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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Über den Urjprmig des Tebens

auch Merkmale darbieten, vermöge deren sie dein Begriffe des "Lebens an sich"
entsprechen.

Wir kennzeichnen ferner mit dem Begriffe "Substanz" die Begründung der
Zustände und Vorgänge in der gesamten Natur auf in ihrer Bestimmtheit be¬
harrende Elemente und auf an diese gebundene, konstanter Gesetzlichkeit ihres
Wirkens unterworfene, chemische und physikalische Kräfte oder Energien. Der
Unterscheidung des Lebens in der Natur von der leblosen Natur entspricht dem¬
gemäß auch die Differenzierung des Substanzbegriffes.

Die Substanz des "Lebens in der Natur", das ist die organische Substanz,
unterscheidet sich von der leblosen oder anorganischen Substanz dadurch, daß
die sie bildenden Verbindungen nicht alle die anorganische Substanz bildenden
Elemente, einige derselben aber vorzugsweise enthält; ferner dadurch, daß die
Grundform der Substanz des "Lebens in der Natur", das Protoplasma, eine
viel verwickeltere Struktur erweist als die anorganischen Gebilde, und in ihrer
Struktur eine große Veränderlichkeit zeigt, ohne Beeinträchtigung ihres inneren
Zusammenhanges; endlich dadurch, daß die Bildung und Erhaltung der orga¬
nischen Substanz nur innerhalb gewisser Temperaturgrenzen möglich erscheint
und einen mehr oder weniger flüssigen Aagregatzustand voraussetzt.

Die Existenz organischer Gebilde ist demzufolge in Raum und Zeit, nach
Ausbreitung und Dauer, begrenzt, mit Überschreitung dieser Grenzen erlischt die
Möglichkeit der Betätigung als Lebenssubstanz, es erfolgt die Auflösung in
anorganische Substanz.

Denn auch die Betätigung der Substanz bietet Merkmale, welche zur
Unterscheidung lebender und lebloser Substanz nötigen. Die Betätigung der
leblosen Substanz ist lediglich Ausdruck der in jedem Falle zur Geltung
kommenden chemischen und physikalischen Energien, bedingt durch die Menge
der räumlich verbundenen Substanzeinheiten und durch die erzeugte Bewegungs¬
energie (durch Masse und Geschwindigkeit). Die leblose Natur stellt sich dem¬
gemäß dar als ein System differenter Substanzen und Kräfte, innerhalb dessen
durchgängig konstante Gesetzlichkeit herrscht, zugleich in seiner Gesamtheit ein
untrennbares Ganzes bildend, welche Formen und Gestaltungen die Teile in
Zeit und Raum auch annehmen mögen.

Das Kennzeichen der Betätigung der Substanz des Lebens in der Natur
ist die "Individuation", die fortschreitende Teilung in differente für sich seiende
Gebilde, welche die Fähigkeit in sich tragen, sich nach eigener innerer Be¬
stimmtheit zu gestalten und zu betätigen, sowie die Substanzen und Energien
der anorganischen Natur, welche an ihrer Bildung beteiligt sind, ihrer inneren
Bestimmtheit einzuordnen und dienstbar zu machen. Beschränkt erscheint jedoch
diese Fähigkeit durch die Notwendigkeit der Berührung und Wechselwirkung mit
geeigneten Elementen der anorganischen Natur, also durch eine äußere Bedingung.

Hiermit sind die Merkmale gegeben, welche es begründen, die Betätigung
der organischen Substanz als "Leben" zu begreifen: das Fürsichsein, welches


Über den Urjprmig des Tebens

auch Merkmale darbieten, vermöge deren sie dein Begriffe des „Lebens an sich"
entsprechen.

Wir kennzeichnen ferner mit dem Begriffe „Substanz" die Begründung der
Zustände und Vorgänge in der gesamten Natur auf in ihrer Bestimmtheit be¬
harrende Elemente und auf an diese gebundene, konstanter Gesetzlichkeit ihres
Wirkens unterworfene, chemische und physikalische Kräfte oder Energien. Der
Unterscheidung des Lebens in der Natur von der leblosen Natur entspricht dem¬
gemäß auch die Differenzierung des Substanzbegriffes.

Die Substanz des „Lebens in der Natur", das ist die organische Substanz,
unterscheidet sich von der leblosen oder anorganischen Substanz dadurch, daß
die sie bildenden Verbindungen nicht alle die anorganische Substanz bildenden
Elemente, einige derselben aber vorzugsweise enthält; ferner dadurch, daß die
Grundform der Substanz des „Lebens in der Natur", das Protoplasma, eine
viel verwickeltere Struktur erweist als die anorganischen Gebilde, und in ihrer
Struktur eine große Veränderlichkeit zeigt, ohne Beeinträchtigung ihres inneren
Zusammenhanges; endlich dadurch, daß die Bildung und Erhaltung der orga¬
nischen Substanz nur innerhalb gewisser Temperaturgrenzen möglich erscheint
und einen mehr oder weniger flüssigen Aagregatzustand voraussetzt.

Die Existenz organischer Gebilde ist demzufolge in Raum und Zeit, nach
Ausbreitung und Dauer, begrenzt, mit Überschreitung dieser Grenzen erlischt die
Möglichkeit der Betätigung als Lebenssubstanz, es erfolgt die Auflösung in
anorganische Substanz.

Denn auch die Betätigung der Substanz bietet Merkmale, welche zur
Unterscheidung lebender und lebloser Substanz nötigen. Die Betätigung der
leblosen Substanz ist lediglich Ausdruck der in jedem Falle zur Geltung
kommenden chemischen und physikalischen Energien, bedingt durch die Menge
der räumlich verbundenen Substanzeinheiten und durch die erzeugte Bewegungs¬
energie (durch Masse und Geschwindigkeit). Die leblose Natur stellt sich dem¬
gemäß dar als ein System differenter Substanzen und Kräfte, innerhalb dessen
durchgängig konstante Gesetzlichkeit herrscht, zugleich in seiner Gesamtheit ein
untrennbares Ganzes bildend, welche Formen und Gestaltungen die Teile in
Zeit und Raum auch annehmen mögen.

Das Kennzeichen der Betätigung der Substanz des Lebens in der Natur
ist die „Individuation", die fortschreitende Teilung in differente für sich seiende
Gebilde, welche die Fähigkeit in sich tragen, sich nach eigener innerer Be¬
stimmtheit zu gestalten und zu betätigen, sowie die Substanzen und Energien
der anorganischen Natur, welche an ihrer Bildung beteiligt sind, ihrer inneren
Bestimmtheit einzuordnen und dienstbar zu machen. Beschränkt erscheint jedoch
diese Fähigkeit durch die Notwendigkeit der Berührung und Wechselwirkung mit
geeigneten Elementen der anorganischen Natur, also durch eine äußere Bedingung.

Hiermit sind die Merkmale gegeben, welche es begründen, die Betätigung
der organischen Substanz als „Leben" zu begreifen: das Fürsichsein, welches


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[0502] Über den Urjprmig des Tebens auch Merkmale darbieten, vermöge deren sie dein Begriffe des „Lebens an sich" entsprechen. Wir kennzeichnen ferner mit dem Begriffe „Substanz" die Begründung der Zustände und Vorgänge in der gesamten Natur auf in ihrer Bestimmtheit be¬ harrende Elemente und auf an diese gebundene, konstanter Gesetzlichkeit ihres Wirkens unterworfene, chemische und physikalische Kräfte oder Energien. Der Unterscheidung des Lebens in der Natur von der leblosen Natur entspricht dem¬ gemäß auch die Differenzierung des Substanzbegriffes. Die Substanz des „Lebens in der Natur", das ist die organische Substanz, unterscheidet sich von der leblosen oder anorganischen Substanz dadurch, daß die sie bildenden Verbindungen nicht alle die anorganische Substanz bildenden Elemente, einige derselben aber vorzugsweise enthält; ferner dadurch, daß die Grundform der Substanz des „Lebens in der Natur", das Protoplasma, eine viel verwickeltere Struktur erweist als die anorganischen Gebilde, und in ihrer Struktur eine große Veränderlichkeit zeigt, ohne Beeinträchtigung ihres inneren Zusammenhanges; endlich dadurch, daß die Bildung und Erhaltung der orga¬ nischen Substanz nur innerhalb gewisser Temperaturgrenzen möglich erscheint und einen mehr oder weniger flüssigen Aagregatzustand voraussetzt. Die Existenz organischer Gebilde ist demzufolge in Raum und Zeit, nach Ausbreitung und Dauer, begrenzt, mit Überschreitung dieser Grenzen erlischt die Möglichkeit der Betätigung als Lebenssubstanz, es erfolgt die Auflösung in anorganische Substanz. Denn auch die Betätigung der Substanz bietet Merkmale, welche zur Unterscheidung lebender und lebloser Substanz nötigen. Die Betätigung der leblosen Substanz ist lediglich Ausdruck der in jedem Falle zur Geltung kommenden chemischen und physikalischen Energien, bedingt durch die Menge der räumlich verbundenen Substanzeinheiten und durch die erzeugte Bewegungs¬ energie (durch Masse und Geschwindigkeit). Die leblose Natur stellt sich dem¬ gemäß dar als ein System differenter Substanzen und Kräfte, innerhalb dessen durchgängig konstante Gesetzlichkeit herrscht, zugleich in seiner Gesamtheit ein untrennbares Ganzes bildend, welche Formen und Gestaltungen die Teile in Zeit und Raum auch annehmen mögen. Das Kennzeichen der Betätigung der Substanz des Lebens in der Natur ist die „Individuation", die fortschreitende Teilung in differente für sich seiende Gebilde, welche die Fähigkeit in sich tragen, sich nach eigener innerer Be¬ stimmtheit zu gestalten und zu betätigen, sowie die Substanzen und Energien der anorganischen Natur, welche an ihrer Bildung beteiligt sind, ihrer inneren Bestimmtheit einzuordnen und dienstbar zu machen. Beschränkt erscheint jedoch diese Fähigkeit durch die Notwendigkeit der Berührung und Wechselwirkung mit geeigneten Elementen der anorganischen Natur, also durch eine äußere Bedingung. Hiermit sind die Merkmale gegeben, welche es begründen, die Betätigung der organischen Substanz als „Leben" zu begreifen: das Fürsichsein, welches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/502>, abgerufen am 20.10.2024.