissen nur außerhalb des Staates
Gerechtigkeit widerfährt, kann es zum Widerspruch zwischen Staatsbürgertum
und Weltbürgertum kommen. Wenn Kultnrnation und Staatsnation zusammen¬
fallen, wenn der Staat ein Volk umfaßt, das wenigstens im Großen einig ist
in der Verfolgung kultureller und politischer Ziele, dann braucht jeder Staats¬
bürger nur dem Wohle seines Staates zu dienen, um zugleich dem Wohle der
Menschheit zu dienen. Gerade weil alle Staaten wie alle Menschen in den
Kampf ums Dasein gestellt sind, der durch ihren Selbsterhaltungstrieb und ihre
Verschiedenheit naturnotwendig ist, der das Tüchtige erhält und das Untüchtige
vernichtet, gerade darum dient der, der die materielle und geistige Kraft seines
Staates heben hilft, daß er zu den Tüchtigen, den Überlebenden gehört im
Kampf ums Dasein, in seinem kleinen Kreise dem Fortschritt der Menschheit.

Daß der Kampf ums Dasein zwischen den staatlichen Individuen ebenso¬
wenig aufhören wird wie zwischen den menschlichen, und daß dadurch das
Untüchtige immer wieder zugrunde geht, das ist keine Frage. Nur die Form
dieses Kampfes ändert sich. Es ist ein großer Fortschritt, daß das natürliche
Verhältnis zwischen den Staaten heute Friede ist, daß die Greuel des Krieges
gemildert werden, daß man nur im Notfall, wenn alle die vielen anderen fried¬
lichen Mittel versagen, zum Kriege greifen darf. Wirtschaftliche und politische,
ethische und religiöse Motive treiben hier gemeinsam dem Ideale zu, mehr Milde
und Gerechtigkeit in den mühseligen Kampf ums Dasein zu bringen. Wie weit
dieses Ideal erreicht werden kann, will ich hier nicht untersuchen.


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[0111] Weltbürgertum und> Staatsbürgerinn! reiche steht und das Erstarken freiheitsliebender Völker, die Kraft genug besaßen, um sich der Völkervereinigung und Völkervermengung zu entziehen. Aber das triebhafte Gefühl, das früher die Völker unter ihren Fürsten in die männer¬ mordenden Schlachten trieb zum Kampf für Leben und Freiheit, ist mit dem Erwachen des politischen Denkens in größeren Volksschichten und mit dem wachsenden Anteil der Bürger am Staate etwa seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehr und mehr zu einem klarbewußter, überlegender Mithandeln geworden. Die Untertanen werden zu denkenden und urteilenden Staatsbürgern. Mit Naturnotwendigkeit und Stetigkeit ist im Laufe des letzten Jahrhunderts der staatsbürgerliche Sinn gewachsen. Und weil mit dem Wachsen der staats- bürgerlichen Erkenntnis immer mehr die Notwendigkeit bestimmter staatlicher Güter wie der Einheit, Freiheit und Macht erkannt wird, ist die Ansicht auch immer klarer und stärker geworden, daß man internationale Friedensbestrebungen und weltbürgerliche Interessen nur pflegen darf, soweit es der Nutzen des eigenen Staates fordert. Und je enger Staat und Volk miteinander verwachsen, je mehr die Bürger ihren Staat ihren Lebensbedingungen anpassen, je mehr alle notwendigen Lebensgüter vom eigenen Staate gewährt werden, um so weniger geraten staats¬ bürgerliche Interessen in Konflikt mit weltbürgerlichen. Erst wenn der eigene Staat berechtigten Ansprüchen gegenüber versagt, erst wenn sozialen, religiösen oder irgend welchen anderen kulturellen Bedürfnissen nur außerhalb des Staates Gerechtigkeit widerfährt, kann es zum Widerspruch zwischen Staatsbürgertum und Weltbürgertum kommen. Wenn Kultnrnation und Staatsnation zusammen¬ fallen, wenn der Staat ein Volk umfaßt, das wenigstens im Großen einig ist in der Verfolgung kultureller und politischer Ziele, dann braucht jeder Staats¬ bürger nur dem Wohle seines Staates zu dienen, um zugleich dem Wohle der Menschheit zu dienen. Gerade weil alle Staaten wie alle Menschen in den Kampf ums Dasein gestellt sind, der durch ihren Selbsterhaltungstrieb und ihre Verschiedenheit naturnotwendig ist, der das Tüchtige erhält und das Untüchtige vernichtet, gerade darum dient der, der die materielle und geistige Kraft seines Staates heben hilft, daß er zu den Tüchtigen, den Überlebenden gehört im Kampf ums Dasein, in seinem kleinen Kreise dem Fortschritt der Menschheit. Daß der Kampf ums Dasein zwischen den staatlichen Individuen ebenso¬ wenig aufhören wird wie zwischen den menschlichen, und daß dadurch das Untüchtige immer wieder zugrunde geht, das ist keine Frage. Nur die Form dieses Kampfes ändert sich. Es ist ein großer Fortschritt, daß das natürliche Verhältnis zwischen den Staaten heute Friede ist, daß die Greuel des Krieges gemildert werden, daß man nur im Notfall, wenn alle die vielen anderen fried¬ lichen Mittel versagen, zum Kriege greifen darf. Wirtschaftliche und politische, ethische und religiöse Motive treiben hier gemeinsam dem Ideale zu, mehr Milde und Gerechtigkeit in den mühseligen Kampf ums Dasein zu bringen. Wie weit dieses Ideal erreicht werden kann, will ich hier nicht untersuchen. 7*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/111>, abgerufen am 22.07.2024.