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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Mozart resurrectus

Der Historiker wird, wenn er solche Sätze liest, wieder von der Vergewalti¬
gung des Werkes durch die Bühne und durch den Regisseur sprechen. Gewiß,
wer die Stilechtheit über den Willen stellt, die unversiegte Schönheit der Werke
so erstehen zu lassen, wie sie uns nahe liegt, mag an der ganzen Überlieferung
von Äußerlichkeiten festhalten, ohne Rücksicht auf dramatische und Bühnenwirkung
alle Zöpfe des achtzehnten Jahrhunderts unbeschnitten lassen. Auch die des Textes.
Die alten uns überlieferten Übersetzungen passen in der Tat mit all ihren Mängeln
und Lächerlichkeiten nicht übel in diesen streng gewahrten Stil. Jenseits aber
dieser Rücksichten auf geschichtliche Treue beginnt unser gutes Recht, die Werke
in eine Form zu kleiden, in die sie sich willig fügen, und die sich eben gesund
und folgerichtig in den einhundertundzwanzig Jahren, die seit Mozart verstrichen
sind, entwickelt hat. Wagner? Nein, sie wäre früher oder später wohl auch
ohne ihn gekommen, diese Entwicklung. Die Oper, wie sie aus dem Oratorium
geboren war, mußte zunächst sanft treten. Konnte nicht gleich Mustkorama
werden, mußte zunächst Dramenmustk bleiben. Je mehr sie es aber wagt, so
gewaltige Entladungen, wie sie in Beethovens "Fidelio" enthalten sind, sich
dienstbar zu machen, desto mehr befreit sie sich von den lästigen Grenzen, die ihr
auf der Bühne gezogen waren, desto mehr will sie dramatisch wirken, desto mehr
verschmilzt sie mit ihrem Geschehen zu einem gefunden unerkünstelten Ganzen.
Musikdrama? Meinetwegen! Der Name tut hier so wenig wie möglich
zur Sache.

Wir nehmen keine Gewaltkuren an diesen zarten Körpern vor. Wir zer¬
stören nicht das kunstvolle Geflecht dieser Musik, wenn wir ihr heute zur
Bühnenwirkung verhelfen: sie tragen eben, von genialer Hand gesät, alle Keime
zu dieser Entwicklung in sich. Wir haben auch keinen großen Aufwand an
technischen Mitteln nötig, der bei solchen Neuinszenierungen immer ein Beweis
für einen Gewaltakt ist: im "Don Juan" ein paarmal die Drehbühne, die hier
alle ihre Vorzüge ohne ihre Fehler enthüllt, das ist eigentlich alles. Im übrigen
aber können wir die Oper "Figaro" wieder als elegantes, prickelndes Unter¬
haltungsstück geben, mit dem ganzen Reiz von Überraschungen, von großen
Verwicklungen und kleinen Pikanterien, ohne daß das Monumentale ihrer
Figuren ins Operettenhafte verzerrt wird. Es gibt auch keine verzeichneten
Figuren in diesen Bildern mehr: man sehe sich es einmal an, was in der Possartschen
Fassung des "Don Juan" aus dem in dieser Hinsicht übelbeleumdeten Don
Octavio wird. Wir empfinden auch das musikalisch-szenische Zusammenwirken
mehrerer Personen nicht mehr als störend und unnatürlich. In diesen Sextetten
legen nicht mehr sechs steife Menschen, in Kompagniefronten aufmarschiert, die
Hände aufs Herz: wir ordnen sie, wie es die Musik jeweils befiehlt, zu
Gruppen, wirbeln sie in buntem Reigen durcheinander, lassen auch hier den
ganzen Zauber unseres neuen Farbenkastens spielen und können so die ganze
süßselige Pracht dieser Töne auf der Bühne Widerscheinen lassen. Nichts geht
mehr verloren, was hier zwischen den Noten der Partitur angedeutet ein Jahr-


Mozart resurrectus

Der Historiker wird, wenn er solche Sätze liest, wieder von der Vergewalti¬
gung des Werkes durch die Bühne und durch den Regisseur sprechen. Gewiß,
wer die Stilechtheit über den Willen stellt, die unversiegte Schönheit der Werke
so erstehen zu lassen, wie sie uns nahe liegt, mag an der ganzen Überlieferung
von Äußerlichkeiten festhalten, ohne Rücksicht auf dramatische und Bühnenwirkung
alle Zöpfe des achtzehnten Jahrhunderts unbeschnitten lassen. Auch die des Textes.
Die alten uns überlieferten Übersetzungen passen in der Tat mit all ihren Mängeln
und Lächerlichkeiten nicht übel in diesen streng gewahrten Stil. Jenseits aber
dieser Rücksichten auf geschichtliche Treue beginnt unser gutes Recht, die Werke
in eine Form zu kleiden, in die sie sich willig fügen, und die sich eben gesund
und folgerichtig in den einhundertundzwanzig Jahren, die seit Mozart verstrichen
sind, entwickelt hat. Wagner? Nein, sie wäre früher oder später wohl auch
ohne ihn gekommen, diese Entwicklung. Die Oper, wie sie aus dem Oratorium
geboren war, mußte zunächst sanft treten. Konnte nicht gleich Mustkorama
werden, mußte zunächst Dramenmustk bleiben. Je mehr sie es aber wagt, so
gewaltige Entladungen, wie sie in Beethovens „Fidelio" enthalten sind, sich
dienstbar zu machen, desto mehr befreit sie sich von den lästigen Grenzen, die ihr
auf der Bühne gezogen waren, desto mehr will sie dramatisch wirken, desto mehr
verschmilzt sie mit ihrem Geschehen zu einem gefunden unerkünstelten Ganzen.
Musikdrama? Meinetwegen! Der Name tut hier so wenig wie möglich
zur Sache.

Wir nehmen keine Gewaltkuren an diesen zarten Körpern vor. Wir zer¬
stören nicht das kunstvolle Geflecht dieser Musik, wenn wir ihr heute zur
Bühnenwirkung verhelfen: sie tragen eben, von genialer Hand gesät, alle Keime
zu dieser Entwicklung in sich. Wir haben auch keinen großen Aufwand an
technischen Mitteln nötig, der bei solchen Neuinszenierungen immer ein Beweis
für einen Gewaltakt ist: im „Don Juan" ein paarmal die Drehbühne, die hier
alle ihre Vorzüge ohne ihre Fehler enthüllt, das ist eigentlich alles. Im übrigen
aber können wir die Oper „Figaro" wieder als elegantes, prickelndes Unter¬
haltungsstück geben, mit dem ganzen Reiz von Überraschungen, von großen
Verwicklungen und kleinen Pikanterien, ohne daß das Monumentale ihrer
Figuren ins Operettenhafte verzerrt wird. Es gibt auch keine verzeichneten
Figuren in diesen Bildern mehr: man sehe sich es einmal an, was in der Possartschen
Fassung des „Don Juan" aus dem in dieser Hinsicht übelbeleumdeten Don
Octavio wird. Wir empfinden auch das musikalisch-szenische Zusammenwirken
mehrerer Personen nicht mehr als störend und unnatürlich. In diesen Sextetten
legen nicht mehr sechs steife Menschen, in Kompagniefronten aufmarschiert, die
Hände aufs Herz: wir ordnen sie, wie es die Musik jeweils befiehlt, zu
Gruppen, wirbeln sie in buntem Reigen durcheinander, lassen auch hier den
ganzen Zauber unseres neuen Farbenkastens spielen und können so die ganze
süßselige Pracht dieser Töne auf der Bühne Widerscheinen lassen. Nichts geht
mehr verloren, was hier zwischen den Noten der Partitur angedeutet ein Jahr-


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[0532] Mozart resurrectus Der Historiker wird, wenn er solche Sätze liest, wieder von der Vergewalti¬ gung des Werkes durch die Bühne und durch den Regisseur sprechen. Gewiß, wer die Stilechtheit über den Willen stellt, die unversiegte Schönheit der Werke so erstehen zu lassen, wie sie uns nahe liegt, mag an der ganzen Überlieferung von Äußerlichkeiten festhalten, ohne Rücksicht auf dramatische und Bühnenwirkung alle Zöpfe des achtzehnten Jahrhunderts unbeschnitten lassen. Auch die des Textes. Die alten uns überlieferten Übersetzungen passen in der Tat mit all ihren Mängeln und Lächerlichkeiten nicht übel in diesen streng gewahrten Stil. Jenseits aber dieser Rücksichten auf geschichtliche Treue beginnt unser gutes Recht, die Werke in eine Form zu kleiden, in die sie sich willig fügen, und die sich eben gesund und folgerichtig in den einhundertundzwanzig Jahren, die seit Mozart verstrichen sind, entwickelt hat. Wagner? Nein, sie wäre früher oder später wohl auch ohne ihn gekommen, diese Entwicklung. Die Oper, wie sie aus dem Oratorium geboren war, mußte zunächst sanft treten. Konnte nicht gleich Mustkorama werden, mußte zunächst Dramenmustk bleiben. Je mehr sie es aber wagt, so gewaltige Entladungen, wie sie in Beethovens „Fidelio" enthalten sind, sich dienstbar zu machen, desto mehr befreit sie sich von den lästigen Grenzen, die ihr auf der Bühne gezogen waren, desto mehr will sie dramatisch wirken, desto mehr verschmilzt sie mit ihrem Geschehen zu einem gefunden unerkünstelten Ganzen. Musikdrama? Meinetwegen! Der Name tut hier so wenig wie möglich zur Sache. Wir nehmen keine Gewaltkuren an diesen zarten Körpern vor. Wir zer¬ stören nicht das kunstvolle Geflecht dieser Musik, wenn wir ihr heute zur Bühnenwirkung verhelfen: sie tragen eben, von genialer Hand gesät, alle Keime zu dieser Entwicklung in sich. Wir haben auch keinen großen Aufwand an technischen Mitteln nötig, der bei solchen Neuinszenierungen immer ein Beweis für einen Gewaltakt ist: im „Don Juan" ein paarmal die Drehbühne, die hier alle ihre Vorzüge ohne ihre Fehler enthüllt, das ist eigentlich alles. Im übrigen aber können wir die Oper „Figaro" wieder als elegantes, prickelndes Unter¬ haltungsstück geben, mit dem ganzen Reiz von Überraschungen, von großen Verwicklungen und kleinen Pikanterien, ohne daß das Monumentale ihrer Figuren ins Operettenhafte verzerrt wird. Es gibt auch keine verzeichneten Figuren in diesen Bildern mehr: man sehe sich es einmal an, was in der Possartschen Fassung des „Don Juan" aus dem in dieser Hinsicht übelbeleumdeten Don Octavio wird. Wir empfinden auch das musikalisch-szenische Zusammenwirken mehrerer Personen nicht mehr als störend und unnatürlich. In diesen Sextetten legen nicht mehr sechs steife Menschen, in Kompagniefronten aufmarschiert, die Hände aufs Herz: wir ordnen sie, wie es die Musik jeweils befiehlt, zu Gruppen, wirbeln sie in buntem Reigen durcheinander, lassen auch hier den ganzen Zauber unseres neuen Farbenkastens spielen und können so die ganze süßselige Pracht dieser Töne auf der Bühne Widerscheinen lassen. Nichts geht mehr verloren, was hier zwischen den Noten der Partitur angedeutet ein Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/532>, abgerufen am 28.12.2024.