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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Nach den posener Rcnsertagen

leben durch eine nationale Katastrophe sollte vernichtet werden können, während
Nationalbewußtsein und Geistesleben ungebrochen in ihrer Eigenart weiter fort¬
bestehen und in geistiger und wirtschaftlicher Beziehung sogar eine unverkennbare
nationale Wiedergeburt stattgefunden hat.

Gegen solche Tatsachen soll man nicht die Augen schließen, sondern sich
vielmehr fragen, ob eine Nation, die in dem geschilderten Zustande sich befindet
und sich von den anderen lebenden Nationen nur, aber auch nur dadurch unter¬
scheidet, daß sie kein eigenes Staatswesen besitzt, sich jemals damit zufrieden
geben kann, unter der Herrschaft von drei fremden Staaten zu leben. Es klingt
vielleicht nicht schön, wenn man das als Deutscher so rücksichtslos ausspricht,
aber es ist die Wahrheit, und man beweist seinen Patriotismus nicht, indem
man eine unbequeme Wahrheit totschweigt, sondern indem man ihr ins Auge
sieht und die Folgerungen zieht, die im Interesse unseres Vaterlandes notwendig
sind. Es gibt heute keine "ralliierten Polen" mehr in dem Sinne, wie Fürst
Bismarck diesen Ausdruck gebrauchte, d. h. Polen, die sich wirklich noch als
solche fühlen und rechnen und doch staatstreu sind. Es hat solche Leute gegeben,
als der polnische Adel aus Gründen, die in besonderen Zeitumständen lagen,
zum Teil anfing, an der Zukunft Polens zu verzweifeln. Jetzt gibt es höchstens
noch "resignierte Polen", d. h. eine kleine Zahl von Leuten, die die Erfüllung
der polnischen Hoffnungen in eine so ferne Zukunft setzen, daß sie persönlich
mehr im Interesse ihrer Landsleute zu handeln glauben, wenn sie äußerlich
ihren Frieden mit dem Staatsverbande halten, dem sie in der Gegenwart angehören.
Wer heute trotz polnischer Abkunft innerlich und bis in die letzten Folgerungen
staatstren ist, der kann sich überhaupt nicht mehr als Pole fühlen. Und wenn
heute wirklich ein Pole bei gegebener Gelegenheit die Interessen des preußischen
Staates denen seines Volkstums vorziehen wollte, so würden seine Volksgenossen
einfach über ihn hinwegschreiten. Man kann hiernach ermessen, was für einen
Wert es hat, wenn hier und da ein paar vornehme Polen an der kaiserlichen
Tafel erscheinen. Für das Verhältnis des Polentums zum Deutschtum hat das
gar keine Bedeutung; es wird nur insofern Schaden gestiftet, als sich immer
wieder urteilslose Leute finden, die damit etwas zu erreichen und die Polen in
das Staatstreue Lager herüberzuführen glauben. Jllusionspolitik, weiter nichts!

Manchem wird diese leidige Wahrheit sehr trostlos erscheinen, und es
könnte gesagt werden: wenn die Sachen so schlimm stehen, dann ist ja über¬
haupt kein Ende abzusehen; wenn das polnische Volk wirklich noch eine Zukunft
hat, so können wir ja nie zu einem Frieden in unserer Ostmark gelangen. Es
ist richtig, daß die Bestrebungen des Polentums eine wirkliche Gefahr für uns
bedeuten; denn sie sind wirklich darauf gerichtet, ein neues Polenreich herzustellen,
das nur auf unsere Kosten so zu gestalten ist, wie es das Polentum erträumt.
Was aber die Gefahr erhöht, ist, daß die Polen sehr wohl eingesehen
haben, daß ihre Hoffnungen nicht in kurzer Zeit durch übereilte Aufstands-
versuche zu erfüllen sind, sondern höchstens in geduldigen Abwarten einer


Nach den posener Rcnsertagen

leben durch eine nationale Katastrophe sollte vernichtet werden können, während
Nationalbewußtsein und Geistesleben ungebrochen in ihrer Eigenart weiter fort¬
bestehen und in geistiger und wirtschaftlicher Beziehung sogar eine unverkennbare
nationale Wiedergeburt stattgefunden hat.

Gegen solche Tatsachen soll man nicht die Augen schließen, sondern sich
vielmehr fragen, ob eine Nation, die in dem geschilderten Zustande sich befindet
und sich von den anderen lebenden Nationen nur, aber auch nur dadurch unter¬
scheidet, daß sie kein eigenes Staatswesen besitzt, sich jemals damit zufrieden
geben kann, unter der Herrschaft von drei fremden Staaten zu leben. Es klingt
vielleicht nicht schön, wenn man das als Deutscher so rücksichtslos ausspricht,
aber es ist die Wahrheit, und man beweist seinen Patriotismus nicht, indem
man eine unbequeme Wahrheit totschweigt, sondern indem man ihr ins Auge
sieht und die Folgerungen zieht, die im Interesse unseres Vaterlandes notwendig
sind. Es gibt heute keine „ralliierten Polen" mehr in dem Sinne, wie Fürst
Bismarck diesen Ausdruck gebrauchte, d. h. Polen, die sich wirklich noch als
solche fühlen und rechnen und doch staatstreu sind. Es hat solche Leute gegeben,
als der polnische Adel aus Gründen, die in besonderen Zeitumständen lagen,
zum Teil anfing, an der Zukunft Polens zu verzweifeln. Jetzt gibt es höchstens
noch „resignierte Polen", d. h. eine kleine Zahl von Leuten, die die Erfüllung
der polnischen Hoffnungen in eine so ferne Zukunft setzen, daß sie persönlich
mehr im Interesse ihrer Landsleute zu handeln glauben, wenn sie äußerlich
ihren Frieden mit dem Staatsverbande halten, dem sie in der Gegenwart angehören.
Wer heute trotz polnischer Abkunft innerlich und bis in die letzten Folgerungen
staatstren ist, der kann sich überhaupt nicht mehr als Pole fühlen. Und wenn
heute wirklich ein Pole bei gegebener Gelegenheit die Interessen des preußischen
Staates denen seines Volkstums vorziehen wollte, so würden seine Volksgenossen
einfach über ihn hinwegschreiten. Man kann hiernach ermessen, was für einen
Wert es hat, wenn hier und da ein paar vornehme Polen an der kaiserlichen
Tafel erscheinen. Für das Verhältnis des Polentums zum Deutschtum hat das
gar keine Bedeutung; es wird nur insofern Schaden gestiftet, als sich immer
wieder urteilslose Leute finden, die damit etwas zu erreichen und die Polen in
das Staatstreue Lager herüberzuführen glauben. Jllusionspolitik, weiter nichts!

Manchem wird diese leidige Wahrheit sehr trostlos erscheinen, und es
könnte gesagt werden: wenn die Sachen so schlimm stehen, dann ist ja über¬
haupt kein Ende abzusehen; wenn das polnische Volk wirklich noch eine Zukunft
hat, so können wir ja nie zu einem Frieden in unserer Ostmark gelangen. Es
ist richtig, daß die Bestrebungen des Polentums eine wirkliche Gefahr für uns
bedeuten; denn sie sind wirklich darauf gerichtet, ein neues Polenreich herzustellen,
das nur auf unsere Kosten so zu gestalten ist, wie es das Polentum erträumt.
Was aber die Gefahr erhöht, ist, daß die Polen sehr wohl eingesehen
haben, daß ihre Hoffnungen nicht in kurzer Zeit durch übereilte Aufstands-
versuche zu erfüllen sind, sondern höchstens in geduldigen Abwarten einer


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[0499] Nach den posener Rcnsertagen leben durch eine nationale Katastrophe sollte vernichtet werden können, während Nationalbewußtsein und Geistesleben ungebrochen in ihrer Eigenart weiter fort¬ bestehen und in geistiger und wirtschaftlicher Beziehung sogar eine unverkennbare nationale Wiedergeburt stattgefunden hat. Gegen solche Tatsachen soll man nicht die Augen schließen, sondern sich vielmehr fragen, ob eine Nation, die in dem geschilderten Zustande sich befindet und sich von den anderen lebenden Nationen nur, aber auch nur dadurch unter¬ scheidet, daß sie kein eigenes Staatswesen besitzt, sich jemals damit zufrieden geben kann, unter der Herrschaft von drei fremden Staaten zu leben. Es klingt vielleicht nicht schön, wenn man das als Deutscher so rücksichtslos ausspricht, aber es ist die Wahrheit, und man beweist seinen Patriotismus nicht, indem man eine unbequeme Wahrheit totschweigt, sondern indem man ihr ins Auge sieht und die Folgerungen zieht, die im Interesse unseres Vaterlandes notwendig sind. Es gibt heute keine „ralliierten Polen" mehr in dem Sinne, wie Fürst Bismarck diesen Ausdruck gebrauchte, d. h. Polen, die sich wirklich noch als solche fühlen und rechnen und doch staatstreu sind. Es hat solche Leute gegeben, als der polnische Adel aus Gründen, die in besonderen Zeitumständen lagen, zum Teil anfing, an der Zukunft Polens zu verzweifeln. Jetzt gibt es höchstens noch „resignierte Polen", d. h. eine kleine Zahl von Leuten, die die Erfüllung der polnischen Hoffnungen in eine so ferne Zukunft setzen, daß sie persönlich mehr im Interesse ihrer Landsleute zu handeln glauben, wenn sie äußerlich ihren Frieden mit dem Staatsverbande halten, dem sie in der Gegenwart angehören. Wer heute trotz polnischer Abkunft innerlich und bis in die letzten Folgerungen staatstren ist, der kann sich überhaupt nicht mehr als Pole fühlen. Und wenn heute wirklich ein Pole bei gegebener Gelegenheit die Interessen des preußischen Staates denen seines Volkstums vorziehen wollte, so würden seine Volksgenossen einfach über ihn hinwegschreiten. Man kann hiernach ermessen, was für einen Wert es hat, wenn hier und da ein paar vornehme Polen an der kaiserlichen Tafel erscheinen. Für das Verhältnis des Polentums zum Deutschtum hat das gar keine Bedeutung; es wird nur insofern Schaden gestiftet, als sich immer wieder urteilslose Leute finden, die damit etwas zu erreichen und die Polen in das Staatstreue Lager herüberzuführen glauben. Jllusionspolitik, weiter nichts! Manchem wird diese leidige Wahrheit sehr trostlos erscheinen, und es könnte gesagt werden: wenn die Sachen so schlimm stehen, dann ist ja über¬ haupt kein Ende abzusehen; wenn das polnische Volk wirklich noch eine Zukunft hat, so können wir ja nie zu einem Frieden in unserer Ostmark gelangen. Es ist richtig, daß die Bestrebungen des Polentums eine wirkliche Gefahr für uns bedeuten; denn sie sind wirklich darauf gerichtet, ein neues Polenreich herzustellen, das nur auf unsere Kosten so zu gestalten ist, wie es das Polentum erträumt. Was aber die Gefahr erhöht, ist, daß die Polen sehr wohl eingesehen haben, daß ihre Hoffnungen nicht in kurzer Zeit durch übereilte Aufstands- versuche zu erfüllen sind, sondern höchstens in geduldigen Abwarten einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/499>, abgerufen am 28.12.2024.